Frankreich habe den Weltmeistertitel deshalb gewonnen, so der Tenor vieler Berichte am Tag nach dem Endspiel, weil die französische Mannschaft "brasilianischer" gespielt habe als die Brasilianer selbst. Damit meinte man, daß sie mit Sinn für das "Spielerische" agiert habe, mit Freude am Raum, an der Bewegung und einem Spielstil, der sich durch Intelligenz, Einfallsreichtum, Eleganz und Souveränität auszeichnet. Das mag alles so stimmen und ist jedenfalls ein schönes Aperdu im gnadenlosen Wortmüll der Kommentatoren. Interessant erscheint jedoch, daß solche Argumente auch bei den Erklärungsversuchen für das klägliche Ausscheiden der deutschen Mannschaft eine Rolle spielen. Deren - dem "brasilianischen" Ideal entgegengesetzte Tugenden, "deutscher Wille, deutsche Kaltschnäuzigkeit" (so die "Frankfurter Rundschau" (FR) am 13.7.) hätten diesmal versagt.
Schon vor zwei Jahren bei der Europameisterschaft wäre nicht das Rennen und Rackern der deutschen Spieler ausschlaggebend für den Sieg gewesen, sondern ein unverschämtes Glück. Jetzt, bei der Weltmeisterschaft, sei die deutsche Taktik offen als überholt erkannt und vom gerechten Fußballgott bestraft worden. Der Bundeskanzler hat das sicher nicht so gesehen, als er den des Platzes verwiesenen Spieler Wörns zum Trösten in der Mannschaftskabine aufsuchte. Das gebannte Starren aufs Ergebnis, die Konfliktstrategie des Rammbock-Prinzips entsprechen ja wohl auch Kohls politischem Stil, und das "Aussitzen" ist nur eine altersbedingte Schrumpfform davon.
Vor zwei Jahren jedenfalls, als die deutsche Mannschaft in einem unansehnlichen Spiel mit einem blauen Auge Europameister wurde, hatte er gesagt: "Hier gibt es keine Schönheitspreise zu gewinnen". Und Bundestrainer Berti Vogts erweist sich als gelehriger Adept dieser "deutschen Ideologie" (FR) und verteidigt die sportlich-spielerischen Defizite seiner Mannschaft, indem er die Kunst des "schönen" Fußballs "brotlos" nennt. Eine solche Denunziation kann freilich nur beeindrucken, solange diese "torlos" bleibt, solange also die Deutschen Erfolg haben. Nun haben sie aber verloren, und das Beste an dieser Niederlage ist, daß eine Debatte über die deutschen, nicht nur fußballerischen Sekundärtugenden in Gang gekommen ist Wille, Kraft und Entschlossenheit, Disziplin, Fleiß und Sauberkeit.
Immer wieder waren diese Umschreibungen für blinde Effizienz zur allgemeingültigen Philosophie (im Fußball wie in der Politik) hochgeredet worden, offenbarten aber ihre deutsche Beschränktheit eher in dem, was sie damit indirekt verleumdeten: Intelligenz, Phantasie, Souveränität, Spieltrieb. Erst unter den Auswirkungen dieser Defizite kam zutage, was dann auch deutsche Fans und die "Bildzeitung" empörte: daß die deutsche Mannschaft samt Trainer ein schlechter Verlierer war. Berti Vogts wurde zum "Müllhaufen der Nation" (so ein ZDF-Reporter), und der Kabarettist Dieter Nuhr würdigte es als eine "artistische Leistung", wie der Bundestrainer "seine körperliche Größe noch mental unterschreiten konnte".
Symbole, zumal lebende, können sich gegen evidente Stimmigkeit nicht wehren: Dem "verdienten" Sieger nicht zu gratulieren, einfach abzuhauen in den Stadion-Untergrund, den Schiedsrichter und dann die internationalen Fußballfunktionäre eines Komplotts zu bezichtigen (sind ja alles Ausländer), diese Zeichen selbstgefälligen Beleidigtseins sind nur die logische Folge eines Zerrbilds, das den Sport als die letzte Plattform nationalistischer Wehrhaftigkeit erscheinen läßt, die sich im Stadion rackernd und ballernd, außerhalb aber auch gelegentlich grölend und randalierend äußert. Als ein Bekannter mich eines morgens - "die Deutschen" waren noch drin - mit der freudigen Feststellung begrüßte: "Wir haben gewonnen", da kam mir das vor wie eine Aufforderung zur Komplizenschaft. Das Vergehen: nicht mehr daran geglaubt zu haben, daß der Ball rund ist.