Ausgabe Dezember 1998

Zur Entwicklung des Kosovo-Konflikts

Deutsche Beteiligung an den von der NATO geplanten begrenzten und in Phasen durchzuführenden Luftoperationen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-Konflikt. Beschluß des Bundestages vom 16. Oktober 1998 (Wortlaut)

Am 16. Oktober entschied der Bundestag (in alter Zusammensetzung) über die deutsche Beteiligung an einem angedrohten und eventuell bevorstehenden Militäreinsatz der NATO im Kosovo-Konflikt. Für die Beschlußvorlage der (alten) Regierung stimmten 500 von 580 auwesenden Abgeordneten, dagegen 62 (davon: 29 PDS, 21 SPD, 9 Bündnis 90/Grüne, 1 CDU, 1 FDP); 18 Parlamentarier enthielten sich der Stimme (9 SPD, 8 Bündnis 90/Grüne). Zur kontroversen Bewertung der Kosovo-Intervention vgl. die Expertenumfrage im vorliegenden Heft sowie die Stellungnahme von Staats- und Völkerrechtlern vom 15. Oktober in der Novemberausgabe. Wir dokumentieren im folgenden den Bundestagsbeschluß sowie die zur Entwicklung des Kosovo-Konflikts wesentlichen offiziellen Dokumente und Stellungnahmen. - D. Red.

Der Deutsche Bundestag stimmt dem Einsatz bewaffneter Streitkräfte entsprechend dem von der Bundesregierung am 12. Oktober 1998 beschlossenen deutschen Beitrag zu den von der NATO zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-Konflikt geplanten, begrenzten und in Phasen durchzuführenden Luftoperationen für die von den NATO-Mitgliedstaaten gebildete Eingreiftruppe unter Führung der NATO zu.

Begründung

Die internationale Völkergemeinschaft ist tief besorgt über die Lage im Kosovo. Das unverhältnismäßige gewaltsame Vorgehen der serbischen Sicherheitskräfte hat zu 290 000 Flüchtlingen und Binnenvertriebenen geführt. Der Hohe Repräsentant der Vereinten Nationen für Flüchtlingsfragen schätzt, daß ca. 50 000 Menschen schutzlos der Witterung ausgesetzt sind. Durch den herannahenden Winter wird die Lage äußerst kritisch. Diese Entwicklung kann, wenn nichts unternommen wird, in Kürze zu einer humanitären Katastrophe führen. Die Bundesregierung hat in bilateralen Bemühungen und in gemeinsamen Anstrengungen im Rahmen der Vereinten Nationen, der Nordatlantischen Allianz, der Kontaktgruppe, der EU und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa versucht, eine Lösung der Kosovo-Krise zu erreichen. Die Forderungen der internationalen Gemeinschaft an Belgrad zur Erreichung eines Waffenstillstands, zur Linderung der humanitären Notlage und damit zum Schaffen der Voraussetzungen für die Aufnahme von Substanzverhandlungen zwischen den Konfliktparteien sind in der Sicherheitsrats-Resolution 1199 festgehalten worden. Belgrad hat diese Forderungen bisher nicht erfüllt. Vor diesem Hintergrund hat der NATO-Rat am 9. Oktober 1998 die Rechtsgrundlage für das Handeln des Bündnisses erörtert.

Der NATO-Generalsekretär hat das Ergebnis wie folgt zusammengefaßt:

- Die Bundesrepublik Jugoslawien hat die dringlichen Forderungen der Internationalen Gemeinschaft trotz der auf Kapitel VII der VN-Charta gestützten Resolutionen des VN-Sicherheitsrates 1160 vom 31. März 1998 und 1199 vom 23. September 1998 noch nicht erfüllt.

- Der äußerst eindeutige Bericht des VN-Generalsekretärs zu den beiden Resolutionen hat u.a. vor der Gefahr einer humanitären Katastrophe im Kosovo gewarnt.

- Die humanitäre Notlage hält wegen der Weigerung der Bundesrepublik Jugoslawien, Maßnahmen zu einer friedlichen Lösung zu ergreifen, unvermindert an.

- In absehbarer Zeit ist keine weitere Resolution des VN-Sicherheitsrates zu erwarten, die Zwangsmaßnahmen mit Blick auf den Kosovo enthält.

- Die Resolution 1199 des VN-Sicherheitsrates stellt unmißverständlich fest, daß das Ausmaß der Verschlechterung der Lage im Kosovo eine ernsthafte Bedrohung für Frieden und Sicherheit in der Region darstellt.

Der NATO-Generalsekretär erklärt, daß unter diesen außergewöhnlichen Umständen der gegenwärtigen Krisenlage im Kosovo, wie sie in der Resolution des VN-Sicherheitsrates 1199 beschrieben ist, die Drohung mit und ggf. der Einsatz von Gewalt durch die NATO gerechtfertigt ist. Die Bundesregierung teilt diese Rechtsauffassung mit allen anderen 15 NATO-Mitgliedstaaten. Das Bündnis hat entschieden, den Eintritt einer humanitären Notlage durch den Einsatz von Streitkräften abzuwenden. Der NATO-Rat hat die Operationspläne für begrenzte und in Phasen durchzuführende Luftoperationen am 8. Oktober 1998 abschließend gebilligt und hat nach Zustimmung der Mitglieder der Allianz den Einsatz autorisiert. Die Bundesregierung hat deswegen beschlossen, unter dem Vorbehalt der vorherigen konstitutiven Zustimmung durch den Deutschen Bundestag für die Luftoperationen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe die nachstehend aufgeführten Kräfte als Beitrag für die von NATO-Mitgliedstaaten gebildete Eingreiftruppe unter Führung der NATO einzusetzen.

1. Für die Luftoperationen werden bereitgestellt: a) Luftwaffenkräfte bestehend aus Aufklärungs- und ECR-Flugzeugen, Lufttransportkräften, Luftumschlagkräften, Stabs- und Unterstützungskräften. b) Marinekräfte bestehend aus - Seeluftstreitkräften zur Zusammenarbeit mit der Luftwaffe mit Aufklärungsflugzeugen einschließlich Einheiten für die elektronische Aufklärung sowie, soweit erforderlich, see- oder landgestützte Unterstützungseinheiten, - Stabs- und Unterstützungskräften. c) Personal und Führungsunterstützungskräfte für die internationalen Hauptquartiere einschließlich AWACS. Darüber hinaus werden ggf. Heereskräfte zur Erkundung und Aufklärung, einschließlich erforderlicher Stabs- und Unterstützungskräfte, bereitgestellt; für diese Kräfte ist keine Stationierung im Kosovo vorgesehen. Auf die für SFOR bereitgestellten Kräfte, Logistik und Infrastruktur wird zurückgegriffen, sofern dies möglich ist und der Auftrag im Rahmen des SFOR-Einsatzes dadurch nicht beeinträchtigt wird. Der Umfang der Gesamtkräfte im Einsatzgebiet wird eine durchschnittliche Größenordnung von rd. 500 Soldaten umfassen; bei gleichzeitigem vollem Einsatz aller Kräfte und Personalrotation kann sie zeitweise darüber liegen. Umfang und Zusammensetzung der deutschen Kräfte orientieren sich an dem Einsatz von bis zu 14 Aufklärungs- und ECR-TORNADO-Flugzeugen und den für die Operationen erforderlichen Aufklärungs- und Unterstützungskräften.

2. Es kommen zum Einsatz - nur Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit sowie - Soldaten, die Grundwehrdienst, freiwilligen zusätzlichen Wehrdienst oder eine Wehrübung leisten, nur, wenn sie sich für besondere Auslandsverwendungen freiwillig verpflichtet haben.

3. Die von der Bundesregierung bereitgestellten Kräfte können, soweit der VN-Sicherheitsrat eine entsprechende Resolution nicht verabschiedet, zur Abwendung einer humanitären Katastrophe und zur Unterbindung schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen im Kosovo auf der Grundlage eines entsprechenden Beschlusses des NATO-Rates eingesetzt werden, um die Forderungen aus den Sicherheitsrats-Resolutionen 1160 und 1199 durchzusetzen.

4. Im Rahmen dieser Operation kann der Einsatz von deutschem Austauschpersonal in Kontingenten anderer Nationen sowie der Einsatz von Austauschpersonal anderer Nationen im Rahmen des deutschen Kontingents auf der Grundlage bilateraler Vereinbarungen und in den Grenzen der für Soldaten des deutschen Kontingents bestehenden rechtlichen Bindungen genehmigt werden. 5. Bei dem Einsatz handelt es sich um eine besondere Auslandsverwendung im Sinne des Paragr. 58 a des Bundesbesoldungsgesetzes. 6. Die Kosten für den Einsatz sind, soweit nicht veranschlagt, aus dem Einzelplan 14 zu erwirtschaften.

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