Im Sommer 1997 stellte Bundesinnenminister Manfred Kanther erste Überlegungen für ein neues Sicherheitsnetz zur Bekämpfung der Kriminalität in der Bundesrepublik vor. Ziel dieser Überlegungen ist es, neue Konzepte in Anlehnung an das amerikanische Modell der Kriminalitätsbekämpfung zu entwickeln: "Wir wollen das amerikanische Modell nachahmen und Straftaten verhindern, in dem wir mehr Präsenz auf der Straße zeigen", erläuterte Ministeriumssprecher Detlev Dauke. 1) Das Konzept einer verstärkten Präventionsarbeit sieht insbesondere auch eine neue Rolle des Bundesgrenzschutzes (BGS) bei der Kriminalitätsbekämpfung in bundesdeutschen Großstädten vor. Der Minister hat mehrere Modellversuche vorgeschlagen, in denen unterschiedliche Einsatzvarianten geprüft werden sollen. 2) Neben der allgemeinen personellen Verstärkung der Bahnpolizei (von 880 Beamten ist die Rede), einem entsprechenden verstärkten Einsatz im Bahnhofsbereich, wird vor allem auch eine weitergehende innerstädtische Einbeziehung des BGS auf Anforderung der Länder erwogen.
Ob gemeinsame Streifengänge oder Drogenrazzien über den Bahnhofsbereich hinaus: Manfred Kanther geht es um ein umfassendes Spektrum von Einsatzmöglichkeiten. Aus dem Kreis von Bundesländern und (speziell) Kommunen wurde teilweise deutliches Interesse signalisiert.
So begrüßte etwa das hessische Innenministerium ausdrücklich das Bonner Angebot. Die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth meldete Interesse an einem Modellversuch in der Mainmetropole. Der Personalrat des Frankfurter Polizeipräsidiums bat den hessischen Innenminister Gerhard Bökel sogar, gleich 200 BGS-Beamte anzufordern, um die 24 Reviere und Stationen in der Stadt Frankfurt um je zwei Polizisten zu verstärken. Nachhaltige Bedenken äußerte allein Nordrhein-Westfalens Innenminister Franz-Josef Kniola. 3) Nach seiner Auffassung ist die diskutierte Ausweitung der Tätigkeit des BGS im Bereich allgemeiner Polizeiaufgaben vom Grundgesetz nicht gedeckt. Es handele sich vielmehr um einen weiteren Versuch des Bundes, seine Kompetenzen auszubauen. Mit Hilfe des BGS versuche der Bund immer wieder, sich in Länderzuständigkeiten einzuschleichen. Als Reaktion auf das einsetzende Interesse am Angebot hat das Bundesinnenministerium klargestellt, daß das neue Modell nicht lediglich zur personellen Unterstützung der Länder und Kommunen gedacht sei. Mit einer Bedienung aus dem Pool des BGS kann wohl nur rechnen, wer eine Einsatzkonzeption vorlegt, die mit dem Ziel des Bundesinnnenministers im Sinne einer Nachahmung des amerikanischen Modells der Kriminalitätsbekämpfung übereinstimmt.
Auf dem Weg zu einer modernen Polizei des Bundes?
Der Ausbau des BGS zu einer allgemeinen Polizei des Bundes wird von Bonn seit Jahren systematisch betrieben. Die entscheidende Schnittstelle hin zu der neueren Entwicklung bildete die Übertragung der Aufgaben der Bahnpolizei auf den BGS.
Zwar gab es auch zuvor schon Ausweitungen seiner Tätigkeit, die sich deutlich von der ursprünglichen Vorstellung eines "Grenzschutzes" entfernten, die Einschränkung der Zuständigkeit für "besondere Aufgaben der Gefahrenabwehr" wurde aber überwiegend noch gewahrt. Die 1992 4) erfolgte Übertragung der Aufgaben der Bahnpolizei (und der etwas näher noch der Grenzsicherung zuzurechnenden Flughafensicherung) an den BGS markiert dagegen eindeutig die Neuausrichtung seiner Tätigkeitsfelder. Die formal-juristische Begründung lautet: Der Bund dürfe in seinem bundesrechtlichen Kompetenzbereich (hier Bahnbetrieb) die Aufgabe der Gefahrenabwehr umfassend wahrnehmen. 5) Dagegen hat insbesondere Jürgen Papier in einem Rechtsgutachten für das Land Nordrhein-Westfalen beachtliche Bedenken formuliert. 6) Die Mehrheit der Bundesländer hatte allerdings mit der bundesweiten Übertragung der allgemeinen Gefahrenabwehr im Bahnbereich auf den BGS keine Probleme. 7) Ihnen ging es allein um die faktische Entlastung von einer Aufgabe, die zuvor wegen der geringen personellen Austattung der alten Bahnpolizei weitgehend von der Landespolizei wahrgenommen werden mußte. Die Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums zu den neuen Funktionen des BGS ab dem 1.4.1992 8) betont zutreffend das "historische Datum" in der Geschichte des Bundesgrenzschutzes als Polizei des Bundes: "Mit der neuen Aufgaben- und Organisationsstruktur wird die Entwicklung des Bundesgrenzschutzes zu einer modernen, vielfältigen Polizei des Bundes konsequent fortgesetzt".
Durch die neuen Aufgaben werde einerseits dem BGS vor dem Hintergrund des Wegfalls früherer Aufgaben eine gesicherte Zukunftsperspektive vermittelt, andererseits würden die Länder deutlich entlastet. Die Landespolizei müsse - anders als früher nur noch in Ausnahmefällen um Unterstützung der Bahnpolizei ersucht werden. Sie könne sich damit auf ihre anderen polizeilichen Aufgaben, insbesondere in den Schwerpunkten Krimininalitätsbekämpfung, besser konzentrieren. Nun verläßt der Bund jedoch auch den damals abgesteckten Rahmen. Er beansprucht nach dem ersten Fußfassen mit der "Vorhut" Bahnpolizei eine weitergehende Mitwirkung an der polizeilichen Arbeit in den Ländern im Bereich der allgemeinen polizeilichen Präventionsarbeit. Während die Übertragung der Bahnpolizei an den BGS juristisch durchaus kontrovers diskutiert werden kann, gilt dies für das neue Kanther-Konzept nicht. Für eine Erweiterung der polizeilichen Aufgaben in den innerstädtischen Bereich über das Bahnhofsgelände hinaus existiert nicht einmal im Ansatz eine grundgesetzliche oder einfachgesetzliche Grundlage. Art. 35 Abs. 2 GG setzt der polizeilichen Tätigkeit des BGS eine strikte verfassungsrechtliche Grenze. Bis 1992 war dessen Einsatz nur zur Grenzsicherung, und - seit 1968 - auch im Falle des inneren Notstands (Art. 91 Abs. 2 GG) sowie bei Unglücksfällen und Naturkatastrophen zulässig.
Zwar wurde dann mit der Neufassung von Art. 35 Abs. 2 GG das Aufgabengebiet erneut erweitert, der polizeiliche Einsatz des BGS aber ausdrücklich nur in "besonderen Fällen" der Gefahrenabwehr zugelassen. 9) Weiterhin ist es gemäß Art. 35 Abs. 2 GG und der entsprechenden gesetzlichen Regelung des Paragr. 11 Abs. 1 Nr. 1 BGS-Gesetz erforderlich, daß das jeweilige Bundesland ohne diese Unterstützung eine Aufgabe nicht, oder nur unter besonderen Schwierigkeiten erfüllen kann. Das entscheidende Kriterium "Fall von besonderer Bedeutung" läßt zwar einen gewissen interpretativen Spielraum zu, es muß sich aber immerhin um außergewöhnliche Sachlagen handeln. Praktische Bedeutung kommt den Regelungen des Art. 35 Abs. 2 GG und des Paragr. 11 Abs. 1 Nr. 1 BGS-Gesetz vor allem bei der Heranziehung des Bundesgrenzschutzes zu einzelnen Demonstrationen in den Bundesländern zu. Auch hier war es bereits in vielen Fällen äußerst fraglich, ob tatsächlich die speziellen Voraussetzungen einer besonderen Aufgabe der Gefahrenabwehr vorlagen. Die Aufgabe der allgemeinen Kriminalitätsbekämpfung durch verstärkte Präsenz stellt jedoch eindeutig keinen Fall einer Aufgabe der Gefahrenabwehr von besonderer Bedeutung dar. Mangels Ermächtigungsgrundlage im GG kann hier selbst der Gesetzgeber ohne Verfassungsänderung keine Neuregelung vornehmen, auch wenn Manfred Kanther neuerdings betont, der innerstädtische Einsatz des BGS auch gegenüber "allgemeiner Kriminalität" stehe voll im Einklang mit den gesetzlich fixierten Funktionen. Die durchaus nachvollziehbaren Interessen von Ländern und Kommunen sowie Personalvertretungen im polizeilichen Bereich sind nicht geeignet, die schwerwiegenden rechtlichen Bedenken auszuräumen. NRW-Innenminister Kniola hat überdies zutreffend darauf verwiesen, daß allgemeine personelle Probleme der Bundesländer im polizeilichen Bereich wohl kaum über eine Unterstützung seitens des BGS gelöst werden können. Das Kanther-Angebot lenkt in der Tat mehr von den Strukturproblemen der Länderpolizeien ab, als daß er zu ihrer Lösung beitragen könnte. Die rechtlichen Bedenken werden auch nicht dadurch gemildert, daß die neue Tätigkeit von Kräften des BGS im Rahmen der allgemeinen Kriminalitätsbekämpfung nur auf Anforderung der Bundesländer und nur unter der Einsatzleitung der Landespolizei erfolgen soll.
Denn eine eigenständige Tätigkeit des BGS, wie bei der Bahnpolizei, kommt mangels gesetzlicher Grundlagen ohnehin nicht in Betracht - selbst wenn es sich dabei um Modellversuche handelt. Modellversuche sind nur in solchen Bereichen zulässig, in denen dafür gewisse Spielräume von der Rechtsordnung eingeräumt werden.
Im übrigen wird insbesondere durch die Beanspruchung einer Prüfungskompetenz hinsichtlich der Länderkonzepte zur polizeilichen Kriminalitätsbekämpfung durch den Bundesinnenminister deutlich, daß hier die Verfassungsordnung auf den Kopf gestellt wird. In Betracht kommt auf der Grundlage des geltenden Rechts allenfalls eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen BGS und Landespolizei. Hier besteht eine Kooperation, die besonders an den Schnittstellen von Bahnhofsgelände und innerstädtischem Bereich schon in der Vergangenheit praktiziert wurde. Auch ist der BGS bereits in einzelnen innerstädtischen Präventionsgremien vertreten. In diesem Zusammenhang können einzelne neue Kooperationsformen erprobt werden, soweit die Kompetenz der Länder für die allgemeinen Polizeiaufgaben gewahrt bleibt.
Amerikanisches Modell?
Neben den speziellen rechtlichen Fragestellungen, die mit dem Einsatz des BGS im innerstädtischen Bereich verbunden sind, geht es in der Sache selbst um die Frage, ob die polizeiliche Tätigkeit verstärkt am Vorbild des amerikanischen Modells ausgerichtet werden soll. Dazu bedarf es zunächst einer näheren Präzisierung, was unter dem amerikanischen Modell zu verstehen ist. Die Debatte in der BRD zu diesem Thema wurde 1997 stark geprägt durch zahlreiche Medienberichte über das "no zero"- bzw. "Nulltoleranz"-Modell in New York. Dieses weist zwei grundlegende Merkmale auf, wodurch es sich vom bundesdeutschen Rechtsverständnis abhebt: Ein polizeiliches Einschreiten ist weit unterhalb der Gefahrenschwelle zulässig. Zahlreiche Verhaltensweisen, die nach hiesigem Recht bislang noch ganz überwiegend als zulässig erachtet werden, wie z.B. Betteln oder Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit, unterliegen massivem polizeilichen Zugriff. Gleichzeitig kommen, auch generell bei lediglich geringfügigen Ordnungsverstößen, äußerst intensive polizeiliche Methoden und entsprechende Sanktionen zur Anwendung. Nach deutschem Rechtsverständnis offensichtlich unverhältnismäßige und unzulässige polizeiliche Maßnahmen bestimmen in New York den polizeilichen Alltag. 10) Polizeibeamten, die in der BRD systematisch nach jenem Modell handeln würden, drohten strafgerichtliche Verurteilungen mit zum Teil längeren Freiheitsstrafen. 11) Eine exakte Nachahmung des spezifischen Handlungskonzepts des Modells New York wird in der BRD derzeit allerdings ernsthaft nicht gefordert. 12) Gerade auch aus dem polizeilichen Bereich wird nachhaltig darauf hingewiesen, daß extrem übermäßige polizeiliche Reaktionen selbst bei kleineren Vergehen weder rechtlich zulässig noch sinnvoll sind. 13)
Die von den Medien stark geförderte einseitige Konzentration auf das Modell New York in der bundesdeutschen Diskussion des vergangenen Jahres hat allerdings zur Vernachlässigung der sonstigen polizeilichen Praxis in den USA geführt: Das Modell New York beinhaltet eine extreme polizeiliche Handlungsstrategie, die so auch in den USA weitgehend einmalig ist. Andererseits existieren aber durchaus gemeinsame Grundzüge der polizeilichen Handlungsstrategien, die es zulassen, von einem amerikanischen Modell zu sprechen. Grundlegend für einen großen Teil der polizeilichen Handlungskonzepte in den USA ist das Vorgehen weit unterhalb der nach bundesdeutschem Recht erforderlichen Gefahrenschwelle, etwa die systematische Verbringung von die "Ordnung störenden" Personen aus dem innerstädtischen Bereich. Dieser Tatbestand wird durch die Ergebnisse einer aktuellen Studie des Bundeskriminalamts zum Community Policing 14) in den USA gerade wieder ausdrücklich bestätigt. Diese Studie war der Frage gewidmet, was genau unter dem amerikanischen Community Policing zu verstehen ist. Typische Merkmale sind demnach eine dezentrale Polizeistruktur sowie eine auf Präsenz und Prävention statt bloßer Strafverfolgung setzende Handlungsstrategie. Es wäre allerdings ein Mißverständnis, Community Policing allein mit fragwürdigem Vorgehen gegen bestimmte Verhaltensweisen im öffentlichen Raum zu identifizieren. Eine Vielzahl positiver Ansätze und Praxiserfahrungen in den USA betreffen eine neue Bürgerorientierung der Polizei: Die Polizei ist für zahlreiche Probleme von Bürgerinnen und Bürgern ansprechbar, der Streifenbeamte im Viertel stellt den Kontakt zu den verschiedensten Ämtern her und gibt sonstige Hilfestellungen. Daraus ergeben sich durchaus Anregungen für eine Reform der Polizeiarbeit in der BRD. Der fragwürdige Teil des amerikanischen Modells des Community Policing betrifft die praktische Umsetzung der "Partnerschaft von Bürgern des Viertels und Streifenbeamten" bei der Bekämpfung von disorder und incivilities. Die Reduzierung von Unordnung und ungehörigem Benehmen gehört zum Kernbereich der neuen Aufgaben der Streifenbeamten. Auch die amerikanische Debatte kennt eine Vielzahl von Ansätzen, mit denen Probleme der "Unordnung" im öffentlichen Raum differenziert aufgegriffen, und nicht mit gegen bestimmte Personengruppen gerichteten Handlungskonzepten bearbeitet werden, etwa die Sanierung von Wohnvierteln unter Mitwirkung der Bewohner.
Dennoch gehören das weit ausgreifende Vorgehen gegen Ordnungsstörungen im weitesten Sinne, Drogenkonsum und die Verbringung von Obdachlosen zu typischen und markanten Elementen das Communitity Policing in den meisten untersuchten amerikanischen Städten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was unter der "Nachahmumg des amerikanischen Modells" im Rahmen der bundesdeutschen Debatte zu verstehen ist, soweit es um polizeiliche Handlungskonzepte über die bloße Verstärkung der Präsenz hinaus geht. Nicht zufällig betont gerade auch der Bundesinnenminister in jüngster Zeit die Notwendigkeit, der "öffentlichen Ordnung" wieder verstärkt Bedeutung zukommen zu lassen. 15) Zugleich kritisiert er diejenigen Bundesländer, die den Begriff der öffentlichen Ordnung in ihren Gesetzen zum Recht der Gefahrenabwehr gestrichen haben. Die geplante BGS-Umwandlung paßt insofern in eine neue polizeiliche Konzeption, die sich an das amerikanische Vorbild anlehnt.
Sollten sich die Bundesländer (etwa auf der bevorstehenden Innenministerkonferenz) für den Kanther-Vorschlag entscheiden, ist künftig eine besonders intensive Prüfung erforderlich, inwieweit Personal des BGS auch tatsächlich der Aufsicht der Bundesländer unterworfen werden kann. Hier stellt sich u.a. auch die Frage nach künftigen Ausbildungsinhalten und Einsatzkonzepten beim BGS (dort spielte z.B. die Problematik der "öffentlichen Ordnung" bis zur Übernahme bahnpolizeilicher Aufgaben kaum eine Rolle). Noch gibt es bei der Polizei in den Bundesländern deutliche Gegenpositionen zum amerikanischen Modell, allerdings zeigt sich derzeit auch eine stärkere Hinwendung zu einzelnen Elementen. Wenn Bundesländer und Kommunen selbst den amerikanischen Weg einschlagen wollen, erledigt sich damit auch der (ohnehin nur bedingt vorhandene) Bund-Länder-Konflikt zur Frage eines BGS-Einsatzes im innerstädtischen Raum.