Es gibt keine politische Zentralgewalt im derzeitigen Rußland. Eine solche wäre aber in einer Situation, in der das finanzpolitische Kartenhaus aus kurzfristigen staatlichen Schuldscheinen zusammenbrach, dringend von Nöten. Finanziell lavierte Rußland schon seit längerem am Abgrund: Die Steuereinnahmen unterschritten regelmäßig die Erwartungen. Bis Ende Mai 1998 wurden sogar 20 Mrd. weniger als im gleichen Zeitraum 1997 eingenommen. Die Asienkrise und das Absinken des Erdölpreises taten dann ihr übriges, um die Hoffnungen auf eine Gesundung der russischen Wirtschaft zunichte zu machen. (Im Vorjahr war das BIP um 0,4% gestiegen und die Produktion erstmals um 1,9%.) In einem letzten Rettungsversuch hatte der für die Verhandlungen mit den internationalen Geldgebern wie Internationaler Währungsfonds (IWF) und Europäische Bank für Wiederaufbau zuständige Anatolij Tschubais mit dem IWF ein letztes großes Hilfspaket von 20 Mrd. US-Dollar geschnürt. Zu spät. Mit der Abwertung des Rubel und dem vorläufigen Ende des Auslandsschuldendienstes am 17. August wurde das Fiasko auch der Öffentlichkeit eingestanden.
Jelzins machtvolle Ohnmacht
In dieser heiklen Situation reagierte Präsident Jelzin wie üblich: am 23. August entließ er mit Premierminister Kirijenko den vermeintlich Verantwortlichen und heizte damit die Inflation weiter an. Und mit jedem Tag, an dem der Sessel des Regierungschefs leer blieb, sank der Kurs des Rubels tiefer. Quasi im freien Fall stürzte er von einem Anfangswert von 6 Rubel pro US-Dollar auf später bis zu 50 Rubel pro Dollar auf dem Schwarzmarkt. Die Inflation, die 1997 bei einem Jahresniveau von 6,5% angelangt war, stieg im August erneut auf einen monatlichen Wert von 15%. Sowohl der Rubelkurs als auch die Inflationsraten sind nicht allein von ökonomischen Daten abhängig, sondern reagieren im hohen Maße auf die politische Lage im Lande. Der Finanzmarkt wird im Zeitalter schneller Transaktionen und hochnervöser Anleger im entscheidenden Maße auch über das Vertrauen der Investoren in eine Regierung reguliert.
Was auf den unüberlegten Schritt der Entlassung folgte, kann nur als Possenspiel bezeichnet werden. Anstatt mit einem neuen Kandidaten aufzuwarten, schlug Jelzin den erst vor fünf Monaten von ihm geschaßten Viktor Tschernomyrdin vor. Der als "politisches Schwergewicht" Titulierte sollte in der ihm eigenen technokratischen Art die Geschicke des Landes wieder in ruhigere Gefilde lenken. Dem widersetzten sich die Abgeordneten der Duma fraktionsübergreifend und verschärften damit die Regierungskrise. Trotz immer großzügigerer Angebote des Präsidenten an das verfassungsmäßig schwache Parlament - so räumte er beispielsweise Mitsprache bei der Ernennung der (gesamten) Regierung (und nicht nur des Premiers) ein - lenkten die Abgeordneten nicht ein und ließen Tschemornyrdin sowohl in der ersten als auch in der zweiten Abstimmung glatt durchfallen. Nach dreitägigem Zögern, das vor allem mit Streitigkeiten innerhalb des Präsidentenapparats über einen geeigneten Nachfolger zu erklären ist, nominierte Jelzin dann den bisherigen Außenminister Jewgenij Primakow. Die Kandidatur des 68jährigen Karrierediplomaten, der sich in erster Linie für arabische Länder interessiert, fand breite Zustimmung im In- und Ausland, und bereits einen Tag später war er mit einer überwältigenden Mehrheit von 317 Stimmen bei 63 Gegenstimmen gewählt.
Einen Sieger des letzten Machtkampfes in Moskau gibt es nicht. Dies gilt auch für das Parlament und seine stärkste Fraktion, die Kommunisten. Die ansonsten machtlose Duma konnte sich zwar gegen den ersten Vorschlag des Präsidenten zur Wehr setzen, und zumindest die Kommunisten erhielten für ihre Zustimmung zu Primakow Zugeständnisse in personalpolitischen Fragen, doch genau wie in der Vergangenheit werden die politischen Entscheidungen auch in Zukunft nicht vom Parlament getroffen. Dort werden sie höchstens verhindert. Der Präsident, ausgestattet mit umfangreichen Machtbefugnissen durch eine Verfassung, die zum Großteil seinen Ideen entsprungen ist, steht angeschlagener denn je an der Spitze seines Staates. Nachdem er bereits im Volk an Sympathie verloren hatte, schwindet mit der letzten Demonstration seiner Ohnmacht auch das Vertrauen seiner zuverlässigsten Freunde aus dem Westen. Verlierer gibt es hingegen viele: Die Bevölkerung hat durch die unerwartete Rückkehr zur Inflation wiederum Erspartes verloren und damit vor allem ihr Vertrauen in den wirtschaftlichen Aufschwung. Panikartig verfiel der Großteil der Bevölkerung, ob Rücklagen vorhanden waren oder nicht, wieder in den alten Trott der Hamsterkäufe. Andere versuchten ihre letzten Rubel oder Dollar auf Sparkonten zu sichern, indem sie sie vom Bankkonto wieder in den Sparstrumpf transferierten. Kaum jemand glaubte an das baldige Ende der Krise. Parallel dazu zögerten westliche Investoren geplante Vorhaben in Rußland hinaus. Jetzt überdenken sie nochmal bereits gefällte Investitionsentscheidungen. Der Umfang der persönlichen sowie volkswirtschaftlichen Verluste läßt sich derzeit noch nicht genau bilanzieren. Führende russische Ökonomen gehen aber davon aus, daß es mindestens ein bis zwei Jahre dauert, bis das Vertrauen in die russische Wirtschaft und den russischen Staat wiederhergestellt sein wird.
Die Realität der "ökonomischen Diktatur"
Gerade über die Kompetenz, die einen Nationalstaat auszeichnet nämlich daß er der Souverän auf einem rechtlich eingegrenzten Territorium ist - verfügt der russische Staat nicht. Seine personifizierte Machtspitze, der Präsident, ist zwar laut Verfassung in Besitz weitreichender Rechte und Machtbefugnisse, von denen sein US-amerikanischer Kollege nur träumen kann, doch de facto ist er längst nicht mehr in der Lage, seine Entscheidungen durchzusetzen. Wer sind also die wahren Machthaber in Rußland? Und welche Interessen verfolgen sie? Die bedeutendsten Akteure sind auf der zentralstaatlichen Ebene zunächst die Vorsitzenden und Chefs der großen Finanz-, Industrie- und Medienimperien, in Rußland Oligarchen genannt. Zu dieser kleinen Gruppe kapitalkräftiger Wirtschaftsbosse gehören unter anderem: der Chef der Oneksimbank, Vladimir Potanin, der Präsident der Finanzgruppe SBS-Agro, Aleksander Smolenskii, die Präsidenten des Erdölgiganten Surgutneftegaz und Lukoil, Vladimir Bogdanov und Vagit Alekperov, sowie die Leiter der Media-MostGruppe (einem Finanz- und Medienimperium), Vladimir Gusinskii und der omnipräsente Boris Berezovskii, Leiter eines Medien- und Finanzimperiums sowie einer großen Automobilfirma, zudem einer der wichtigsten Wahlkampffinanziers Jelzins und in der alten Regierung zuständig für die Belange der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten.
Sie üben Einfluß sowohl auf personalpolitische als auch auf inhaltliche Entscheidungen aus, indem sie direkte Lobbyarbeit beim Präsidenten betreiben. Ihr Machtmittel: Verfügungsgewalt über die wichtigsten Einnahmequellen des Staates und über den finanziellen Rückhalt des Präsidenten, zuletzt bei seinem kostspieligem Wahlkampf im Sommer 1996. Die Interessen der Oligarchen kennzeichnen sich dadurch, daß sie Unternehmer sind, denen an günstigen Geschäftsbedingungen gelegen ist. Sie stützen Jelzin und seine Regierung, solange sie sich davon Vorteile versprechen. In erster Linie erwarten sie, daß sie freie Hand im Außenhandel haben, Konkurrenzprodukte vom russischen Markt ferngehalten werden und ihre internen Bilanzen nicht zu genau überprüft werden. Die Finanzimperien sind zudem daran interessiert, daß ihre oft waghalsigen Spekulationen im Notfall mit staatlichen Mitteln ausgeglichen werden. Eines will aber niemand von ihnen: Steuern zahlen. Neben diesen Akteuren, die auf der zentralstaatlichen Ebene die Macht der Regierung und des Präsidenten untergraben, treten die russischen Regionen, die föderalen Untereinheiten des russischen Staates, immer stärker als eigenständige Subjekte auf. Längst gehen die regionalen Machthaber, die ihr Amt über Wahlen erlangten, ihre eigenen, von Moskau unabhängigen Wege. Teils legal, indem sie die (in den mit der russischen Zentralregierung geschlossenen Kompetenzabgrenzungsverträgen) ausgehandelten Befugnisse nutzen, teils illegal, indem sie schlicht Anweisungen und Gesetze ignorieren.
Am schmerzlichsten deutlich wird die Unabhängigkeit beim Kassensturz: das Gros der noch liquiden Föderationssubjekte verweigert mittlerweile Zahlungen an die Zentrale in Moskau. Statt die schwächeren Regionen zu subventionieren oder die Politik des Zentrums zu finanzieren, versuchen sie zu retten, was noch zu retten ist und verwenden ihre knappen Gelder zur Auszahlung überfälliger Löhne oder zur Subventionierung notleidender Betriebe. Während der Rubel immer mehr Wert verlor und die Lebensmittel in den Geschäften knapper wurden, zögerten die Gouverneure nicht lange, sondern entschlossen sich zu tatkräftigem Handeln. Eine Koordinierung mit dem Zentrum fand dabei nicht statt. Die Palette der gewählten Maßnahmen war breit gefächert. Im Pskover Gebiet wurden die Preise für Grundnahrungsmittel, wie Mehl, Zucker, Salz, reguliert. Der starrköpfige Gouverneur des Sverdlovsker Gebiets, Eduard Rossel, legte eine 17 Punkte umfassendes Krisenprogramm auf, indem er in erster Linie eine strenge staatliche Kontrolle der Wirtschaft verkündete. Und Aleksander Lebed, Gouverneur von Krasnojarsk und immer noch Anwärter auf das Amt des Präsidenten, entschloß sich ebenfalls zu Preiskontrollen. Aman Tuleev, Gouverneur der Region Kemerovo, gab die Parole aus, Entscheidungen zu treffen, ohne auf Moskau zu achten. Ohne groß Aufsehen in der westlichen Öffentlichkeit zu erregen, wurden somit die mit heftiger Kritik bedachten Ankündigungen Tschernomyrdins, er wolle eine ökonomische Diktatur einführen, in den Regionen längst umgesetzt.
Alle in einem Boot
Genau diese Frage ist erneut offen. Die genannten Gruppen verfügen zwar über ein bißchen oder ein bißchen viel Macht - gerade so viel, wie notwendig ist, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Aber darüber hinaus ist niemand in der Lage oder willens, wirklich das Gemeinwohl oder moderner: die staatlichen Gesamtinteressen zu regulieren, geschweige denn zu steuern. Auch der sonst so mächtige Apparat des Präsidenten schien in der letzten Regierungskrise machtlos zu sein. Anders ist das lange Zaudern um die Nominierung eines neuen Kandidaten nicht zu erklären. Die internen Reibereien im engen Umfeld des Präsidenten wurden mit der Absetzung seines Sprechers und des stellvertretenden Vorsitzenden des Präsidialapparats Jastrschembskij deutlich. In dieser Situation ist es sicher beruhigend, daß mit dem altgedienten und im Westen bereits bekannten Technokraten Primakow kein polarisierender Hitzkopf die Nachfolge Kirijenkos antritt. Ein Signal zur Entwarnung ist es aber noch lange nicht. Die Aufgaben, die den in der Wirtschafts- und Innenpolitik unerfahrenen Primakow erwarten, sind komplex, um nicht zu sagen gewaltig. Zunächst muß er den Staatshaushalt in Ordnung bringen. Das bedeutet auf der einen Seite: von den säumigen Regionen und finanzkräftigen Unternehmen Steuern einzutreiben. Auf der anderen Seite müssen die Ausgaben den Einnahmen angepaßt werden. Das heißt, wiederum Einsparungen im Bereich der Sozialleistungen und Subventionen. Lauter unbeliebte Maßnahmen, die bereits Kirijenko in Angriff nehmen wollte. Zur Umsetzung seiner umfassenden Steuerreform und einer neuen vertikalen Machthierarchie kam es aber nicht mehr.
Ein wichtiges Hindernis für die Durchsetzung der Reformpolitik war bisher die Konfrontation zwischen Regierung und Abgeordneten. Diese verzögerten immer wieder dringend notwendige Maßnahmen, indem sie an den Programmvorschlägen oder Gesetzesänderungen noch Kritik anmeldeten und oftmals gegen eine Annahme der Regierungsvorlagen stimmten. Primakow als Ministerpräsident, ein Vorschlag der liberalen Fraktion Jabloko, wurde zwar bisher fraktionsübergreifend positiv aufgenommen, ob die große Zustimmung aber auch eine konstruktive Unterstützung im unliebsamen Regierungsalltag bedeutet, bleibt fraglich. Inwieweit kann eine solche Kompromißregierung handlungsfähig sein? Programmatisch ließen sich bisher nur wenig Anknüpfungspunkte zwischen den unterschiedlichen Fraktionen finden. Allein schon die Verbindung von Premierminister Primakow und seinem Stellvertreter, Jurij Masljukow, der in der neuen Regierung die Wirtschaftspolitik überwachen soll, ist schwierig. Primakow verkündet die Fortsetzung der Reformen, während Masljukow als ehemaliger Direktor der sowjetischen Planungsbehörde für eine staatliche regulierte Industriepolitik plädiert. Primakow hat bereits die Duma darum gebeten, ihm Zeit einzuräumen, bevor er sich der Kritik stellen muß. Das ist es, was die neue Regierung braucht: Zeit, um die bereits begonnenen Reformen weiter zu verfolgen. Dabei sind weiterhin unliebsame Maßnahmen zu treffen, die auch soziale Härten nach sich ziehen können
Dringend in Angriff genommen werden muß eine Reform des Bankenwesens, die auch die Schließung nicht seriöser und quasi bankrotter Institute nach sich zieht. Weiter muß der Rubel erneut, auf der Grundlage eines solchen Haushalts, gestärkt werden. Nur so kann Rußland wieder dringend benötigtes Vertrauen gewinnen, um Investoren anzulocken, die nicht nur an schnellen Kapitalgewinnen interessiert sind, sondern ihr Geld im produktiven Sektor anlegen wollen. Die genannten Maßnahmen können von Akteuren, die reine Partikularinteressen verfolgen, nicht durchgesetzt werden - allerdings auch nicht gegen diese. Von daher ist es wichtig, die Oligarchen und Regionalfürsten für eine gemeinsame Politik zu gewinnen. Daraus könnte das Zentrum die erforderliche Kraft schöpfen, um Kontrollmaßnahmen durchzusetzen. Solange allen Beteiligten klar ist, daß ein in Einzelteile zerfallenes Rußland ohne jede Möglichkeit der zentralen Steuerung ihren Interessen mehr schadet als nützt und daß sie als eigenständige Akteure in der Staatenwelt nicht überlebensfähig wären -, solange verfügt das Zentrum noch über genug Spielraum, um eine "Wir sitzen alle in einem Boot"-Politik zu betreiben und gemeinsam mit den Mächtigen die dringendsten Probleme anzugehen. Jeder Glaube an eine rasche Besserung und einen verlustlosen Übergang wäre aber verfehlt.