Die Aufgaben des deutschen Ratsvorsitzes - Rede von Bundesaußenminister Joschka Fischer vor dem Europäischen Parlament am 12. Januar 1999 (Auszug)
An die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 knüpfen sich hohe Erwartungen - wozu die neue Bundesregierung selbst kräftig beigetragen hat. Am 12. Januar hat Außenminister Joschka Fischer vor den Abgeordneten des Europäischen Parlaments das Programm für diese Ratspräsidentschaft vorgestellt. Wir dokumentieren den Teil, der sich unmittelbar auf die kurz- und mittelfristigen Schwerpunkte bezieht. - D. Red
Zentrale Aufgabe des deutschen Ratsvorsitzes ist es, die Union in ihren Strukturen und Verfahren darauf vorzubereiten, aus einer westeuropäischen zu einer gesamteuropäischen und zugleich global handlungsfähigen Union zu werden. Wir setzen im kommenden Halbjahr vier Schwerpunkte:
E r s t e n s: Wir wollen die Verhandlungen über die Agenda 2000 bis zum 24./25. März erfolgreich abschließen. Das ist kein willkürliches Datum. Gelingt uns bis dahin keine Einigung, würde die Union ihre Reformfähigkeit, die auch Voraussetzung für die Erweiterung ist, ernsthaft in Frage stellen. Keine Frage: Die Verhandlungen werden sehr schwierig. Eine Lösung wird nur im Rahmen eines umfassenden Interessenausgleichs gefunden werden. Der deutsche Vorsitz wird dabei darauf achten, daß keine Lösung auf Kosten der schwächsten EU-Partner zustande kommt, sondern daß auf dem Europäischen Rat Ende März eine gleichgewichtige Lösung erreicht wird. Auch wenn die Positionen in entscheidenden Fragen noch auseinander liegen - ich bin optimistisch, daß wir uns einigen können. Auf meiner Sondierungsreise vor Weihnachten habe ich in allen Partnerländern die Bereitschaft gespürt, die Verhandlungen konstruktiv zu führen und eine Einigung bis März zu erzielen. Alle wissen, daß wir nur Erfolg haben werden, wenn wir die Agenda 2000 als Gesamtpaket behandeln und wenn jeder zum Kompromiß beiträgt. Es darf keine Gewinner und keine Verlierer geben. Das alles wird dem deutschen Vorsitz einen schwierigen Balanceakt abverlangen. Dabei vertrauen wir auch auf die Unterstützung und das Verständnis des Europäischen Parlamentes, mit dem wir eng zusammenarbeiten wollen.
Jetzt müssen wir so schnell wie möglich die Substanzfragen anpacken: Bei der Strukturpolitik halte ich zunächst eine Konzentration auf die strukturschwächsten und förderungsbedürftigsten Regionen für notwendig. Die Förderung muß einfacher, dezentraler, ökologischer und beschäftigungswirksamer werden. Zukunftsfähigkeit und Legitimität der EU erfordern eine faire Lastenverteilung. Klar ist: Deutschland wird als wirtschaftsstärkstes EU-Mitglied auch künftig seine europäische Verantwortung tragen und größter Nettozahler bleiben. Aber bei der Verteilung der Lasten haben sich Ungerechtigkeiten eingeschlichen, die wir korrigieren müssen. Dieses Anliegen, das Deutschland mit anderen Mitgliedstaaten teilt, wird von der Kommission und inzwischen auch von vielen Partnern als legitim anerkannt. Die Erweiterung ebenso wie die nächste WTO-Verhandlungsrunde machen eine grundlegende Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik und eine Senkung der Agrarausgaben erforderlich. Wenn wir die überwiegend noch agrarisch strukturierten Länder Mittel- und Osteuropas aufnehmen wollen, dann können wir die europäische Agrarpolitik nicht unverändert fortschreiben. Die europäische Landwirtschaft muß wettbewerbsfähiger und umweltverträglicher werden; gleichzeitig müssen die Interessen der Landwirte gesichert werden.
Z w e i t e n s: Wir wollen deutliche Fortschritte hin zu einer wirksamen Beschäftigungspolitik erzielen. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ist die drängendste Sorge der Menschen in Europa. Sie erwarten zu Recht, daß nicht nur die nationalen Regierungen gegen die Arbeitslosigkeit vorgehen, sondern auch die europäische Ebene einen Beitrag leistet. Deshalb wollen wir beim Europäischen Rat in Köln einen europäischen Beschäftigungspakt verabschieden. Der Pakt soll Ausdruck einer aktiven Arbeitsmarktpolitik werden, die mehr als bisher auf Prävention setzt: auf den Abbau der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit sowie der Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt.
D r i t t e n s: Wir wollen und müssen die Erweiterung der EU schnellstmöglichst voranbringen. Die EU darf nach dem Ende des Kalten Krieges nicht auf Westeuropa beschränkt bleiben, sondern es liegt im Wesen der europäischen Integrationsidee, daß sie gesamteuropäisch angelegt ist. Darüber hinaus lassen die geopolitischen Realitäten auch gar keine ernsthafte Alternative zu. Wenn dies richtig ist, dann hat die Geschichte 1989/90 bereits über das O b der Osterweiterung entschieden, allein das W i e und das W a n n muß noch gestaltet und entschieden werden. Die Süderweiterung der EU war ein großer ökonomischer und auch politisch-demokratischer Erfolg. Wirtschaftliche Prosperität und demokratische Stabilität waren das Ergebnis der Süderweiterung für die damaligen Beitrittsländer, und genau diesen Erfolg muß die Osterweiterung der EU wiederholen. Nur durch den Beitritt der mittel- und osteuropäischen Partner lassen sich Wohlstand, Frieden und Stabilität für ganz Europa dauerhaft sichern. Und erst mit der Öffnung nach Osten löst die EU ihren Anspruch ein, als Kulturraum und Wertegemeinschaft für ganz Europa zu sprechen. Wir vergessen als Deutsche auch nicht, welch unschätzbaren Beitrag die Völker in Mittel- und Osteuropa für die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas geleistet haben.
Eine Instabilitätszone jenseits der Grenzen der heutigen EU ist angesichts der Erfahrungen auf dem Balkan politisch nicht zu verantworten, zudem wäre dies ein Wortbruch gegenüber den neuen Demokratien, der fatale Folgen für Europa hätte. Insofern liefe also jede gewollte Verzögerung oder gar Verhinderung der EU-Erweiterung lediglich auf einen politisch und ökonomisch gefährlichen und teuren Umweg hinaus, an dessen Ende, durch die Realitäten und Risiken erzwungen, schließlich dann eines Tages doch die Erweiterung stünde. Aus all diesen Gründen gibt es zur Erweiterung der EU um die nächsten Kandidaten keine Alternative. Für den Erweiterungsprozeß brauchen wir sowohl eine strategische Vision als auch viel praktischen Realismus. Wir müssen die Erweiterungsverhandlungen jetzt schnellstmöglich zu einem praktischen Erfolg führen. Und deshalb sollten wir uns gegenwärtig visionäre Termindebatten schenken. Wenn wir uns jetzt auf das Herstellen der Erweiterungsfähigkeit der EU Strukturen konzentrieren - und der erfolgreiche Abschluß der Agenda 2000 ist dazu unverzichtbar -, so heißt das nicht, die Erweiterung auf die lange Bank zu schieben. Das genaue Gegenteil ist vielmehr richtig. Erweiterungs- und Beitrittsfähigkeit müssen parallel vorankommen. Je eher die EU die notwendigen Reformen in Angriff nimmt und je intensiver die Beitrittsländer ihre internen Reformen weiterführen, desto rascher und reibungsloser wird der Erweiterungsprozeß voranschreiten. Deutschland bleibt aus all diesen Gründen Anwalt einer zügigen Osterweiterung der Europäischen Union. Wir wollen die Beitrittsverhandlungen mit großem Nachdruck voranbringen. Die noch nicht verhandelnden Kandidaten müssen eine faire Chance erhalten, zu den anderen aufzuschließen. Die Überholspur muß frei bleiben. Heute ist es noch zu früh, um ein Datum für den Beitritt zu setzen. Wenn aber Licht am Ende des Verhandlungs-Tunnels zu sehen ist, nach dem absehbaren Verhandlungsfortschritt und unter der Voraussetzung eines erfolgreichen Abschlusses der Agenda 2000 im kommenden März wohl gegen Ende 1999 oder während des Jahres 2000, dann wird die Benennung eines konkreten Abschlußdatums durchaus sinnvoll, wenn nicht gar zwingend werden, um die Verhandlungen zügig zum Abschluß führen zu können.
V i e r t e n s: Wir wollen die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU stärken. Nur eine Union, die außenpolitisch handlungsfähig ist, kann den Frieden in Europa sichern und ihr wachsendes Gewicht auf der Weltbühne zur Geltung bringen. Selbst die großen Mitgliedsstaaten der EU werden zur Vertretung ihrer Interessen und zur Wahrung des Friedens in einer sich mehr und mehr globalisierenden Welt immer weniger in der Lage sein. In der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts muß die EU deshalb zum eigenständigen, politisch handlungsfähigen Subjekt werden. Hierfür müssen wir uns durch die Schaffung einer Gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik (GASP), die diesen Namen verdient, rechtzeitig vorbereiten. Wenn der Amsterdamer Vertrag in Kraft tritt - nach derzeitigem Ratifikations-Stand spätestens zum 1. Juni -, wollen wir sicherstellen, daß er unmittelbar und in allen Fragen angewandt wird. Im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik enthält der Vertrag ein Paket neuer Instrumente, die die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Union stärken werden. Die Ernennung des Hohen Beauftragten für die GASP wird uns hoffentlich einen großen Schritt voranbringen. Dies wird aber nur dann der Fall sein, wenn es ein Mann oder eine Frau von politischem Gewicht und Durchsetzungsfähigkeit ist. Noch während unserer Präsidentschaft soll auch die Strategieplanungs- und Frühwarneinheit eingerichtet und das neue Instrument der "Gemeinsamen Strategie" und mit ihm Mehrheitsentscheidungen in der GASP eingeführt werden.
Wir wollen dieses neue Instrument zunächst auf Nachbarregionen der EU anwenden und bereits auf dem Europäischen Rat in Köln eine erste Gemeinsame Strategie zu Rußland, wenn möglich auch zur Ukraine, verabschieden. Die langfristige Schaffung einer prosperierenden Zivilgesellschaft in Rußland ist von größter Bedeutung für die Stabilität ganz Europas. In der gegenwärtigen Phase geht es in der GASP um ein Maximum an gemeinsamem Handeln und eine möglichst intensive Anwendung der neuen Instrumente. Wichtig ist, daß wir Felder gesamteuropäischen Interesses besser als bisher identifizieren. Das brauchen wir auch, um in der Öffentlichkeit das Bewußtsein europäischer Gemeinsamkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik zu schärfen. In dem vor uns liegenden Halbjahr geht es darum, aus politischen Visionen einen handfesten Bauabschnitt zu machen. Wir dürfen dabei aber nicht den Blick auf das operative Tagesgeschäft verengen. Europa hat seine Kraft immer aus einer fruchtbaren Mischung zwischen Visionen und ihrer Umsetzung geschöpft. Gerade im nächsten Halbjahr wird es wichtig sein, den weiteren Horizont im Auge zu behalten. Der nächste Bauabschnitt nach Abschluß der Agenda 2000 wird die Lösung der institutionellen Reformen der EU sein. Mit Blick auf die Erweiterung ist diese Reform zwingend, um einen institutionellen Infarkt der EU zu vermeiden. Wenn eine Europäische Union von 21 und mehr Mitgliedern handlungsfähig bleiben soll, müssen die entsprechenden Reformen verwirklicht werden. Die entscheidende Frage für die Handlungsfähigkeit einer erweiterten Union ist die Bereitschaft, Mehrheitsentscheidungen in möglichst vielen Bereichen zu akzeptieren. Die neue Bundesregierung setzt sich dafür ein, längerfristig das Einstimmigkeitserfordernis in der EU auf Fragen von grundsätzlicher Bedeutung wie Vertragsänderungen zu beschränken. Auf dem Europäischen Rat in Wien wurde vereinbart, daß der Europäische Rat in Köln über die Behandlung der in Amsterdam nicht geregelten institutionellen Fragen entscheiden soll. Ich stelle mir vor, daß wir in Köln den Startschuß geben für eine neue Regierungskonferenz, die um das Jahr 2001 zusammentreten könnte.