Ausgabe März 1999

Requisitärer Realismus

Liebe im Film ist mitunter lebensgefährlich, weil das die sentimentale Spannweite erhöht. W o d u r c h die Erfüllung vorübergehend in Frage gestellt oder ins Jenseits verlagert wird, das ist eigentlich ziemlich gleichgültig. Im Notfall tun es dramaturgische Krücken wie Krankheiten, Unfälle oder andere Katastrophen. Liebe im Holocaust, das sei ein Stoff, da könne man "alle psychologischen Register ziehen und eine Menge relevanter Konflikte herauspressen", sagt der Regisseur, und eine Rezensentin verrät naiv zustimmend, was davon übrig geblieben ist - eine "irre Stimmung" in einer "merkwürdig hitzigen Stadt" (epd Film).

Die Geschichte des Films Aimée & Jaguar - eine Liebe zwischen einer Nazifrau und einer Jüdin - hätte sich kein Drehbuchautor auszudenken gewagt, das Leben selbst hat sie geschrieben. In Berlin unter dem Bombenhagel lernt Lilly ("Aimée"), Mutterkreuzträgerin und Frau eines an der Ostfront kämpfenden Offiziers, Felice ("Jaguar") kennen, eine rassige Jüdin großbürgerlicher Prägung mit Emanzipations-Touch. Sie verfallen einem amour fou, der sich auf dem Boden eines erstaunlich eleganten gesellschaftlichen Lebens entfaltet, bis Felice entdeckt und ins KZ verschleppt wird. Lilly überlebt, und im Altersheim beklagt sie sich darüber, erst vom Führer und dann vom Schicksal betrogen worden zu sein.

Der Film basiert auf den Memoiren der Lilly Wust, die 1994 von einer Journalistin veröffentlicht worden sind. Sie und mehr noch die Erinnerungen einer anderen Freundin Felices (Elenai P.) lassen erkennen, daß dem Film ein aus der Sicht Lillys idealisiertes Bild dieser Liebe zugrunde liegt. Nicht nur hat sich Lilly kurz vor der Deportation Felices, beim Abschied in der Gestapo-Sammelstelle, von dieser durch eine Schenkungsurkunde als Erbin einsetzen lassen, was bei Historikern unter die Rubrik "Bereicherung an Juden" läuft. Es bestehen sogar dringende Verdachtsmomente, daß Lilly sie schlicht verraten hat, als ihr die Verbindung zu gefährlich zu werden drohte. Aber abgesehen von solchen Details macht eine auch nur oberflächliche Reflexion der damaligen Umstände klar, daß diese Liebe nur unter dem Vorzeichen extremer einseitiger Abhängigkeit möglich war. Denn Felice war nicht nur eine gesuchte Jüdin, der kaum noch Mittel des Entkommens zur Verfügung standen, auch lesbische Beziehungen wurden damals verfolgt und bestraft: "Blutschande" und "abartige sexuelle Praktiken" nannte man das.

"Jaguar war während dieser fulminanten 'Liebe' stets und jederzeit erpreßbar." Ihre "Liaison jedenfalls ist zu keinem Zeitpunkt frei vom Element der ... Prostitution" (Frankfurter Rundschau, 12.2.1999). Während Regisseur Max Färberböck mit künstlerischer Pedanterie bei den Kulissen und Requisiten die "authentische" Detailgenauigkeit sucht, entfernt er zugleich aus der eigentlichen Geschichte jede Verbindung zu den historischen Koordinaten der realen Situation, entnimmt ihr nur die Startmarken für das Ziehen der "psychologischen Register".

Nüchterner formuliert: Der Film verfälscht seine historische Vorlage mit dem Ergebnis (also dem Ziel), daß Lilly, die NS-Frau, besser erscheint als sie war, und legt die Erkenntnis nahe, daß die Täter ebensoviel gelitten haben wie die Opfer. Aber die unter dem Banner von "Wahrheit" und "Authentizität" antretende Bearbeitung von Geschichte(n) für die Kino-Vermarktung ist nicht nur ein Problem dieses Films oder dieses Regisseurs, sie ist alltägliche Banalität bei der fiktionalen Gestaltung von Liebestragödien im Melodram, die zum Erweis ihrer transzendenten Größe den Abstand zur alltäglichen Welt halten müssen. Sie brauchen vielmehr die existentiellen Krisen ("Ich bin Jüdin" oder: "Ich habe AIDS"), um ihre reine Lichtdimension entfalten zu können. Klassische Darstellungen führen uns durch eine Liebesgeschichte in die Lebens- und Bewußtseinsverhältnisse der Geschichte hinein, Kinomärchen nutzen sie aus, relativieren und verfälschen sie, befreien uns von der Erinnerung an sie. Nun also vom Holocaust. Macht das Schule, d.h. wird ein Genre daraus, dann gerät auch er unter die alleinige Verantwortung der Set-Designer.

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