Ausgabe Oktober 1999

Wen interessiert schon Osttimor

Osttimor, die Vereinten Nationen und die Internationale Staatengemeinschaft

Wenn man einmal von ein paar Zeitungskommentaren absieht, deren Ton infolge ihrer selbstbewußten Folgenlosigkeit ziemlich schrill sein konnte und die zu friedenspolitischen Einsätzen aufriefen, herrscht in bezug auf Osttimor in den Ländern, deren Führungen sie gerne als Teil der Internationalen Staatengemeinschaft betrachtet sehen wollen, ein Gemisch aus Ratlosigkeit, Fatalismus und ein ganz klein wenig verhohlene Erleichterung. Hier hat sich, was jeder, der die politische Konstellation kühl genug analysiert, voraussehen konnte, wieder einmal eine politisch induzierte und militärisch-gewaltsam inszenierte Tragödie von ungeheuren Ausmaßen abgespielt, so als sollte uns auch noch ganz am Ende des 20. Jahrhunderts einmal mehr deutlich gemacht werden, was für ein Säculum des Terrors und der Massenvertreibung das war, das bald hinter uns liegen wird. Ohne daß das kommende wesentlich anders zu werden verspricht. Es gibt zwei unterschiedliche und in den entscheidenden Punkten leider eben nicht in Einklang zu bringende Lesarten des OsttimorKonflikts. Die erste ist interessenbezogen oder realpolitisch, und sie ist in allen öffentlichen Äußerungen von Politikern, Journalisten, Politologen usw. recht unpopulär. Zugleich wird sie doch immer als erstes benutzt, wenn es um die Analyse von Vorgängen internationaler Politik geht.

Realpolitische Perspektive

In dieser Lesart besitzt der Konflikt in Osttimor, ursprünglich einmal post-kolonial, deshalb soviel Sprengkraft, weil die Herrschaftsordnung Indonesiens trotz aller militärischen Gewalt zu ihrer Aufrechterhaltung überaus fragil ist. Sie könnte, ohnehin in letzter Zeit in politische und wirtschaftliche Turbulenzen geraten, durch den Erfolg der Unabhängigkeitskampagne Osttimors weiter destabilisiert werden. An dieser Entwicklung haben aber nicht nur die zivilen und uniformierten Herrscher in Jakarta kein Interesse, und wer wollte es ihnen verdenken, sondern ebensowenig die anderen asiatischen Mächte der Region inklusive China, das sich ja sein eigenes Osttimor lieber heute als morgen einverleiben möchte. Auch die USA und die Staaten Europas, einschließlich Deutschland, zeigen sich daran wenig interessiert, denn ein fragmentiertes Indonesien wäre ein unsicherer Raum. Und wenn ein diktatorisches Indonesien auch kein ganz und gar sicherer Raum ist, alle würden ein stabiles demokratisches Indonesien vorziehen, so garantieren starke Ordnungskräfte doch immerhin ein ausreichendes Maß davon. "Sichere Räume" aber, definiert unter den Gesichtspunkten der militärischen Ruhe, der Verläßlichkeit des Rechts und der Konturen von oder wenigstens ansatzweise vorhandenen Aussichten auf Massenwohlstand, werden für die Abwicklung des Wirtschaftsverkehrs benötigt, regional und global. Es ist nun einmal eine der Hauptfunktionen der politischen Systeme dieser Länder in der internationalen Politik, für solch sichere Räume zum Zwecke der Aufrechterhaltung und Intensivierung des Wirtschaftsverkehrs zu sorgen. Gewiß gibt es ein paar Staaten, deren Führungen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Mehrheit in Osttimor unterstützen, Portugal etwa (seinerzeit als Kolonialmacht auch nicht gerade ein Champion der Menschenrechte) oder Australien und Neuseeland. Wie stark dieses Interesse an der Unterstützung der Unabhängigkeit auch sein mag, es ist nicht stark genug, um wegen Osttimor einen Krieg mit der indonesischen Zentralregierung zu riskieren. Soweit die realistische Analyse, die noch weiter verfeinert werden kann, ohne freilich zu anderen Ergebnissen zu kommen: An der Unabhängigkeit Osttimors sind nur diejenigen stark interessiert, die sich dort von der indonesischen Herrschaft befreien wollen, niemand sonst. Das kann doch aber nicht die ganze Wahrheit sein! Ist es auch nicht, aber die halbe, nicht mehr und nicht weniger.

Menschenrechtsperspektive

Die andere Hälfte ergibt sich aus der zweiten Lesart. Die hebt nicht auf politische Interessen, sondern auf Menschenrechte ab. Sie ist in der öffentlichen Debatte westlicher Länder über Vorgänge der internationalen Politik überaus populär, aber nicht, weil diese moralischen Ziele um ihrer selbst willen wirklich einen zentralen Platz im außenpolitischen Prioritätenkatalog dieser Länder inne hätten. Sondern weil es in den Gesellschaften dieser Länder Gruppen und Organisationen gibt, die die Verwirklichung solcher moralischen Ziele zu ihren politischen Interessen gemacht haben und deshalb mit mehr oder weniger realpolitischem Geschick auf die Regierungen und auf die Öffentlichkeit ihrer Länder Einfluß nehmen, um erstere zu einer menschenrechtsgemäßen Außenpolitik zu bewegen und letztere dazu, sie darin zu unterstützen. Wenn Regierungen westlicher Länder irgendwo in der Welt, in China oder Nigeria, in Mexiko oder eben Indonesien auf die Einhaltung von Menschenrechten drängen, dann tun sie das aus innenpolitischen Gründen und keinen anderen.

Ach, die UNO

Und dann gibt es noch die Vereinten Nationen. Das ist eine merkwürdige Konstruktion: eine zwischenstaatliche Organisation globalen Charakters, in sich auf unübersichtliche, aber letztlich dann doch klar identifizierbare Weise hierarchisiert, mit Ansätzen einer teils in bürokratische Byzantinismen, teils in (welt-)zukunftsbezogene Projekte einfließenden Dynamik. Daß die UNO nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in ihrer Handlungsfähigkeit einen Quantensprung durchleben würde, war eine falsche Prognose und eine Illusion, der sich viele ansonsten ganz kaltschnäuzige politische Beobachter anheim gaben. Die Globalisierung und ihre militärischen und kommunikationstechnischen Aspekte schwächten nämlich die Staatenwelt nicht entscheidend, und ihre wirtschaftlichen Aspekte nur partiell. Die UNO ist aber nur handlungsfähig, wenn sie entweder von einer unwiderstehlichen Staatenkoalition dominiert wird oder wenn alle Staaten so schwach sind, daß sie keine Einwände gegen Eigeninitiativen der UNO haben. Beides liegt nicht vor. Also hat die UNO in Somalia und in den verschiedenen JugoslawienKonflikten nur wenig bewirkt, im Kosovo-Konflikt gar nichts. In Osttimor ist die UNO vorgeprescht, als sie auf die Durchführung des Referendums drängte, denn erstens dessen Resultat und zweitens die Reaktion der Proxy-Banden des indonesischen Militärs auf dieses Ergebnis waren im vorhinein kalkulierbar. So gesehen hat die UNO unverantwortlich gehandelt, nämlich auf Kosten der nun getöteten, vertriebenen, um ihr Eigentum gebrachten Anhänger der Unabhängigkeit Osttimors.

Beim Ablauf der Ereignisse in Osttimor spielt der Faktor Zeit eine Hauptrolle. Wenn jetzt Ende September wirklich eine UNOFriedensmission in Osttimor zustande kommt, wird es eine Art Friedhofsmission sein. Die indonesischen Akteure, Präsident und Verteidigungsminister sowie die Opposition, haben ein nicht ganz leicht durchschaubares Spiel gespielt, um Zeit zu gewinnen, Zeit, in der den Osttimoresen von dem Milizen-Mob die Rechnung präsentiert wurde. Ihrerseits hat die Internationale Staatengemeinschaft, um ein weiteres Mal diesen pompösen Begriff zu verwenden, diese Zeit gebraucht, um sich darüber klar zu werden, daß Osttimor nicht Kosovo ist und daß man diesen Fall besser nicht dazu verwendet, um das Völkerrecht in Richtung auf die Zulassung von Interventionen aus humanitären Gründen weiterzuentwickeln. Und als Indonesien schließlich sein Einverständnis zur Entsendung einer internationalen UNO-Friedenstruppe signalisierte (mit dem zwischenzeitlichen Versuch, Australien, Neuseeland und Portugal als Entsendestaaten auszuschließen), haben die Außenminister der EU noch rasch ein Waffenembargo gegen Indonesien verhängt. Für vier Monate soll die Lieferung von Waffen, Munition und militärischer Ausrüstung ausgesetzt, soll jegliche militärische Zusammenarbeit mit dem Regime sistiert werden. So also kriegt man, für eine sicherheitshalber ziemlich beschränkte Zeit, die beiden Perspektiven zusammen. Realpolitisch ist das Kind, die Unabhängigkeit Osttimors, erst einmal in den Brunnen gefallen, und menschenrechtspolitisch werden wir nun darauf dringen, daß das nicht hätte geschehen dürfen. Es wird humanitäre Hilfe geben. Es wird möglicherweise sogar Tribunale geben, um diejenigen anzuklagen, wenn man sie denn finden kann, die für den Terror in Osttimor verantwortlich sind. Das entscheidende Datum für die internationale Politik ist aber, ob Indonesien sich durch die Ereignisse in Osttimor weiter destabilisiert hat oder nicht. So, wie es aussieht, bleibt es kurzund mittelfristig ein einigermaßen "sicherer Raum".

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