Ausgabe Oktober 2000

Labor Hessen

Über vierzig Jahre lang - bis 1987 - waren Landtagswahlen in Hessen langweilig: die SPD gewann ja sowieso. Inzwischen ist das anders geworden. Das Land präsentiert immer wieder einmal Überraschungssieger. Der Aufstieg Walter Wallmanns erst zum Oberbürgermeister von Frankfurt 1977, dann zum Hessischen Ministerpräsidenten 1987 erstaunte alle, die ihn bis dahin nur als provinziellen Pitbull kannten. Dem blassen Hans Eichel wollte 1991 kaum jemand etwas zutrauen. Und Roland Koch hatte 1999 vor dem Wahltag nicht nur Abscheu und Zustimmung geerntet, sondern auch schon Mitleid für den sicheren Verlierer, als er, in einem Anorak steckend wie der letzte Demonstrant, seine Waschkörbe mit Unterschriften gegen die doppelte Staatsbürgerschaft präsentierte. Die neue Wechselhaftigkeit in der Politik eines Landes, das für die SPD früher eine ähnlich sichere Sache war wie heute Nordrhein-Westfalen (und Bayern für die CSU), mag Ausdruck eines wirtschaftlichen Strukturwandels sein (man weiß das nie so genau).

Das Rhein-Main-Gebiet ist seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein herausragender Standort für die Chemie- und Auto-Industrie. Aber nicht mehr die Arbeiterschaft dieser Branchen dominiert die politische Kultur, sondern es sind die Dienstleister rund um den ständig wachsenden Flughafen, die Börsianer und die Frankfurter Banker.

Sie haben etwa 12% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 88% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Patriotische Zivilgesellschaft: Das Vorfeld der AfD

von Sebastian Beer

Alice Weidel war genervt von der Geräuschkulisse während ihres Sommerinterviews Ende Juli in der ARD. Um das Gespräch mit der AfD-Vorsitzenden zu stören, hatten sich Aktivist:innen des Künstlerkollektivs Zentrum für Politische Schönheit unweit des TV-Studios versammelt und Musik abgespielt.

Ernst, aber nicht hoffnungslos

von Thorben Albrecht, Christian Krell

Spätestens seit Ralf Dahrendorfs berühmt gewordener These vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ gehören SPD-Niedergangsprognosen zu den Klassikern der parteibezogenen Publizistik. Die Partei hat diese Prognose bisher um 42 Jahre überlebt. Aber das konstituiert keine Ewigkeitsgarantie.