Ausgabe Dezember 2001

Die Aufforderung der Bunderegierung ist falsch.

Gutachten des Völkerrechtlers Prof. Dr. Norman Paech zum Antrag der Bunderegierung vom 7. November 2001 (Auszüge)

Die Bundesregierung stützt ihren Antrag auf Einsatz bewaffneter Streitkräfte sowohl auf das Selbstverteidigungsrecht gem. Art. 51 UN-Charta als auf eine Ermächtigung durch den Sicherheitsrat, die sie in den beiden Resolutionen zu erkennen glaubt. Ferner bezieht sie sich auf die Beistandsverpflichtung des Art. 5 NATO-Vertrag als Bündnispartner der USA (Antrag Punkte 1, 2 und 3) [...]

Die USA haben sich zunächst um eine Ermächtigung für ein militärisches Vorgehen gegen Bin Laden und die Taliban durch den UN-Sicherheitsrat bemüht. Bereits einen Tag nach dem Terroranschlag verabschiedete der Sicherheitsrat seine Resolution 1368 (2001), in der er die „entsetzlichen Anschläge in strengster Weise“ verurteilte und den Anschlag „wie jeden anderen Akt internationalen Terrorismus, als eine Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ betrachtete. Dieses ist die gebräuchliche Formel nach Art. 39 UN-Charta, mit der sich der Sicherheitsrat die weiteren Schritte für politische, ökonomische und militärische Sanktionen nach Art. 41 und 42 UN-Charta eröffnet. [...]

Der Wortlaut dieser Resolution zeigt eindeutig, dass die USA ihr Ziel, eine Ermächtigung für militärische Reaktionen auf den Terroranschlag zu erhalten, nicht erreichen konnten. Vielmehr deutet der Sicherheitsrat an, dass er die Gerichte für die geeigneten Mittel ansieht, die Täter, ihrer Organisationen und Unterstützer zur Verantwortung zu ziehen. Dies wird durch die Erwähnung der Anti-Terror-Konvention bestätigt. Es handelt sich um die „International Convention for the Suppression of the Financing of Terrorism“, die von der UN-Generalversammlung am 9. Dezember 1999 mit der Resolution 54/169 verabschiedet wurde. [...]

Die Auffassung der Bundesregierung in Punkt 3 ihres Antrags, dass „nach der Resolution 1368 (2001) alle erforderlichen Schritte zu unternehmen“ seien, also auch militärische, ist falsch. Der Sicherheitsrat hat „seine Bereitschaft“ erklärt, „alle notwendigen Schritte zu unter- nehmen, um auf die Terroranschläge zu reagieren...“ Er hat sich damit die Auswahl der erforderlichen Schritte vorbehalten und beansprucht hier seine alleinige Kompetenz für Maßnahmen nach Art. 41 und 42 UN-Charta. Er hat den Staaten keine Blankovollmacht gegeben.

Die Resolution 1373 (2001) vom 28. September des UN-Sicherheitsrats

Kurze Zeit später versuchten die USA erneut, eine Ermächtigung durch den Sicherheitsrat zu erhalten. Die daraufhin am 28. September verabschiedete Resolution enthält jedoch genauso wenig die erwünschte Ermächtigung. Sie bestätigt noch einmal die vorangegangene Resolution und bezieht sich in ihren weiteren Forderungen an die Staaten allerdings jetzt ausdrücklich auf das VII. Kapitel der UN-Charta, welches ihr verbindliche Sanktionen und Maßnahmen ermöglicht. [...]

Schließlich richtet der Sicherheitsrat mit der Resolution ein spezielles Komitee ein, welches aus allen Mitgliedern des Sicherheitsrats besteht, um die Umsetzung der Resolution zu kontrollieren und fordert alle Staaten auf, binnen 90 Tagen dem Komitee über ihre Maßnahmen zu berichten. Der Sicherheitsrat schließt die Resolution mit der Versicherung, alle notwendigen Schritte zu unternehmen, die Umsetzung der Maßnahmen zu garantieren, und der Absicht, „weiter mit der Sache befasst“ zu sein.

Auch aus dem Wortlaut dieser Resolution geht zweifelsfrei hervor, dass der Sicherheitsrat die Bekämpfung des Terrorismus mit anderen Mitteln als militärischen unternehmen will und dass er keine Ermächtigung zu einer militärischen Reaktion irgendeines einzelnen Staates gegeben hat. [...]

Eine derart schwerwiegende Entscheidung wie die Ermächtigung zu einem militärischen Angriff bedarf einer deutlichen und unmissverständlichen Erklärung. Beide Resolutionen sind hingegen unmissverständlich nicht als Ermächtigung zu werten.

Presseerklärung des Präsidenten des UN-Sicherheitsrats vom 8. Oktober 2001

Die Bundesregierung bezieht sich zur Stützung ihrer Meinung auch auf die Presseerklärung des Präsidenten des UN-Sicherheitsrats, Richard Ryan (Irland), mit der er zu der Unterrichtung durch die USA und Großbritannien über den Beginn ihrer Bombardierungen am 4. Oktober Stellung nimmt (Press Release AFG/152 SC/7167). Diese Erklärung ist auch in der Öffentlichkeit immer wieder als ein Zeichen der Zustimmung und der nachträglichen Ermächtigung gewertet worden. Das ist falsch, der Wortlaut der Erklärung gibt eine solche Interpretation nicht her. [...]

[...] Beruft sich ein Staat auf Art. 51, so ist es nach der UN-Charta nicht Sache des Sicherheitsrats, dazu Stellung zu nehmen und über die Berechtigung der Selbstverteidigung zu urteilen. Denn das Selbstverteidigungsrecht hängt nicht von einem Entscheid des Sicherheitsrats ab. Der Sicherheitsrat hat sich offensichtlich weder für eine ausdrückliche Zustimmung zum Kriegsgeschehen, was einem Verzicht auf weitere eigene Aktivitäten gleichkäme, noch für ei- ne Verurteilung der Bombardierungen entschieden, was ihm politisch kaum möglich war. Er hat sich mangels anderer Alternativen dem Gang der Dinge gebeugt und eine möglichst unverfängliche, alle Interpretationen offenlassende Erklärung gewählt.

So vage und auch missverständlich sich seine Erklärung bezüglich der Berechtigung zur Selbstverteidigung auch lesen mag, wer aus ihr eine faktische Genehmigung der begonnenen Angriffe folgern will, kann aus ihr auf keinen Fall eine Ermächtigung für die weitere und zukünftige Kriegsführung herauszulesen. Dazu bedarf es auch formal mehr als nur einer Presseerklärung, ohne dass ein Beschluss vorliegt. Und Schweigen ist keine Zustimmung.

Das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung gem. Art. 51 UN-Charta

Diese zweite Ausnahme vom zwingenden Gewaltverbot haben die USA in Anspruch genommen, als klar wurde, dass sie eine Ermächtigung durch den Sicherheitsrat nicht erhalten würden. Es kann als individuelles Verteidigungsrecht von demjenigen Staat in Anspruch genommen werden, der unmittelbar angegriffen worden ist (USA), und als kollektives Recht von denjenigen Staaten (Großbritannien, NATO-Staaten), die dem Angegriffenen zu Hilfe kommen.

Art. 51 UN-Charta hat genaue Voraussetzungen für das Recht normiert, um einem Missbrauch vorzubeugen. Es muss sich um einen bewaffneten Angriff eines Staates handeln, der gegenwärtig ist, und die Verteidigungsmaßnahmen dürfen nur so lange dauern, bis der Sicherheitsrat selbst die erforderlichen Maßnahmen eingeleitet hat. [...]

Schiebt man alle [...] Bedenken beiseite und akzeptiert ein Selbstverteidigungsrecht, so begrenzt Art. 51 UN-Charta die Dauer dieses Rechts ausdrücklich auf die Zeit, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. In seiner Resolution vom 12. September hatte der Sicherheitsrat zunächst lediglich angekündigt, dass er alle notwendigen Schritte zur Beantwortung der Terroranschläge vom 11. September unternehmen und alle Formen des Terrorismus bekämpfen werde. Derartige Schritte hat der Sicherheitsrat dann in seiner Sitzung vom 28. September mit der Resolution 1373 beschlossen und konkrete Maßnahmen gegen die finanzielle Basis und logistische Unterstützung von Terroristen eingeleitet. Er hat ein Komitee eingerichtet und mit der Überwachung der Maßnahmen beauftragt, die auch bereits von einzelnen Staaten eingeleitet worden sind. Schließlich hat er erneut betont, dass er „mit der Angelegenheit“ weiter befasst bleiben wolle.

Damit war zu jener Zeit bereits das Verteidigungsrecht der USA konsumiert und die alleinige Kompetenz für militärische Maßnahmen lag gem. Art. 39 und 42 UN-Charta beim Sicherheitsrat. [...]

Der Bündnisfall gem. Art. 5 Nordatlantikvertrag

Damit entbehrt auch die Erklärung des sog. Bündnisfalles durch die NATO-Vertragsstaaten am 5. Oktober 2001 ihre faktische und rechtliche Grundlage. Art. 5 Nordatlantikvertrag ist eine Ermächtigungs- und Verpflichtungsnorm, die im Falle eines Angriffs auf einen Mitgliedstaat jedem anderen Mitglied die Pflicht auferlegt, zu prüfen, was er zur Abwehr des Angriffs bei- steuern kann. Das können politische, ökonomische oder militärische Maßnahmen sein. Voraussetzung ist jedoch, dass ein Fall der Selbstverteidigung nach Art. 51 UN-Charta vorliegt, den Art. 5 Nordatlantikvertrag nur in seiner kollektiven Verteidigungskomponente für die NATO- Staaten präzisiert. Art. 5 Nordatlantikvertrag ist also keine selbständige Ermächtigungsgrundlage, sondern direkt abhängig von Art. 51 UN-Charta und dem Vorliegen seiner Voraussetzungen. Art. 52 UN-Charta bindet Regionalorganisationen, von denen die NATO eine ist, in ihren Aktivitäten zur Friedenssicherung ausdrücklich an die Ziele und Bestimmungen der Vereinten Nationen. [...]

„Selbstverteidigungsexzess“

Die USA, Großbritannien und die Bundesregierung beanspruchen weiterhin das Recht auf Selbstverteidigung für den aktuellen Kriegseinsatz. Sie nehmen unbeeindruckt von allen völkerrechtlichen Bedenken das ius ad bellum in Anspruch. Unterstellen wir trotz der zahlreichen Bedenken das Recht für die USA und ihre Verbündeten, so befreit sie das jedoch nicht von den weiteren Regeln des Kriegsvölkerrechts, das sog. ius in bello, welches für jeden militärischen Einsatz gilt, sei er völkerrechtlich legitimiert oder auch nicht. Dieses Recht ist vornehmlich in dem I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen von 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte von 1977 zusammengefasst. Das Protokoll konkretisiert den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel, das strikte Verbot der Bedrohung oder des Angriffs auf Zivilisten und zivile Einrichtungen und das Verbot unter- schiedsloser Angriffe. [...]

Als Ergebnis ist festzuhalten: Terroranschläge wie der vom 11. September sind schwere Verbrechen, die durch nationales Strafrecht zu verfolgen und abzuurteilen sind. Zu diesem Zwecke kann jedoch auch nach dem Vorbild der bereits bestehenden internationalen Straftribunale ein eigenes internationales Strafgericht eingerichtet werden. Der Sicherheitsrat hat im vorliegenden Fall den Terroranschlag als eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gem. Art. 39 UN-Charta eingestuft und verschiedene Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus angeordnet. Er hat jedoch keine Ermächtigung zur Ergreifung militärischer Maßnahmen gem. Art. 42 UN-Charta durch die USA und ihre Verbündeten erteilt. Auch in der Presseerklärung vom 8. Oktober 2001 ist keine derartige Ermächtigung enthalten.

Der Angriff auf Afghanistan ist auch nicht durch das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta gerechtfertigt, da weder die Täterschaft Bin Ladens noch die der Taliban hinreichend glaubhaft gemacht worden ist, die „Gegenwärtigkeit“ des Angriffs nach drei bzw. acht Wochen immer zweifelhafter wird und der UN-Sicherheitsrat bereits seit dem 28. September die ihm erforderlich erscheinenden Maßnahmen ergriffen hat. Geht man dennoch von einem Selbstverteidigungsrecht aus, so hat der Krieg inzwischen Formen und Ausmaße angenommen, die nicht nur das im I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen normierte humanitäre Völkerrecht verletzen, sondern auch die Grenzen der Verteidigung weit überschritten haben, sodass eine Berufung auf Art. 51 UN-Charta missbräuchlich ist. Aus diesen Gründen ist auch eine Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Mittel durch Art. 5 Nordatlantikvertrag nicht möglich. [...]

Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen

[...] Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner AWACS-Entscheidung von 1994 den Einsatz deutscher Truppen „out of area“ nach Art. 87 a Abs. 2 i.V. m. 24 Abs.2 GG gebilligt (BVerfGE 90, 286 ff.). Das bedeutet, dass die Bundeswehr über ihren ausschließlichen Einsatz zur Territorialverteidigung (Art. 87 a, 115 a GG) hinaus, in bestimmten Fällen im Rahmen eines „Systems der kollektiven Sicherheit“ auch zu anderen Aufgaben eingesetzt werden darf. Im Rahmen der UNO bedarf es dazu einer ausdrücklichen Ermächtigung durch den Sicherheitsrat, die seiner- zeit auch vorgelegen hat, jetzt aber nicht. Selbst wenn man der äußerst umstrittenen Einordnung der NATO als „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ folgt, bedeutet das nicht, dass der Bundestag für seinen Beschluss sich auf rechtswidrige Beschlüsse der NATO stützen darf. Die fehlende Ermächtigung des Sicherheitsrates kann nicht durch einen Beschluss der NATO (Bündnisfall) ersetzt werden, der selbst gegen die UN-Charta verstößt. [...]

Darüber hinaus gibt es weitere verfassungsrechtliche Bedenken gegen den geplanten Beschluss. Die Bundesregierung fordert eine Kriegsermächtigung für 3 900 Soldaten über 12 Monate in einem Einsatzgebiet, welches den Nahen und Mittleren Osten, Zentralasien und Nord- Ost-Afrika sowie die angrenzenden Seegebiete umfasst. Diese Ermächtigung verlässt völlig den von der Regierung bisher selbst akzeptierten Verteidigungsrahmen und macht deutlich, dass es um Selbstverteidigung gar nicht mehr geht, sondern um ein geostrategisches Ordnungskonzept. Ein zwölfmonatiger Einsatz zwingt den Sicherheitsrat in die Rolle des ohnmächtigen Zuschauers, wie wir es schon im Krieg gegen Jugoslawien erlebt haben. Er erlaubt der Bundesregierung beliebige Einsätze im Dreieck zwischen Tunesien, der Türkei und Indien. Diese territoriale Ausweitung geht über das sog. Bündnisgebiet der NATO weit hinaus und hat mit Art. 6 des Nordatlantikvertrages, in dem das Gebiet bestimmt wird, welches bei einem An- griff die Bündnispflichten nach Art. 5 auslösen kann, nichts mehr zu tun. Die erbetene Ermächtigung ist viel zu unbestimmt, ein Blankoscheck für unkontrollierbare Kriegsziele und Einsatzoptionen, die einer unzulässigen Generalermächtigung an die Bundesregierung gleichkommt.

Völlig ungeklärt ist nämlich bis jetzt, ob der Einsatzbeschluss wie die Feststellung des Verteidigungsfalles gem. Art. 115 a GG zu behandeln ist und alle Möglichkeiten der Art. 115 b bis 115 l GG nach sich zieht, von der Erweiterung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes, der Abkürzung des Gesetzgebungsverfahrens bis zur Erweiterung der Befugnisse der Bundesregierung, was wiederum die Befugnisse der parlamentarischen Opposition während der Zeit des Einsatzes stark beschneidet.

Aus all diesen völker- und verfassungsrechtlichen Gründen müsste der Antrag der Bundesregierung abgelehnt werden.

 

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