Ausgabe November 2003

Ein Land sieht schwarz

Was für ein Herbst im politischen Deutschland. Die Bayern-Wahl war gerade geschlagen, die Ruhe vor dem Sturm also beendet, schon nahm dieser orkanartige Stärke an. Ein wahrer Reformfuror schüttelt die Republik.

Kaum hatte der Kanzler seine achte Rücktrittsdrohung ultimativ mit dem Erfolg der Agenda 2010 verknüpft und sich Angela Merkel als die Brutalstmögliche aller Reformer geoutet, brach eine Woge der Begeisterung los, schien ein ganzes Land in Verzückung zu geraten, um genau zu sein: seine bürgerliche Medienöffentlichkeit. Von FAZ bis SZ wird jubiliert: Der lang ersehnte Ruck ist da. Allenthalben raunt es "Herbst der Entscheidung". Die Zeit sei reif. Eine Hamburger Wochenzeitung gleichen Namens nimmt dies ganz wörtlich und statuiert voller Euphorie: "Deutschland ist auf dem Weg in eine andere Republik". Längst ist nicht mehr von bloßer Reform die Rede, sondern die Systeme selber - Rente, Gesundheit und Soziales - stehen zur Disposition; und plötzlich finden sich die erstaunlichsten Notgemeinschaften zusammen. Seehofer, Blüm und Schreiner streiten Seit an Seit für die sozialstaatlichen Errungenschaften der Bonner Republik. In diesem Herbst scheint alles möglich. Ein nahezu einhelliger Wille zur Dezision herrscht in der meinungsmachenden Klasse.

Sie haben etwa 11% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 89% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Dezember 2025

In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

Zur Ausgabe Probeabo