Interview mit dem Philosophen und "Blätter"Mitherausgeber Jürgen Habermas

Bild: Jürgen Habermas, 23.10.2016 (IMAGO / epd)
In diesem Februar jährt sich der Todestag Immanuel Kants zum 200. Mal. Für die amerikanischen "Neokonservativen", die starken Einfluss auf die Bush- Administration ausüben, firmiert Kant als der idealistische Urvater eines europäischen Paradieses vom Ewigen Frieden, das jedoch stets von der Hobbesianischen Machtpolitik der amerikanischen Supermacht profitiere. Diese müsse sich, wenn nötig, auch über das Völkerrecht hinwegsetzen (vgl. Robert Kagan, Macht und Schwäche. Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinander treibt, "Blätter", 10/2002). Im folgenden Interview hält Jürgen Habermas dieser Dichotomie von Realismus und Idealismus das Kantische Projekt einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts als "Idealismus ohne Illusion" entgegen. Knapp ein Jahr nach den Massendemonstrationen vom 15. Februar 2003 gegen den kommenden Irakkrieg, für Habermas damals mögliche "Geburt einer europäischen Öffentlichkeit", bilanziert er die weitere Entwicklung und verteidigt seine Alternative einer "Weltinnenpolitik ohne Weltregierung".
Wir schließen damit an die Reihe von Stellungnahmen des "Blätter"-Mitherausgebers an, die kurz nach den Anschlägen in New York begann (Fundamentalismus und Terror. Antworten auf Fragen zum 11. September 2001, "Blätter", 2/2002) und mit der Diskussion um die Kerneuropa-Initiative von Jürgen Habermas und Jacques Derrida fortgeführt wurde (Europäische Identität und universalistisches Handeln. Nachfragen an Jürgen Habermas, "Blätter", 7/2003; Fusion oder Spaltung? Die Kerneuropa-Initiative in der Debatte, "Blätter", 8/2003).
Die Fragen an Jürgen Habermas stellte Eduardo Mendieta. Er ist Professor an der State University of New York in Stoney Broke und Spezialist für deutsche Philosophie des 20. Jahrhunderts. – D. Red.
Eduardo Mendieta: Sie waren gegenüber dem von den USA geführten Krieg in Afghanistan und Irak sehr kritisch. Aber während der Krise im Kosovo haben Sie den gleichen Unilateralismus unterstützt und eine Form des "militärischen Humanismus", um Chomskys Ausdruck zu gebrauchen, gerechtfertigt. Wie unterscheiden sich diese Fälle – Irak und Afghanistan auf der einen, Kosovo auf der anderen Seite?
Jürgen Habermas: Zur Intervention in Afghanistan habe ich mich im Interview mit Giovanna Borradori1 zurückhaltend geäußert: Nach dem 11. Sep- tember weigerte sich die Taliban-Regierung, dem Terrorismus von Al Qaida die Unterstützung unzweideutig aufzukündigen. Bisher ist das Völkerrecht auf solche Situationen nicht zugeschnitten. Die Einwände, die ich damals hatte, waren aber nicht, wie im Falle des Irakfeldzuges, rechtlicher Natur. Ganz abgesehen von den inzwischen aufgeflogenen Lügenmanövern der gegenwärtigen US-Regierung war der letzte Golfkrieg ein offensichtlicher, seit September 2002 von Bush gegenüber den Vereinten Nationen sogar öffentlich angedrohter Bruch des Völkerrechts. Keiner der beiden Tatbestände, die eine solche Intervention hätten rechtfertigen können, lag vor: weder eine entsprechende Resolution des Sicherheitsrates noch ein unmittelbar bevorstehender Angriff von Seiten des Irak. Das galt ganz unabhängig davon, ob man im Irak Massenvernichtungswaffen doch noch finden würde oder nicht. Für einen vorbeugenden Angriff gibt es keine nachträgliche Rechtfertigung: Niemand darf Kriege auf Verdacht führen.
Hier sehen Sie den Unterschied zur Situation im Kosovo, als der Westen nach den im Bosnienkrieg gesammelten Erfahrungen – denken Sie an das Desaster von Srebrenica! – entscheiden musste, ob er einer weiteren ethnischen Säuberung von Miloševic zusehen oder – ohne erkennbar eigene Interessen – eingreifen wollte. Gewiss, der Sicherheitsrat war blockiert. Immerhin gab es zwei legitimierende Gründe, einen formellen und einen informellen, auch wenn diese Gründe die von der UN-Charta zwingend vorgesehene Zustimmung des Sicherheitsrates nicht ersetzen konnten: Zum einen konnte man sich auf das erga omnes – an alle Staaten gerichtete – Gebot der Nothilfe im Falle eines drohenden Genozids berufen, das immerhin ein fester Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts ist. Zum anderen kann auch der Umstand in die Waagschale geworden werden, dass die NATO ein Bündnis von liberalen Staaten darstellt, die in ihrem inneren Aufbau den Prinzipien der UN-Menschenrechtserklärung Rechnung tragen. Vergleichen Sie das mit der "Koalition der Willigen", die den Westen gespalten hat und menschenrechtsverachtende Staaten wie Usbekistan und Taylors Liberia umfasste.
Ebensowichtig ist die Perspektive, aus der damals kontinental-europäische Länder wie Frankreich, Italien und Deutschland ihre Beteiligung an der Kosovo-Intervention gerechtfertigt haben. In Erwartung der nachträglichen Billigung durch den Sicherheitsrat haben sie diese Intervention als "Vorgriff" auf ein effektives Weltbürgerrecht verstanden – als einen Schritt auf dem Wege vom klassischen Völkerrecht zu jenem, von Kant anvisierten "weltbürgerlichen Zustand", der Bürgern auch gegen die eigene kriminelle Regierung Rechtschutz gewähren wird. Ich habe damals schon (am 29. April 1999 in einem Artikel für "Die Zeit") einen charakteristischen Unterschied zwischen Kontinentaleuropäern und Angelsachsen festgestellt: "Eine Sache ist es, wenn die USA in den Spuren einer wie auch immer bewundernswerten politischen Tradition die menschenrechtlich instrumentierte Rolle des hegemonialen Ordnungsgaranten spielen. Eine andere Sache ist es, wenn wir den prekären Übergang von der klassischen Machtpolitik zu einem weltbürgerlichen Zustand [...] als gemeinsam zu bewältigenden Lernprozess verstehen. Die weiter ausgreifende Perspektive mahnt auch zu größerer Vorsicht. Die Selbstermächtigung der NATO darf nicht zum Regelfall werden."
"Der 15. Februar 2003"
Mendieta: Am 31. Mai haben Sie und Derrida eine Art Manifest veröffentlicht mit dem Titel: "Der 15. Februar oder: Was die Europäer verbindet. – Plädoyer für eine gemeinsame Außenpolitik – zunächst in Kerneuropa." In einem Vorwort erklärt Derrida, dass er den von Ihnen verfassten Artikel unterzeichnet. Wie kommt es, dass sich zwei Geistesgrößen, die einander während der letzten beiden Jahrzehnte über den Rhein hinweg misstrauisch betrachtet haben – und die, wie manche behaupten, aneinander vorbei geredet haben – plötzlich dazu verstehen, ein so bedeutendes Dokument gemeinsam zu veröffentlichen? Ist das einfach "Politik" oder ist der gemeinsam unterzeichnete Text auch eine "philosophische Geste"? Eine Begnadigung, ein Waffenstillstand, eine Versöhnung, ein philosophisches Geschenk?
Habermas: Ich habe keine Ahnung, wie Derrida auf die Frage antworten würde. Für meinen Geschmack hängen Sie mit solchen Formulierungen die Sache zu hoch. Zunächst geht es natürlich um eine politische Stellungnahme, in der Derrida und ich – wie übrigens oft in den letzten Jahren – übereinstimmen. Nach der formellen Beendigung des Irakkrieges, als viele einen Kniefall der "unwilligen" Regierungen vor Bush befürchteten, hatte ich Derrida – wie auch Eco, Muschg, Rorty, Savater und Vattimo – zu einer gemeinsamen Initiative brieflich eingeladen. (Paul Ricoeur war der einzige, der sich aus politischen Erwägungen lieber zurück hielt, Eric Hobsbawm und Harry Mulisch konnten sich aus persönlichen Gründen nicht beteiligen.) Auch Derrida konnte keinen eigenen Artikel schreiben, weil er sich zu dieser Zeit beunruhigenden medizinischen Untersuchungen unterziehen musste. Aber Derrida wollte gerne dabei sein und schlug mir das Verfahren vor, nach dem wir dann auch vorgegangen sind. Ich war froh darüber. Wir hatten uns das letzte Mal nach dem 11. September in New York getroffen. Das philosophische Gespräch hatten wir schon seit einigen Jahren wieder aufgenommen – in Evanston, in Paris und in Frankfurt. So bedurfte es jetzt keiner großen Gesten.
Aus Anlass des Adorno-Preises hat Derrida seinerzeit in der Frankfurter Paulskirche eine hoch sensible Rede gehalten, die die Verwandtschaft der Geistesart zwischen den beiden eindrucksvoll manifestierte. So etwas lässt einen nicht unberührt. Über alles Politische hinaus verbindet übrigens mich mit Derrida die philosophische Bezugnahme auf einen Autor wie Kant. Allerdings trennt uns – die wir ungefähr gleichaltrig sind, aber einen sehr verschiedenen lebensgeschichtlichen Hintergrund haben – der späte Heidegger. Derrida eignet sich dessen Gedanken aus der jüdisch inspirierten Sicht eines Levinas an. Mir begegnet Heidegger als ein Philosoph, der als Bürger versagt hat – 1933 und vor allem nach 1945. Aber auch als Philosoph ist er mir suspekt, weil er in den 30er Jahren Nietzsche genau als den Neuheiden rezipierte, als der er damals en vogue war. Anders als Derrida, der dem "Andenken" eine Lesart aus dem Geist der monotheistischen Tradition verleiht, halte ich Heideggers vermurkstes "Seinsdenken" für eine Einebnung jener epochalen bewusstseinsgeschichtlichen Schwelle, die Jaspers die Achsenzeit genannt hat. Nach meinem Verständnis übt Heidegger Verrat an jener Zäsur, die in verschiedener Weise durch die prophetisch-aufrüttelnden Worte vom Berge Sinai wie durch die philosophische Aufklärung eines Sokrates gekennzeichnet ist.
Wenn Derrida und ich gegenseitig unseren je verschiedenen Motivationshintergrund verstehen, muss eine Differenz der Lesarten keine Differenz in der Sache bedeuten. Wie dem auch sei, "Waffenstillstand" oder "Versöhnung" sind wohl nicht die richtigen Ausdrücke für einen freundlich-aufgeschlossenen Umgang miteinander.
Mendieta: Warum haben Sie jenem Aufsatz den Titel "Der 15. Februar" gegeben und nicht, wie einige Amerikaner vorschlagen würden, "Der 9. September" oder "Der 9. April". War der 15. Februar die weltgeschichtliche Antwort auf den 9. September – an Stelle der Kampagnen gegen die Taliban und Saddam Hussein?
Habermas: Das ist eine Nummer zu groß. Die Redaktion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" hat übrigens den Artikel unter der Überschrift "Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas" publiziert – vielleicht wollte sie die Bedeutung der Demonstrationen vom 15. Februar herunter spielen. Der Hinweis auf dieses Datum sollte an die größten Demonstrationen erinnern, die in Städten wie London, Madrid und Barcelona, Rom, Berlin und Paris jemals seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stattgefunden hatten. Diese Demonstrationen waren keine Antwort auf den Anschlag vom 11. September, der gerade die Europäer sofort zu eindrucksvollen Solidaritätskundgebungen bewegt hat. Sie brachten vielmehr die wütend-ohnmächtige Empörung einer sehr gemischten Menge von Bürgern zum Ausdruck, von denen viele bis dahin noch nie auf die Straße gegangen waren. Der Appell von Kriegsgegnern richtete sich unmissverständlich gegen die verlogene und völkerrechtswidrige Politik der eigenen wie der verbündeten Regierungen. Ich halte diesen massenhaften Protest für genauso wenig "antiamerikanisch" wie seinerzeit unseren Vietnamprotest – mit dem traurigen Unterschied, dass wir uns zwischen 1965 und 1970 den eindruckvollen Protesten in Amerika selbst nur anzuschließen brauchten. Deshalb war ich auch froh, dass sich mein Freund Richard Rorty spontan an der Intellektuellen-Initiative vom 31. Mai mit einem Artikel, der übrigens politisch und gedanklich der schärfste war, beteiligt hat.
Mendieta: Bleiben wir bei dem ursprünglichen Titel, der zu einer gemeinsamen europäische Außenpolitik "zunächst in Kerneuropa" aufruft. Er legt nahe, dass es ein Zentrum und eine Peripherie gibt – solche, die unersetzlich sind, und solche, die es nicht sind. Für einige war dieser Ausdruck ein gespenstisches Echo von Rumsfelds Unterscheidung zwischen dem Alten und dem Neuen Europa. Ich bin sicher, dass Derrida und Ihnen die Zuschreibung einer solchen Familienähnlichkeit Kopfschmerzen macht. Sie haben Sich ja energisch für eine Verfassung der Europäischen Union eingesetzt, in der solche räumlich-geografischen Abstufungen keinen Platz haben. Was meinen Sie mit "Kerneuropa"?
Kerneuropa – vorangehen heißt nicht ausschließen
Habermas: "Kerneuropa" ist zunächst ein technischer Ausdruck, den die außenpolitischen Experten der CDU Schäuble und Lamers Anfang der 90er Jahre ins Spiel gebracht haben, um zu einem Zeitpunkt, als der europäische Einigungsprozess wieder einmal ins Stocken geraten war, an die Vorreiterrolle der sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft zu erinnern. Damals ging es wie heute darum, Frankreich, die Benelux-Staaten, Italien und Deutschland als die treibende Kraft bei der "Vertiefung" der EU-Institutionen herauszustellen. Inzwischen ist beim Gipfel der EU-Regierungschefs in Nizza die Option einer "verstärkten Zusammenarbeit" einzelner Mitgliedstaaten auf einzelnen Politikfeldern sogar offiziell beschlossen worden. Dieser Mechanismus ist jetzt unter dem Namen einer "strukturierten Zusammenarbeit" in den Entwurf zur Europäischen Verfassung aufgenommen worden. Von dieser Option machen Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Belgien und neuerdings sogar Großbritannien für den gemeinsamen Aufbau von eigenen europäischen Streitkräften Gebrauch. Die US-Administration übt freilich erheblichen Druck auf Großbritannien aus, um die Einrichtung eines europäischen, mit der NATO nur noch assoziierten Hauptquartiers zu verhindern. Insoweit ist also "Kerneuropa" schon eine Realität.
Andererseits ist es heute, in dem von Rumsfeld und Konsorten vorsätzlich gespaltenen und geschwächten Europa natürlich ein Reizwort. Die Idee einer gemeinsamen, von Kerneuropa ausgehenden Außen- und Sicherheitspolitik weckt in einer Situation, in der die Europäische Union nach der Osterweiterung kaum noch regierbar ist, Ängste – vor allem in den Ländern, die sich aus gut nachvollziehbaren historischen Gründen gegen eine weitergehende Integration wehren. Manche Mitgliedstaaten wollen an ihrem nationalen Handlungsspielraum festhalten. Sie sind an dem bestehenden, überwiegend intergouvernementalen Modus der Beschlussfassung eher interessiert als an der Festigung supranationaler Institutionen mit Mehrheitsbeschlüssen auf immer mehr Politikfeldern. So sind die ost-mitteleuropäischen Beitrittsländer um ihre soeben errungene nationale Souveränität besorgt, während Großbritannien um seine special relationship zu den USA fürchtet.
Die amerikanische Spaltungspolitik hat in Aznar und Blair willige Helfer gefunden. Diese Chuzpe traf in Europa auf die seit langem latent bestehende Bruchlinie zwischen den Integrationisten und ihren Gegnern. "Kerneuropa" ist eine Antwort auf beides – auf den schwelenden innereuropäischen Streit über die "Finalität" des Einigungsprozesses, der ganz unabhängig vom Irakkrieg besteht, wie auch auf die aktuelle, von außen kommende Stimulierung dieses Gegensatzes. Die Reaktionen auf das Stichwort "Kerneuropa" sind umso nervöser, je mehr die äußere und die innere Pression zu dieser Antwort einladen. Der hegemoniale Unilateralismus der US-Regierung fordert Europa geradezu heraus, endlich zu lernen, außenpolitisch mit einer Stimme zu sprechen. Aber angesichts der blockierten Vertiefung der Europäischen Union können wir das nur lernen, wenn wir damit erst einmal im Zentrum den Anfang machen.
Frankreich und Deutschland haben im Verlaufe von Jahrzehnten diese Rolle schon öfter übernommen. Vorangehen heißt nicht ausschließen. Die Türen stehen für alle offen. Die harsche Kritik, die vor allem aus Großbritannien und den ostmitteleuropäischen Ländern an unserer Initiative geübt worden ist, erklärt sich natürlich auch aus dem provozierenden Umstand, dass der Vorstoß für eine gemeinsame kerneuropäische Außen- und Sicherheitspolitik zu dem günstigen Zeitpunkt kam, als in ganz Europa die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung eine Beteiligung an Bushs Irakabenteuer abgelehnt hatte. Dieses provokative Element kam mir bei unserer Initiative vom 31. Mai gelegen. Leider hat sich eine fruchtbare Diskussion nicht daraus entwickelt.
Mendieta: Wir wissen natürlich, dass die Vereinigten Staaten auch über ihren Einfluss in der NATO das "Neue" gegen das "Alte" Europa ausgespielt haben. Verbindet sich die Zukunft der Europäischen Union eher mit einer Schwächung oder mit einer Stärkung der NATO? Sollte und könnte die NATO durch etwas anderes ersetzt werden?
Habermas: Die NATO hat während des Kalten Krieges und auch nachher eine gute Rolle gespielt – auch wenn sich ein Alleingang wie im Fall der Kosovo-Intervention nicht wiederholen darf. Allerdings wird die NATO keine Zukunft haben, wenn sie von den Vereinigten Staaten immer weniger als Bündnis mit Konsultativverpflichtungen und immer mehr als Instrument einer einseitigen, von eigenen nationalen Interessen bestimmten Weltmachtpolitik betrachtet wird. Die eigentümliche Stärke der NATO könnte darin bestehen, dass sie sich nicht in der Funktion eines schlagkräftigen Militärbündnisses erschöpft, sondern militärische Schlagkraft mit dem Mehrwert einer doppelten Legitimation verbindet: Eine Existenzberechtigung sehe ich für die NATO nur als ein Bündnis unzweifelhaft liberaler Staaten, das erklärtermaßen nur in Übereinstimmung mit der Menschenrechtspolitik der Vereinten Nationen handelt.
Mendieta: "Amerikaner stammen vom Mars, Europäer von der Venus", behauptet Robert Kagan in einem Essay, der von Seiten der neokonservativen Strauss-Schüler in der Bush-Administration viel Aufmerksamkeit gefunden hat. Man mag diesen Essay, der ursprünglich "Macht und Schwäche" heißen sollte, sogar als das Manifest verstehen, das dann von Bush zur Nationalen Sicherheitsdoktrin ausgearbeitet worden ist. Kagan unterscheidet zwischen Amerikanern und Europäern, indem er die einen "Hobbisten", die anderen "Kantianer" nennt. Sind die Europäer wirklich ins postmoderne Paradies von Kants Ewigem Frieden eingetreten, während die Amerikaner draußen in der Hobbes’schen Welt der Machtpolitik verharren, um auf jenen Festungswällen Wache zu halten, die von ihren europäischen Nutznießern nicht verteidigt werden können?
Habermas: Der philosophische Vergleich trägt nicht weit: Kant war in gewisser Weise selbst ein treuer Schüler von Hobbes; er hat jedenfalls das moderne Zwangsrecht und den Charakter staatlicher Herrschaft nicht weniger nüchtern beschrieben als dieser. Die kurzschlüssig-plakative Verbindung, die Kagan zwischen diesen philosophischen Traditionen auf der einen, nationalen Mentalitäten und Politiken auf der anderen Seite herstellt, sollten wir besser beiseite lassen. In mentalen Unterschieden, die man aus großer Entfernung zwischen Angelsachsen und Kontinentaleuropäern feststellen mag, spiegeln sich langfristige historische Erfahrungen wider; aber ich sehe keinen Zusammenhang mit kurzfristig wechselnden politischen Strategien.
Bei seinem Versuch, die Wölfe von den Schafen zu trennen, bezieht sich Kagan allerdings auf einige Tatsachen: Die Terrorherrschaft der Nazis ist nur durch den Einsatz militärischer Gewalt, und letztlich durch das Eingreifen der USA bezwungen worden. Die Europäer haben während des Kalten Krieges ihre Wohlfahrtsstaaten nur unter dem atomaren Schutzschild der USA aufund ausbauen können. In Europa und insbesondere in dessen bevölkerungsreichster Mitte haben sich pazifistische Gesinnungen ausgebreitet. Einstweilen können die Länder Europas mit ihren vergleichsweise schmalen Militärbudgets und schlecht ausgerüsteten Streitkräften der erdrückenden Militärmacht der USA nur leere Worte entgegensetzen. Freilich reizt mich Kagans karikierende Interpretation dieser Tatsachen zu dem Kommentar:
– dass der Sieg über Nazi-Deutschland auch den verlustreichen Kämpfen der Roten Armee zu danken ist;
– dass Sozialverfassung und wirtschaftliches Gewicht Faktoren einer "weichen", nicht-militärischen Macht sind, die im globalen Kräfteverhältnis den Europäern einen nicht zu unterschätzenden Einfluss sichern;
– dass heute in Deutschland, auch als Folge der amerikanischen reeducation, ein begrüßenswerter Pazifismus vorherrscht, der jedoch die Bundesrepublik nicht davon abgehalten hat, sich an UN-Einsätzen in Bosnien, im Kosovo, in Mazedonien, in Afghanistan und zuletzt am Horn von Afrika zu beteiligen;
– und dass es die USA selbst sind, die die Pläne zum Aufbau einer von der NATO unabhängigen europäischen Streitmacht konterkarieren möchten.
Mit diesem Schlagabtausch begibt man sich allerdings auf das falsche Niveau der Auseinandersetzung. Was ich für ganz falsch halte, ist Kagans einseitige Stilisierung der US-Politik im Laufe des vergangenen Jahrhunderts. Der Kampf zwischen "Realismus" und "Idealismus" in Außen- und Sicherheitspolitik spielte sich doch nicht zwischen den Kontinenten, sondern innerhalb der amerikanischen Politik selber ab. Gewiss hat die bipolare Machtstruktur der Welt zwischen 1945 und 1989 zu einer Politik des Gleichgewichts des Schreckens genötigt. Während des Kalten Krieges bildet die Konkurrenz der beiden nuklear gerüsteten Systeme den Hintergrund für den überragenden Einfluss, den die "realistische" Schule der internationalen Beziehungen in Washington ausüben konnte. Aber darüber dürfen wir nicht den Anstoß vergessen, den Präsident Wilson nach dem Ersten Weltkrieg für die Gründung des Völkerbundes gegeben hat, auch nicht den Einfluss, den amerikanische Juristen und Politiker selbst nach dem Rückzug der US-Regierung vom Völkerbund in Paris gespielt haben. Ohne die USA wäre es zum Briand-Kellog- Pakt, also zur ersten völkerrechtlichen Ächtung von Angriffskriegen nicht gekommen. Vor allem aber passt die noch von Franklin D. Roosevelt eingeleitete Politik des Siegers von 1945 schlecht in das militante Bild, das Kagan von der Rolle der USA malt. Roosevelt fordert in seiner Undelivered Jefferson Day Address vom 11. April 1945 – that the world must seek not only an "end to war", but an "end to the beginning of all wars".
In dieser Periode hat sich die US-Regierung an die Spitze des neuen Internationalismus gesetzt und in San Francisco die Initiative zur Gründung der Vereinten Nationen ergriffen. Die USA waren die treibende Kraft hinter der UNO, die ja nicht zufällig ihren Sitz in New York hat. Sie haben die ersten internationalen Menschenrechtskonventionen auf den Weg gebracht, sie haben sich für die globale Überwachung sowie gerichtliche und militärische Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen eingesetzt, sie haben den Europäern, zunächst gegen den Widerstand der Franzosen, die Idee zu einer politischen Einigung Europas aufgedrängt. Diese Periode eines beispiellosen Internationalismus hat in den folgenden Jahrzehnten eine Welle von völkerrechtlichen Innovationen ausgelöst, die zwar während des Kalten Krieges blockiert waren, aber nach 1989 teilweise zur Anwendung gekommen sind. Zu diesem Zeitpunkt war es noch keineswegs entschieden, ob die übrig gebliebene Supermacht zu ihrer Führungsrolle auf dem Wege zu einer kosmopolitischen Rechtsordnung zurückkehren oder in die imperiale Rolle eines guten Hegemons jenseits des Völkerrechts zurückfallen würde.
George Bush, der Vater des jetzigen Präsidenten, hat andere, freilich nur vage umrissene Weltordnungsvorstellungen als der Sohn gehabt. Das unilaterale Vorgehen der jetzigen Regierung und der Ruf einflussreicher neokonservativer Mitglieder und Berater erinnert gewiss an Vorläufer, an die Ablehnung des Klima-Abkommens, der Vereinbarung über ABC-Waffen, der Landminen-Konvention, des Protokolls zur Vereinbarung über sog. Kinderkrieger usw. Aber Kagan suggeriert eine falsche Kontinuität. Die definitive Abkehr vom Internationalismus blieb der neu gewählten Bush-Regierung vorbehalten: Die Ablehnung des inzwischen eingerichteten Internationalen Strafgerichtshofes war kein Kavaliersdelikt mehr. Man darf aber die offensive Marginalisierung der Vereinten Nationen und die rücksichtslose Missachtung des Völkerrechts, die sich diese Regierung zu Schulden kommen lässt, nicht als konsequenten Ausdruck einer die amerikanische Außenpolitik beherrschenden Konstante darstellen. Diese Regierung, die ihr erklärtes Ziel, nationale Interessen wahrzunehmen, so offensichtlich verfehlt hat, ist abwählbar. Warum sollte sie nicht schon im nächsten Jahr von einer Regierung abgelöst werden, die Kagan Lügen straft?
Mendieta: In den Vereinigten Staaten hat sich der "Krieg gegen den Terrorismus" in einen "Krieg gegen bürgerliche Freiheiten" verkehrt und die rechtliche Infrastruktur, die eine lebendige demokratische Kultur möglich macht, vergiftet. Der Orwell'sche "Patriot Act" ist ein Pyrrhussieg, in dem wir samt unserer Demokratie die Besiegten sind. Hat der "Krieg gegen den Terrorismus" in ähnlicher Weise auch die Europäische Union betroffen? Oder hat die Erfahrung mit dem Terrorismus der 70er Jahre die Europäer gegen eine Preisgabe bürgerlicher Freiheiten an den Sicherheitsstaat immun gemacht?
Habermas: Das glaube ich eigentlich nicht. In der Bundesrepublik waren die Reaktionen im Herbst '77 hysterisch genug. Zudem begegnen wir heute einer anderen Art von Terrorismus. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn die Twin-Towers in Berlin oder Frankfurt eingestürzt wären. Natürlich haben die nach dem 11. September auch bei uns geschnürten "Sicherheitspakete" nicht den erdrosselnden Umfang und das verfassungswidrige Ausmaß wie die erschreckenden Regelungen in Amerika, die mein Freund Ronald Dworkin ja unmissverständlich analysiert und aufgespießt hat. Wenn es in dieser Hinsicht Unterschiede in Mentalität und Praxis diesseits und jenseits des Atlantiks geben sollte, würde ich sie eher im historischen Erfahrungshintergrund suchen. Vielleicht war der sehr verständliche Schock nach dem 11. September in den USA tatsächlich größer als er in einem kriegsgewohnten europäischen Land gewesen wäre – wie soll man das prüfen?
Nicht mehr "mein" Amerika
Sicher hatten die patriotischen Aufwallungen, die dem Schock folgten, einen amerikanischen Charakter. Aber den Schlüssel für die Grundrechtseinschränkungen, die Sie erwähnen – für die Verletzung der Genfer Konvention in Guantanamo, für die Einrichtung des Homeland-Security-Departments usw. – würde ich an anderer Stelle suchen. Die Militarisierung des Lebens nach innen und außen, die bellizistische Politik, die sich von den Methoden des Gegners anstecken lässt und die den Hobbistischen Staat in dem Augenblick auf die Weltbühne zurückbringt, wo die Globalisierung der Märkte das politische Element ganz an den Rand zu drücken schien, das alles wäre von der politisch aufgeklärten amerikanischen Bevölkerung nicht mit überwältigenden Mehrheiten quittiert worden, wenn sich die Regierung den Schock des 11. September nicht mit Druck, schamloser Propaganda und gezielter Verunsicherung zu Nutze gemacht hätte. Für einen europäischen Beobachter und ein gebranntes Kind wie mich war die systematisch betriebene Einschüchterung und Indoktrinierung der Bevölkerung und die Einschränkung des Spektrums zugelassener Meinungen in den Monaten Oktober/November 2002, als ich in Chicago war, irritierend. Das war nicht mehr "mein" Amerika. Mein politisches Denken zehrt nämlich seit meinem 16. Lebensjahr, dank einer vernünftigen reeducation-policy der Besatzung, von den amerikanischen Idealen des späten 18. Jahrhunderts.
Mendieta: In Ihrer Plenarvorlesung beim diesjährigen philosophischen Weltkongress in Istanbul haben Sie gesagt, dass die internationale Sicherheit unter Bedingungen der postnationalen Konstellation von drei Seiten in neuer Weise bedroht wird: vom internationalen Terrorismus, von Seiten krimineller Staaten und von Seiten jener neuen Bürgerkriege, die in zerfallenden Staaten entstehen. Mich interessiert vor allem: Ist Terrorismus etwas, dem demokratische Staaten den Krieg erklären können?
Habermas: Ob demokratisch oder nicht, normalerweise kann ein Staat nur gegen andere Staaten "Krieg" führen, wenn dieses Wort einen präzisen Sinn behalten soll. Wenn eine Regierung beispielsweise gegen Aufständische militärische Gewalt anwendet, erinnert dieses Mittel zwar an Krieg, aber diese Gewalt erfüllt dann eine andere Funktion – der Staat sorgt innerhalb der territorialen Grenzen auch dann noch für Ruhe und Ordnung, wenn die Organe der Polizei dafür nicht mehr ausreichen. Erst wenn dieser Versuch einer gewaltsamen Befriedung misslingt und die Regierung selbst zu einer unter mehreren kämpfenden Parteien herabsinkt, ist von "Bürgerkrieg" die Rede. Diese sprachliche Analogie zum Staatenkrieg stimmt aber nur in einer Hinsicht – mit dem Zerfall der Staatsgewalt entsteht auch zwischen Bürgerkriegsparteien die gegnerische Symmetrie, die zwischen Krieg führenden Staaten der Normalfall ist. Gleichwohl fehlt hier das eigentliche Subjekt von Kriegshandlungen: die zwingende Organisationsmacht eines Staates. Verzeihen Sie diese begriffliche Pedanterie. Aber mit dem internationalen, also weltweit und zerstreut operierenden, weitgehend dezentralisierten und nur locker vernetzten Terrorismus begegnet uns ein neues Phänomen, das wir nicht vorschnell an Bekanntes assimilieren dürfen.
Scharon und Putin können sich durch Bush ermuntert fühlen, weil dieser alles in einen Topf wirft. Als wäre Al Qaida nicht etwas anderes als der territorial gebundene Partisanenkampf terroristischer Unabhängigkeits- oder Widerstandsbewegungen (wie in Nordirland, Palästina, Tschetschenien usw.). Al Qaida ist auch etwas anderes als die terroristischen Banden- und Stammeskriege korrupter Warlords in den Ruinen einer misslungenen Dekolonisierung, auch etwas anderes als die Regierungskriminalität von Staaten, die mit ethnischen Säuberungen und Genoziden gegen ihre eigene Bevölkerung Krieg führen oder die, wie z. B. das Taliban-Regime, den weltweiten Terror unterstützen. Die US-Regierung hat mit dem Irakkrieg den nicht nur illegalen, sondern untauglichen Versuch unternommen, die Asymmetrie zwischen einem technologisch hochgerüsteten Staat und einem ungreifbaren terroristischen Netzwerk, das bisher mit Messern und Sprengstoff arbeitet, durch einen asymmetrischen Krieg zwischen Staaten zu ersetzen. Asymmetrisch sind Staatenkriege, wenn der Sieg eines Angreifers, der nicht auf eine konventionellen Niederlage, sondern auf die Zerstörung eines Regimes abzielt, auf Grund des transparenten Kräfteverhältnisses a priori feststeht. Denken Sie an den monatelangen Truppenaufmarsch an den Grenzen des Irak. Man muss kein Terrorismusexperte sein, um zu erkennen, dass sich auf diesem Wege die Infrastruktur eines Netzwerkes nicht zerstören, die Logistik von Al Qaida und dessen Ablegern nicht treffen, das Milieu, von dem eine solche Gruppe zehrt, nicht austrocknen lässt.
Mendieta: Juristen vertreten nach klassischem Völkerrecht die Auffassung, dass das Jus ad bellum als eine ihm selbst inhärente Beschränkung das Jus in bello nach sich zieht. Schon die detaillierten Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung haben zum Ziel, die im Krieg ausgeübte Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, gegen gefangen genommene Soldaten, gegen die Umwelt und die Infrastruktur der betroffenen Gesellschaft einzuschränken. Die Regeln der Kriegführung sollen auch einen für alle Seiten akzeptablen Friedensschluss ermöglichen. Aber das monströse Missverhältnis im techno- logischen und militärischen Kräfteverhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und ihren jeweiligen Gegnern – in Afghanistan oder im Irak – machen es beinahe unmöglich, sich an das Jus in bello zu halten. Müssten nicht die Vereinigten Staaten wegen der im Irak offensichtlich begangenen, nur bei uns in Amerika vorsätzlich ignorierten Kriegsverbrechen angeklagt und verfolgt werden?
Habermas: Nun, das amerikanische Verteidigungsministerium war ja gerade in dieser Hinsicht schwärmerisch stolz auf den Einsatz der Präzisionswaffen, die es erlaubt haben sollen, die Verluste auf Seiten der Zivilbevölkerung auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau zu halten, das niedriger sei denn je. Wenn ich dann freilich in der Spätausgabe der "New York Times" vom 10. April 2003 einen Bericht über die irakischen Kriegstoten lese und die Regeln erfahre, nach denen Rumsfeld in der Zivilbevölkerung "casualties" in Kauf genommen hat, bietet auch diese angebliche Präzision keinen Trost mehr: "Im Fall geplanter Luftschläge, die voraussichtlich mehr als 30 getötete Zivilisten zur Folge haben könnten, waren die Kommandeure verpflichtet, die Zustimmung von Verteidigungsminister Donald L. Rumsfeld einzuholen. Es wurden über 50 solcher Schläge beantragt und sämtlich genehmigt." Ich weiß nicht, was der internationale Strafgerichtshof im Haag dazu sagen würde. Aber in Anbetracht des Umstandes, dass dieses Gericht von den USA nicht anerkannt wird und dass auch der Sicherheitsrat keine Entscheidung gegen ein Veto-berechtigtes Mitglied treffen kann, muss die ganze Frage wohl anders gestellt werden.
Vorsichtige Schätzungen gehen inzwischen von insgesamt 20000 getöteten Irakern aus. Diese im Vergleich mit den eigenen Verlusten monströse Zahl wirft ein Schlaglicht auf die moralische Obszönität, die wir bei den noch so sorgfältig kontrollierten, wenn nicht gar manipulierten Fernsehbildern aus dem asymmetrischen Kriegsgeschehen empfinden. Diese Asymmetrie der Kräfte würde eine andere Bedeutung annehmen, wenn sich darin nicht Übermacht und Ohnmacht von Kriegsgegnern spiegeln würde, sondern die Polizeigewalt einer Weltorganisation.
Vom Strafkrieg zur Polizeiaktion
Den Vereinten Nationen ist heute schon nach ihrer Charta die Wahrung von Frieden und internationaler Sicherheit sowie die weltweite Durchsetzung des individuellen Menschenrechtsschutzes übertragen. Nehmen wir einmal kontrafaktisch an, die Weltorganisation wäre diesen Aufgaben gewachsen. Dann würde sie ihre Funktionen einzig unter der Bedingung nicht-selektiv erfüllen können, dass sie gegen regelverletzende Aktoren und Staaten über Sanktionen von einschüchternder Überlegenheit verfügt. Damit hätte die Asymmetrie der Kräfte einen anderen Charakter angenommen.
Die unendlich mühsame, immer noch unwahrscheinliche Transformation von eigenwilligen und selektiven Strafkriegen in völkerrechtlich autorisierte Polizeiaktionen erfordert nicht nur ein unparteiliches Gericht, das über hinreichend spezifizierte Straftatbestände entscheidet. Wir brauchen auch die Fortbildung des Jus in bello zu einem Interventionsrecht, das den innerstaatlichen Polizeirechten sehr viel ähnlicher sehen würde als der Haager Landkriegsordnung, die ja immer noch auf Kriegshandlungen zugeschnitten ist und nicht auf zivile Formen der Strafvereitelung und des Strafvollzugs. Weil bei humanitären Interventionen immer auch das Leben Unschuldiger auf dem Spiel steht, müsste die erforderliche Gewalt so engmaschig reglementiert sein, dass vorgebliche Aktionen eines Weltpolizisten ihren vorwandhaften Charakter verlieren und als solche weltweit akzeptiert werden können. Ein guter Test sind die moralischen Gefühle der globalen Beobachter – nicht als ob Trauer und Mitleid überhaupt verschwinden könnten, aber doch jene spontane Empörung über etwas Obszönes, die viele von uns beim Anblick des wochenlang von Raketeneinschlägen erleuchteten Himmels über Bagdad empfunden haben.
Mendieta: John Rawls sieht eine Möglichkeit dafür, dass Demokratien "gerechte Kriege" gegen verbrecherische Staaten – unlawful states – führen. Aber Sie gehen weiter mit Ihrem Argument, dass sich selbst unzweifelhaft demokratische Staaten nicht das Recht anmaßen dürfen, nach eigenem Gutdünken über die Kriegführung gegen einen vermeintlich despotischen, friedensgefährdenden oder kriminellen Staat zu entscheiden. In Ihrem Istanbuler Vortrag sagen Sie, dass unparteiliche Urteile niemals nur von einer Seite gefällt werden können; schon aus diesem kognitiven Grunde müsse der Unilateralismus eines wie immer auch wohlmeinenden Hegemons der Legitimität entbehren: "Dieser Mangel kann nicht durch eine demokratische Verfassung im Inneren des guten Hegemons wettgemacht werden." Ist das Jus ad bellum, das ja den Kern des klassischen Völkerrechts bildet, auch für Fälle eines gerechten Krieges obsolet geworden?
Habermas: Rawls letztes Buch "Law of Peoples" ist ja zurecht kritisiert worden, weil er darin die strengen Prinzipien der Gerechtigkeit, denen demokratischen Verfassungsstaaten genügen müssen, für den Verkehr mit autoritären oder halbautoritären Staaten lockert und den Schutz dieser ermäßigten Prinzipien in die Hände einzelner demokratischer Staaten legt. Rawls zitiert in diesem Zusammenhang zustimmend Michael Walzers Lehre vom gerechten Krieg. Beide halten "justice among nations" für wünschenswert und für möglich, aber sie möchten die Durchsetzung der internationalen Gerechtigkeit im Einzelfall dem Urteil und der Entscheidung souveräner Staaten überlassen. Rawls scheint dabei wie Kant eher an eine liberale Avantgarde der Staatengemeinschaft zu denken, Walzer an die jeweils beteiligten Nationen, ganz unabhängig von ihrer inneren Verfassung. Anders als bei Rawls ist das Misstrauen gegen supranationale Verfahren und Organisationen bei Walzer durch kommunitaristische Überlegungen motiviert. Der Schutz der Integrität der Lebensform und des eingelebten Ethos einer staatlich organisierten Gemeinschaft soll, solange es nicht zu Genoziden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit kommt, vor der globalen Durchsetzung abstrakter Gerechtigkeitsgrundsätze Vorrang genießen. An Walzers Konzeption lässt sich die Überlegung, auf die sich Ihre Frage bezieht, etwas besser erläutern als an Rawls halbherziger Verteidigung des Völkerrechts.
Seit dem Briand-Kellog-Pakt von 1928 sind Angriffskriege völkerrechtlich geächtet. Die Anwendung militärischer Gewalt sollte nur noch zur Selbstverteidigung erlaubt sein. Damit war das Jus ad bellum im Verständnis des klassischen Völkerrechts abgeschafft. Weil sich die nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Institutionen des Völkerbunds als zu schwach erwiesen hatten, sind die Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Befugnis zu friedenserhaltenden Operationen und Zwangsmaßnahmen ausgestattet und um den Preis von Vetorechten auf eine Kooperation mit den damaligen Großmächten zugeschnitten worden. Die UN-Charta legt den Vorrang des Völkerrechts vor den nationalen Rechtssystemen fest. Die Koppelung der Charta mit der Erklärung der Menschenrechte und die weit gehende Befugnis, die der Sicherheitsrat nach Kapitel VII genießt, haben eine Welle von rechtlichen Innovationen ausgelöst, die, auch wenn sie bis 1989 eine ungenutzte fleet in being geblieben sind, zurecht als eine "Konstitutionalisierung des Völkerrechts" begriffen worden sind. Die Weltorganisation mit inzwischen 192 Mitgliedstaaten hat eine veritable Verfassung, die Verfahren festlegt, wonach internationale Regelverstöße festgestellt und geahndet werden können. Seitdem gibt es keine gerechten und ungerechten Kriege mehr, sondern nur noch legale oder illegale, also völkerrechtlich gerechtfertigte oder ungerechtfertigte Kriege.
Man muss sich diesen enormen Schub der Rechtsevolution vergegenwärtigen, um den radikalen Bruch zu erkennen, den die Bush-Regierung herbeigeführt hat – sowohl mit einer Sicherheitsdoktrin, die die geltenden rechtlichen Voraussetzungen für den Einsatz militärischer Gewalt vorsätzlich ignoriert, wie auch mit dem Ultimatum an den Sicherheitsrat, die aggressive Irakpolitik der Vereinigten Staaten entweder abzusegnen oder selbst in Bedeutungslosigkeit zu versinken. Auf der rhetorischen Ebene der Legitimation ging es keineswegs um die "realistische" Ablösung "idealistischer" Vorstellungen. Soweit Bush ein Unrechtssystem beseitigen und die Region des Nahen Ostens demokratisieren wollte, standen nicht die normativen Ziele im Gegensatz zum Programm der Vereinten Nationen. Strittig war nicht die Frage, ob Gerechtigkeit zwischen Nationen überhaupt möglich ist, sondern auf welchem Wege. Die Bush-Regierung hat das 220jährige Kantische Projekt einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen mit moralischen Phrasen ad acta gelegt.
Das Verhalten der amerikanischen Regierung lässt nur den Schluss zu, dass aus ihrer Sicht das Völkerrecht als Medium für die Lösung zwischenstaatlicher Konflikte und für die Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten ausgespielt hat. Diese Ziele macht die Weltmacht nun zum öffentlich deklarierten Inhalt einer Politik, die sich nicht länger auf Recht, sondern auf eigene ethische Werte und eigene moralische Überzeugungen beruft: sie setzt die eigenen normativen Begründungen an die Stelle vorgeschriebener juristischer Verfahren. Aber eines kann das andere nicht ersetzen. Der Verzicht auf rechtliche Argumente bedeutet immer ein Absehen von vorgängig anerkannten generellen Normen. Aus der beschränkten Sicht der eigenen politischen Kultur und des eigenen Welt- und Selbstverständnisses kann auch der best gesonnene und gutwilligste Hegemon nicht sicher sein, ob er die Interessenlage und die Situation der übrigen Beteiligten versteht und berücksichtigt. Das gilt für die Bürger einer demokratisch verfassten Supermacht nicht weniger als für deren politische Führung. Ohne inklusive Rechtsverfahren, die alle betroffenen Parteien einbeziehen und zur gegenseitigen Perspektivenübernahme anhalten, besteht für die überlegene Partei keine Nötigung, die Zentralperspektive eines großen Reiches aufzugeben, sich also auf eine Dezentrierung der eigenen Deutungsperspektive so weit einzulassen, wie es der kognitive Gesichtspunkt der gleichmäßigen Berücksichtigung aller Interessen erfordert.
Der falsche Universalismus
Auch eine hochmoderne Macht wie die USA fällt in den falschen Universalismus der Alten Reiche zurück, wenn sie in Fragen der internationalen Gerechtigkeit das positive Recht durch Moral und Ethik ersetzt. Aus der Perspektive von Bush gelten "unsere" Werte als die universal gültigen Werte, die alle anderen Nationen zu ihrem eigenen Besten akzeptieren sollten. Der falsche Universalismus ist ein ins Allgemeine erweiterter Ethnozentrismus. Und dem hat eine Theorie des gerechten Krieges, die sich von theologischen und naturrechtlichen Traditionen herleitet, nichts entgegenzusetzen, auch wenn sie heute im kommunitaristischen Gewand auftritt. Ich sage nicht, dass die offiziellen Begründungen der amerikanischen Regierung für den Irakkrieg oder gar die amtlich geäußerten religiösen Überzeugungen des amerikanischen Präsidenten über "die Guten" und "das Böse" den von Walzer entwickelten Kriterien eines "gerechten Krieges" genügen. Der Publizist Walzer hat darüber auch niemanden im Unklaren gelassen. Aber der Philosoph Walzer gewinnt seine Kriterien, so vernünftig sie sein mögen, allein aus moralischen Grundsätzen und ethischen Überlegungen, nicht im Rahmen einer Rechtstheorie, die die Beurteilung von Krieg und Frieden an inklusive und unparteiliche Verfahren der Erzeugung und Anwendung von zwingenden Normen knüpft.
In unserem Zusammenhang interessiert mich nur die eine Konsequenz solcher Ansätze: dass die Beurteilungskriterien für gerechtfertigte Kriege nicht ins Rechtsmedium übersetzt werden. Nur so lässt sich aber die immer umstrittene materiale "Gerechtigkeit" in die nachprüfbare Legalität von Kriegen überführen. Walzers Kriterien für gerechte Kriege sind, auch wenn sie sich im internationalen Gewohnheitsrecht wiederfinden, wesentlich ethisch-politischer Natur. Ihre Anwendung im Einzelfall ist der Nachprüfung durch internationale Gerichtshöfe entzogen, sie bleibt vielmehr der Klugheit und dem Gerechtigkeitssinn von Nationalstaaten vorbehalten.
Aber warum soll sich die unparteiliche Beurteilung von Konflikten nur innerhalb eines Staates über das Rechtsmedium absichern lassen, warum soll sie nicht auch in internationalen Streitigkeiten juristisch zur Geltung gebracht werden können? Es ist doch trivial: Wer soll auf supranationaler Ebene fest- stellen, ob "unsere" Werte tatsächlich universale Anerkennung verdienen oder ob wir universal anerkannte Grundsätze tatsächlich unparteilich anwenden – ob wir z.B. eine strittige Situation tatsächlich nicht-selektiv wahrnehmen, statt nur das für uns Relevante zu berücksichtigen? Das ist der ganze Sinn von inklusiven Rechtsverfahren, die supranationale Entscheidungen an die Bedingung der gegenseitigen Perspektivenübernahme und Interessenberücksichtigung binden.
Mendieta: Ihr Kantisches Projekt in Ehren, aber machen Sie sich damit nicht zum Anwalt eines "militärischen Humanismus"?
Habermas: Ich kenne nicht den genauen Kontext des Ausdrucks, aber ich vermute, dass er auf die Gefahr einer Moralisierung von Gegnerschaften anspielt. Gerade auf internationaler Ebene kann eine Verteufelung des Gegners – denken Sie an die "Achse des Bösen" – nicht zur Konfliktlösung beitragen. Heute wächst der Fundamentalismus auf allen Seiten und macht die Konflikte heillos – im Irak, in Israel und anderswo. Mit diesem Argument hat übrigens auch Carl Schmitt sein Leben lang einen "nicht-diskriminierenden Kriegsbegriff" verteidigt. Das klassische Völkerrecht, so sein Argument, hat dadurch, dass es den nicht weiter rechtfertigungsbedürftigen Krieg als legitimes Mittel zwischenstaatlicher Konfliktlösung ansah, zugleich eine wichtige Voraussetzung für die Zivilisierung der kriegerischen Auseinandersetzungen erfüllt. Die mit dem Vertrag von Versailles einsetzende Kriminalisierung von Angriffskriegen habe demgegenüber den Krieg selbst zum Verbrechen gemacht und eine Dynamik der "Entgrenzung" ausgelöst, weil sich der moralisch verurteilte Gegner in einen verabscheuungswürdigen Feind verwandelt, der zu vernichten ist. Wenn man sich im Zuge dieser Moralisierung gegenseitig nicht mehr als ehrenwerten Gegner – als justus hostis – achtet, entarten die begrenzten Kriege zu totalen Kriegen.
Auch wenn der totale Krieg eher auf eine nationalistische Massenmobilisierung und die Entwicklung von ABC-Waffen zurückgeht, ist das Argument nicht falsch. Es unterstützt jedoch nur meine These, dass "Gerechtigkeit zwischen den Nationen" nicht auf dem Wege einer Moralisierung, sondern allein durch die Verrechtlichung internationaler Beziehungen erreicht werden kann. Unfrieden stiftet das diskriminierende Urteil nur, wenn sich eine Partei nach eigenen moralischen Maßstäben ein Urteil über das vermeintliche Verbrechen einer anderen Partei anmaßt. Ein solches subjektives Urteil dürfen wir nicht mit der juristischen Verurteilung einer erwiesenermaßen kriminellen Regierung und ihrer Handlanger vor den Foren einer verfassten Staatengemeinschaft verwechseln, denn diese erstreckt ihren Rechtsschutz auch auf eine angeklagte Partei, für die bis zum Erweis des Gegenteils die Unschuldsvermutung gilt.
Die Unterscheidung zwischen Moralisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen hätte Carl Schmitt freilich nicht zufrieden gestellt, denn für ihn und seine faschistischen Gesinnungsgenossen hatte der existentielle Kampf auf Leben und Tod eine merkwürdige vitalistische Aura. Deshalb meint Schmitt, dass sich die Substanz des Politischen, die Selbstbehauptung der Identität eines Volkes oder einer Bewegung, normativ nicht zähmen lässt und dass jeder Versuch einer rechtlichen Zähmung moralisch verwildern muss. Selbst wenn der legale Pazifismus Erfolg haben könnte, würde er uns des wesentlichen Mediums zur Erneuerung eines authentischen Daseins berauben. Nun, dieser abstruse Begriff des Politischen muss uns nicht mehr beschäftigen.
Beschäftigen muss uns die vermeintlich "realistische" Prämisse, die von linken und rechten Hobbisten vertreten wird: dass das Recht, auch in der modernen Gestalt des demokratischen Verfassungsstaates, immer nur Reflex und Maske ökonomischer oder politischer Macht ist. Unter dieser Voraussetzung erscheint der legale Pazifismus, der das Recht auf den Naturzustand zwischen den Staaten ausdehnen will, als schiere Illusion. Tatsächlich zehrt aber das Kantische Projekt einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts von einem Idealismus ohne Illusion. Die Form des modernen Rechts hat als solche einen unzweideutigen moralischen Kern, der sich in the long run als "gentle civilizer" (Koskenniemi) – als eine sanft zivilisierende Gewalt – bemerkbar macht, wo immer das Rechtsmedium als eine verfassungsgestaltende Macht zur Anwendung kommt.
Der egalitäre Universalismus, der dem Recht und seinen Verfahren innewohnt, hat jedenfalls in der politischen und gesellschaftlichen Realität des Westens empirisch nachweisbare Spuren hinterlassen. Die Idee der Gleichbehandlung, die im Recht der Völker wie der Staaten investiert ist, kann nämlich ideologische Funktionen nur um den Preis erfüllen, dass sie zugleich als Maßstab für Ideologiekritik ins Spiel kommt. Aus diesem Grund nehmen heute Oppositions- und Emanzipationsbewegungen in aller Welt das Vokabular der Menschenrechte in Anspruch. Die Rhetorik der Menschenrechte lässt sich, sobald sie der Unterdrückung und der Exklusion dient, gegen diesen Missbrauch beim Wort nehmen.
Mendieta: Gerade als ein unverbesserlicher Verteidiger des Kantischen Projekts müssen Sie von dem machiavellistischen Machenschaften tief enttäuscht sein, die ja oft genug die Praxis der Vereinten Nationen beherrschen. Sie selbst haben auf die "monströse Selektivität" hingewiesen, mit welcher der Sicherheitsrat Fälle, in denen er tätig werden müsste, überhaupt wahrnimmt und behandelt. Sie sprechen vom "schamlosen Vorrang, den nationale Interessen immer noch vor globalen Verpflichtungen genießen". Wie müssten die Institutionen der Vereinten Nationen verändert und reformiert werden, damit aus dem Schild für die unilaterale Verfolgung prowestlicher Interessen und Ziele wirklich ein effektives Werkzeug zur Friedenssicherung werden kann?
Habermas: Das ist ein großes Thema. Mit institutionellen Reformen ist es nicht getan. Eine den veränderten Machtverhältnissen angemessene Zusammensetzung des Sicherheitsrates, die heute diskutiert wird, auch die Einschränkung der Vetorechts der Großmächte sind gewiss nötig, greifen aber zu kurz. Lassen Sie mich aus dem unübersichtlichen Komplex ein paar Gesichtspunkte herausgreifen.
Die Weltorganisation ist zurecht auf vollständige Inklusion angelegt. Sie steht allen Staaten offen, die sich auf den Wortlaut der Charta und der völker- rechtlich verbindlichen Erklärungen der UN verpflichten – ganz unabhängig davon, wie weit ihre Praxis im Inneren diesen Prinzipien tatsächlich entspricht. Gemessen an den eigenen normativen Grundlagen, besteht deshalb – trotz der formalen Gleichberechtigung der Mitglieder – ein Legitimationsgefälle zwischen liberalen, halbautoritären und manchmal sogar despotischen Mitgliedstaaten. Das fällt beispielsweise auf, wenn ein Staat wie Libyen den Vorsitz im Menschenrechtsausschuss übernimmt. John Rawls hat das Verdienst, auf das grundsätzliche Problem abgestufter Legitimation hingewiesen zu haben. Der Legitimationsvorsprung demokratischer Länder, auf den ja schon Kant seine Hoffnung gesetzt hatte, lässt sich kaum formalisieren. Aber es könnten sich Gewohnheiten und Praktiken herausbilden, die dem Rechnung tragen. Auch unter diesem Gesichtspunkt wird die Reformbedürftigkeit des Vetorechts der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats deutlich.
Weltinnenpolitik ohne Weltregierung
Das dringlichste Problem ist natürlich die beschränkte Handlungsfähigkeit einer Weltorganisation, die kein Gewaltmonopol besitzt und die insbesondere in Fällen von Intervention und nation-building auf die ad-hoc Unterstützung potenter Mitglieder angewiesen ist. Das Problem liegt aber nicht im Fehlen des Gewaltmonopols – die Differenzierung zwischen Verfassung und exekutiver Staatsgewalt beobachten wir auch andernorts, etwa in der Europäischen Union, wo das EU-Recht nationales Recht bricht, obgleich die Nationalstaaten nach wie vor über die kasernierten Mittel legitimer Gewaltanwendung verfügen. Die Vereinten Nationen leiden, abgesehen von ihrer finanziellen Unterausstattung, vor allem an ihrer Abhängigkeit von Regierungen, die ihrerseits nicht nur nationale Interessen verfolgen, sondern von der Zustimmung ihrer nationalen Öffentlichkeiten abhängen. Bis sich auf der sozialkognitiven Ebene die Selbstwahrnehmung von Mitgliedstaaten, die sich nach wie vor als souveräne Akteure verstehen, ändert, muss man darüber nachdenken, wie sich eine relative Entkoppelung der Entscheidungsebenen erreichen lässt. Die Mitgliedstaaten könnten beispielsweise, ohne ihre nationalen Verfügungsrechte über eigene Streitkräfte einzuschränken, für Zwecke der UNO bestimmte Kontingente grundsätzlich zur Verfügung halten.
Das ehrgeizige Ziel einer Weltinnenpolitik ohne Weltregierung lässt sich allerdings realistisch nur anstreben, wenn sich die Weltorganisation auf ihre beiden wichtigsten Funktionen – die Friedenssicherung und die globale Durchsetzung der Menschenrechte – beschränkt und die politische Koordination auf den Gebieten der Wirtschaft, der Umwelt, des Verkehrs, der Gesundheit usw. einer mittleren Ebene von Institutionen und Verhandlungssystemen überlässt. Aber diese Ebene von politisch handlungsfähigen global players, die miteinander Kompromisse aushandeln könnten, ist vorerst nur von Wirtschaftsinstitutionen wie der Welthandelsorganisation besetzt. Eine noch so gelungene Reform der Vereinten Nationen würde gar nichts bewirken, wenn sich nicht die Nationalstaaten in den verschiedenen Weltteilen zu kontinenta- len Regimen nach dem Muster der Europäischen Union zusammenschließen. Dazu gibt es erst bescheidene Ansätze. Hier, nicht in der Reform der UNO, liegt das eigentlich utopische Element eines weltbürgerlichen Zustandes.
Auf der Basis einer Arbeitsteilung innerhalb eines solchen globalen Mehrebenensystems ließe sich vielleicht sogar der Legitimationsbedarf einer handlungsfähigen UNO auf eine halbwegs demokratische Weise decken. Eine politische Weltöffentlichkeit stellt sich bisher nur bei historischen Großereignissen wie dem 11. September punktuell her. Dank der elektronischen Medien und infolge der erstaunlichen Erfolge von weltweit operierenden Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch könnte sie aber eines Tages eine festere Infrastruktur annehmen und größere Kontinuität gewinnen. Unter solchen Umständen wäre auch die Idee nicht länger abwegig, neben der Generalversammlung als zweiter Kammer ein "Parlament der Weltbürger" (David Held) einzurichten oder wenigstens die bestehende Staatenkammer um eine Repräsentation der Bürger zu erweitern. Damit würde eine völkerrechtliche Evolution, die längst im Gange ist, ihren symbolischen Ausdruck und institutionellen Abschluss finden. Denn inzwischen sind nicht mehr nur die Staaten, sondern die Bürger selbst zu Subjekten des Völkerrechts geworden: als Weltbürger können sie erforderlichenfalls auch Rechte gegen ihre eigene Regierung in Anspruch nehmen.
Gewiss, der Gedanke an die Abstraktion eines Weltbürgerparlaments verursacht leichten Schwindel. Aber im Hinblick auf die beschränkten Funktionen der Vereinten Nationen muss man bedenken, dass die Abgeordneten dieses Parlaments Bevölkerungen vertreten würden, die nicht wie die Bürger eines politischen Gemeinwesens durch dichte Traditionen miteinander verbunden sein müssten. An Stelle der staatsbürgerlichen Solidarität genügt eine negative Übereinstimmung, nämlich die gemeinsame Empörung über aggressive Kriegstreibereien und Menschenrechtsverletzungen krimineller Banden und Regierungen oder das gemeinsame Entsetzen über ethnische Säuberungen und Genozide.
Allerdings sind die Widerstände und Rückschläge, die auf dem Wege zu einer vollständigen Konstitutionalisierung zu überwinden sind, so groß, dass das Projekt nur dann gelingen kann, wenn sich die USA wie 1945 als Lokomotive wieder an die Spitze der Bewegung setzen. Das ist nicht so unwahrscheinlich, wie es im Augenblick aussieht. Zum einen ist es ein Glücksfall der Weltgeschichte, dass die einzige Supermacht zugleich die älteste Demokratie auf Erden ist und daher, anders als Kagan uns weismachen möchte, zur Kantischen Idee einer Verrechtlichung internationaler Beziehungen sozusagen von Haus aus Affinitäten hat. Zum anderen liegt es im Interesse der Vereinigten Staaten von Amerika selbst, die UNO handlungsfähig zu machen, bevor eine andere, weniger demokratische Großmacht zur Supermacht aufsteigt. Imperien kommen und gehen. Schließlich hat sich die Europäische Union soeben auf Grundsätze einer Sicherheits- und Verteidigungspolitik geeinigt, die dem völkerrechtswidrigen "pre-emptive strike" ein "preventive engagement" entgegensetzt; sie könnte damit auch einen meinungsbildenden Einfluss auf die politische Öffentlichkeit unseres amerikanischen Verbündeten gewinnen.
Mendieta: Die Verachtung der amerikanischen Regierung für Völkerrecht und internationale Verträge, der brutale Gebrauch militärischer Gewalt, eine Politik der Lüge und Erpressung hat Anti-Amerikanismus hervorgerufen, der, soweit er sich gegen unsere jetzige Regierung richtet, nicht ungerechtfertigt ist. Wie sollte Europa mit dieser verbreiteten Stimmung umgehen, um zu verhindern, dass der weltweite Antiamerikanismus in Hass auf den Westen insgesamt umschlägt?
Habermas: Antiamerikanismus ist in Europa selbst eine Gefahr. In Deutschland hat er sich stets mit den reaktionärsten Bewegungen verbunden. Daher ist es wichtig für uns, wie damals, zur Zeit des Vietnamkrieges, gegen die amerikanische Regierungspolitik Seite an Seite mit einer inneramerikanischen Opposition Front machen zu können. Wenn wir uns auf eine Protestbewegung in den Vereinigten Staaten selbst beziehen können, geht auch der kontraproduktive Vorwurf des Antiamerikanismus, dem wir hier begegnen, ins Leere. Etwas anderes ist der antimodernistische Affekt gegen die westliche Welt im Ganzen. In dieser Hinsicht ist Selbstkritik angebracht – sagen wir eine selbstkritische Verteidigung der Errungenschaften der westlichen Moderne, die gleichzeitig Offenheit und Lernbereitschaft signalisiert und vor allem die idiotische Gleichsetzung von demokratischer Ordnung und liberaler Gesellschaft mit wildwüchsigem Kapitalismus auflöst. Wir müssen einerseits eine unmissverständliche Grenze zum Fundamentalismus, auch zum christlichen und jüdischen Fundamentalismus ziehen, und uns andererseits der Erkenntnis stellen, dass der Fundamentalismus das Kind einer entwurzelnden Modernisierung ist, an deren Entgleisungen unsere Kolonialgeschichte und eine misslungene Dekolonisierung einen entscheidenden Anteil haben. Gegenüber fundamentalistischen Bornierungen können wir immerhin deutlich machen, dass die berechtigte Kritik am Westen ihre Maßstäbe den Diskursen einer 200jährigen Selbstkritik des Westens entlehnt.
Mendieta: Jüngst sind zwei politische Fahrpläne im Reißwolf von Krieg und Terrorismus zerfetzt worden: jene sogenannte road map, die zum Frieden zwischen Israelis und Palästinensern führen sollte, und das imperialistische Szenario von Cheney, Rumsfeld, Rice und Bush. Das Drehbuch für den Konflikt in Israel müsste zusammen mit einem Drehbuch für die Rekonstruktion des ganzen Nahen Ostens geschrieben werden. Aber die Politik der Vereinigten Staaten hat den Antiamerikanismus mit dem Antisemitismus fusioniert. Heute nährt der Antiamerikanismus alte Formen eines mörderischen Antisemitismus. Wie kann man diese explosive Mischung entschärfen?
Habermas:Das ist insbesondere ein Problem in Deutschland, wo sich im Augenblick die Schleusen für einen narzisstischen Umgang mit den eigenen Opfern öffnen und wo eine Jahrzehnte lang notwendig gewesene Zensur der Stammtische durch die offizielle Meinung aufbricht. Aber jener Mixtur, die Sie ganz richtig beschreiben, werden wir nur beikommen, wenn es gelingt, das legitime Geschäft der Kritik an Bushs fataler Weltordnungsvision überzeugend von allen antiamerikanischen Beimischungen frei zu halten. Sobald das andere Amerika wieder sichtbare Konturen annimmt, wird auch jenem Antiamerikanismus der Boden entzogen, der dem Antisemitismus nur als Deckmantel dient.