Antrittsrede von Bundespräsident Horst Köhler am 1. Juli 2004 vor dem Deutschen Bundestag (Auszüge)
[...] Meine Damen und Herren, ich will Ihnen zunächst von etwas berichten, was mich in dieser Form schon etwas verwundert hat. Seit dem 23. Mai, dem Tag der Bundesversammlung, werde ich immer wieder gefragt: "Was genau lieben Sie an Deutschland?" oder "Warum lieben Sie denn Deutschland?" Wenn ich dann auf die Landschaften, die Dialekte, die Literatur, die Musik verweise, sagen die Leute: "Na ja, das ist sicher richtig." Aber sie sagen auch: "Das allein kann es ja wohl nicht sein."
Und tatsächlich: Landschaft, Sprache, Musik - ist das wirklich alles? Zumal in einer Zeit, in der nicht wenige Menschen in Deutschland große Sorgen haben, in der unser Land unübersehbar in wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist, in der sich neue Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft bemerkbar machen. Spaltungen, wie sie es in dieser Form vor zwei oder drei Jahrzehnten noch nicht gab.
Damit meine ich nicht allein Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland. Ich meine die Unterschiede, die mitten durch unsere Gemeinschaft gehen: Menschen, die Arbeit haben, und diejenigen, die ohne Aussicht auf Arbeit leben; Gutverdienende ohne Kinder und Familien mit Kindern oder Alleinerziehende ohne geregeltes Einkommen und Perspektive. Ich meine die dramatische Alterung der Bevölkerung mit drohenden Konflikten zwischen Alt und Jung. Und ich meine auch die Gefahr der Entwicklung von Parallelgesellschaften in unseren Städten, ausgelöst dadurch, dass die Integration von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion nicht klappt.
Meine Damen und Herren, wahr ist aber auch: Die Schönheit unseres Landes, die Geschichte unseres Landes, die Probleme unseres Landes - das alles ist und bleibt Deutschland. Das ist unser Land, das ist unsere Heimat. Und wahr bleibt auch: Trotz aller Schwierigkeiten, Probleme und Krisen, die unser Land zurzeit durchläuft, geht es uns Deutschen weit besser als drei Vierteln der Menschheit.
Wissen wir eigentlich, was es heißt, von weniger als zwei Euro am Tag leben zu müssen - wie über drei Milliarden Menschen auf diesem Planeten? Doch ich will diesem Argument auch keinen falschen Zungenschlag geben. Dass es anderen in der Welt schlechter geht, ist sicherlich kein Trost für diejenigen bei uns, die ihren Cent dreimal umdrehen müssen.
Dennoch: Unser Land sollte uns etwas wert sein. Trotz aller aktuellen Schwierigkeiten stehen das Grundgesetz und die soziale Marktwirtschaft für eine besonders glückliche und friedliche Phase unseres Landes [...]. Ich selber bin Teil einer Generation, die die Geschichte der Bundesrepublik als einzigartige Erfolgsgeschichte miterlebt hat, von der Aussöhnung mit unseren Nachbarn über das Wirtschaftswunder bis zur Wiedervereinigung. All dies sind große historische Leistungen und gute Gründe, uns selbst zu vertrauen, uns etwas zuzutrauen. Es sind für mich gute Gründe, unser Land, unsere Heimat, zu lieben. Und deshalb frage ich: Kann es uns egal sein, ob unser Land wächst und gedeiht oder im globalen Wettbewerb weiter zurückfällt? Kann es uns egal sein, ob einer der Motoren Europas immer mehr ins Stottern gerät, wie manche sagen? Ich denke, nicht. Warum? Erstens, weil unsere Partner in Europa und in der Welt auf uns schauen und zu Recht viel von uns erwarten. Wir sind 80 Millionen Menschen im Herzen Europas und wir haben gar keine andere Wahl, als Verantwortung zu übernehmen. Deutschland muss ein Land sein, das Ideen zur politischen Gestaltung hat und zum Ausgleich fähig ist, das souverän ist und gleichzeitig weiß, dass es seine Partner dies- und jenseits des Atlantik braucht.
Vor wenigen Wochen wurden wir daran erinnert, dass andere Völker - im Besonderen die Vereinigten Staaten von Amerika - dafür gekämpft haben, dass wir Deutsche in Freiheit leben können. Das sollten wir nie vergessen.
Für mich ist Freiheit der wichtigste Wert, der Europa und Amerika dauerhaft verbindet, und ich sehe Amerika weiterhin als Hort der Freiheit. [...] Wir Deutsche sollten uns um eine gute Partnerschaft und einen neuen Dialog mit Amerika bemühen - selbstbewusst und auch fähig zur Kritik unter Freunden, mit denen uns gemeinsame Werte und Interessen verbinden.
Gemeinsame Werte und gemeinsame Interessen - das trägt mehr und weiter als nur Dankbarkeit. [...]
Meine Damen und Herren, Deutschlands Schicksal entscheidet sich vor allem in Europa. Versöhnung und Zusammenarbeit in Europa haben uns Freiheit, Frieden und Wohlstand gesichert. [...]
Ich wünsche mir allerdings auch ein Europa, das die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten vorbildlich unterstützt, konkret durch weitere Öffnung der Märkte für die armen Länder und auch durch mehr öffentliche Entwicklungshilfe.
Bei meiner Arbeit für den Weltwährungsfonds habe ich Hunger und unermessliche Not gesehen, vor allem bei Frauen und Kindern. Doch ich habe auch gesehen, dass gezielte Entwicklungszusammenarbeit viel Gutes tun kann.
Für mich entscheidet sich die Menschlichkeit unserer Welt am Schicksal Afrikas. Ist es nicht eine Frage der Selbstachtung Europas, sich mit Blick auf unsere eigenen Fundamente, unsere Werte und Geschichte in Afrika ehrlich und großzügig zu engagieren?
Meine Damen und Herren, es gibt einen zweiten, noch wichtigeren Grund, warum wir uns nicht einfach mit dem derzeitigen Zustand unseres Landes abfinden sollten: Wir haben die Verantwortung, die schöpferischen Kräfte der Menschen zu wecken und zur Entfaltung kommen zu lassen. Aus ureigenem Interesse braucht Deutschland einen neuen Aufbruch. Wir müssen die Spaltungen in unserer Gesellschaft überwinden. [...]
Bundespräsident Roman Herzog hat schon 1997 gesagt: "Durch Deutschland muss ein Ruck gehen." Er hatte Recht. Nur haben wir seitdem viel Zeit verloren. Warum bekommen wir den Ruck noch immer nicht hin? Weil wir alle immer noch zu sehr darauf warten, dass er passiert.
Was braucht man für einen Ruck? Nun, man braucht vor allen Dingen Ideen, die verwirklicht werden. Jeder Einzelne hat Ideen, Sie und ich. Aber wir kämpfen nicht genug um ihre Verwirklichung. Wir alle warten.
Das gilt auch für die Parteien. Die Agenda 2010 weist in die richtige Richtung. Was wir jetzt brauchen, ist Konsequenz und Stetigkeit bei der Fortsetzung dieses Weges. Deshalb sage ich der Mehrheit im Bundestag und der Mehrheit im Bundesrat: Wir können uns trotz aller Wahlen kein einziges verlorenes Jahr für die Erneuerung Deutschlands mehr leisten. [...].
Meine Damen und Herren, wenn wir wissen, wo wir hinwollen, ist auch ein mühsamer Weg erträglich. Überall wird gesagt, dass wir Reformen brauchen. Ich selbst habe das auch gesagt. Viele Menschen können das Wort Reform aber schon nicht mehr hören. Es ist uns offensichtlich nicht gelungen, das Ziel der Reformen zu erklären. Dieses Ziel zu erklären ist unsere Verpflichtung.
Was ist denn unser Ziel? Nun, ich sage es ganz einfach: Wir wollen aus Deutschland wieder ein erfolgreiches Land machen, ein Land, in dem Menschen gerne leben, vor allen Dingen ein Land, in dem Menschen Arbeit finden und ihre Ideen entfalten können, ein zuversichtliches Land, ein zupackendes Land, ein Land der Ideen. Das sollten wir erreichen und das können wir erreichen.
[...] Ideen müssen aber zu Taten werden. Sie müssen es werden können. Warum sind wir dennoch in den letzten Jahrzehnten bei Ideen und Innovationen zurückgefallen? Es gibt unzählige Beispiele dafür, wo Ideen in Deutschland entstanden sind, die Arbeitsplätze aber anderswo, zum Beispiel die braunsche Röhre, Konrad Zuses erster Computer oder - ganz aktuell - die MP3-Technik. Ich erkläre jedem nach der Sitzung, was MP3-Technik ist. Das ist etwas ganz Modernes. - Diese Dinge wurden bei uns erfunden. Aber weiterentwickelt und wirtschaftlich ausgewertet wurden sie vor allen Dingen anderswo. Ähnliches droht derzeit bei der Nano- und Biotechnologie zu passieren. Hier müssen wir etwas ändern, damit wir nicht zum Brachland der Ideen werden. [...]
Warum tun wir uns aber momentan noch so schwer mit der Erneuerung? Von all den vielen möglichen Antworten möchte ich zwei herausgreifen: Zum einen klammern wir uns schlicht zu sehr an dem fest, was wir haben. Zum anderen leben wir zu sehr in der Angst zu scheitern.
Der Sozialstaat ist für mich eine zivilisatorische Errungenschaft, auf die wir stolz sein können. Aber der Sozialstaat heutiger Prägung in Deutschland hat sich übernommen. Das ist bitter, aber wahr.
Wir haben es vor allen Dingen nicht geschafft, den Sozialstaat rechtzeitig auf die Bedingungen einer alternden Gesellschaft und einer veränderten Arbeitswelt einzustellen. Weitere Staatsverschuldung ist auch kein Ausweg, weil die hohen Schulden schon jetzt die Zukunft unserer Kinder belasten.
Wir brauchen einen Mentalitätswandel in unserem Land, eine neue Balance von Eigenverantwortung und kollektiver Absicherung. Wir müssen auch die Sozialpolitik nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit gestalten, also bei allen Entscheidungen, allen Gesetzesvorhaben immer auch die Auswirkungen auf zukünftige Generationen, unsere Kinder, berücksichtigen. Das haben wir zu lange vernachlässigt.
Uns allen muss dabei bewusst sein: Der Umbau des Sozialstaates verlangt schon jetzt vielen Menschen in Deutschland vieles ab. Es gibt soziale Härten, weil Einschnitte Menschen treffen, die ohnehin nicht viel haben. Ich weiß das und wir alle sollten das wissen. Niemand kann seriös bereits nach kurzer Zeit neue Verteilungsspielräume versprechen. Umso mehr müssen wir darauf achten, dass alle Verantwortung tragen und Opfer bringen, und zwar entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit.
Wir brauchen eine "Entwicklungspolitik für ein entwickeltes Land", wie es die deutschen katholischen Bischöfe formuliert haben. Wohlweislich: Entwicklung, nicht Abriss oder Abbau, Entwicklung als Umbau. [...]
Ein zweiter Grund, warum wir uns in Deutschland mit der Erneuerung so schwer tun, ist - ich habe das bereits erwähnt - die Angst zu scheitern. Rückschläge und Irrtümer sind aber Teil des menschlichen Tuns. Wichtig ist, sich nicht aufzugeben, immer wieder Neues anzufangen und sich nicht hängen zu lassen. [...]
Menschen mit Mut, Ideen und Verantwortungsbewusstsein fallen nicht vom Himmel. Sie werden geprägt: in der Familie, in der Schule, im Wohnviertel. Deshalb sind Bildung und Erziehung der Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Bildung und Erziehung - das bedeutet, Kreativität zu fördern, Ideen zu wecken und Werte zu vermitteln. Das gelingt nur denen, die Vorbilder schaffen und Ideale selbst vorleben und an denen sich junge Menschen orientieren oder auch reiben können. [...]
Meine Damen und Herren, ich habe das Gefühl, in unserer Gesellschaft entwickelt sich eine Renaissance der Familie. Das spüre ich und das gibt mir Zuversicht. Diese Entwicklung muss gestärkt und gefördert werden. Über Familie und Kinder habe ich vor kurzem einen bemerkenswerten Satz gelesen: Kinder sind die einzig unkündbare Beziehung. [...]
Bildung und Familie müssen auch deshalb zusammen und neu gedacht werden, weil uns die rapide Alterung unserer Gesellschaft vor gewaltige Probleme stellt. Ohne Kinder hat unser Land keine Zukunft. Daher ist es so wichtig, dass Deutschland als Land der Ideen vor allem ein Land für Kinder wird.
Deutschland muss zu einem Land werden, in dem wir es nicht zulassen, dass Kinder verwahrlosen können, in dem es kein Schild mit der Aufschrift "Spielen verboten" mehr gibt und in dem Kinderlärm kein Grund für Gerichtsurteile ist. [...]
Ja, meine Damen und Herren, wir müssen diesen Umbruch bei uns und in der Welt als Chance begreifen und nutzen. Wir haben in der Vergangenheit in Deutschland erfahren, dass die Kraft der streitigen Debatte, die Kraft zur Überwindung von Gegensätzen und die Kraft der Freiheit zu Gutem geführt haben: Westbindung, Wirtschaftswunder, auch die 68er mit ihren Impulsen und Auswüchsen, die deutsche Einheit, die europäische Einigung.
Trotz vieler, oftmals bitterer Auseinandersetzungen haben wir Brücken gebaut, Gegensätze überwunden, Lösungen gefunden. Mut zur Zukunft sollte uns nicht zuletzt die Erinnerung daran machen, was vor 15 Jahren in Deutschland geschah: Den Menschen in Ostdeutschland gelang eine friedliche Revolution. Ihr Mut und ihre Veränderungserfahrung sind wertvoll für uns alle. Wir sind jetzt als ein Volk gefordert. [...]
Von Goethe stammt der Satz: Niemand weiß, wie weit seine Kräfte gehen, bis er sie versucht hat. Lassen Sie uns unsere Ideen und unsere Kräfte versuchen! Wir können in Deutschland vieles möglich machen. Dazu brauchen wir zugleich mehr Freiheit und mehr Gemeinschaft. Ich bin sicher: Wir werden es schaffen. Ich glaube an dieses Land, weil ich an seine Menschen glaube.
Vielen Dank.