Ausgabe Juni 2005

Über den Gräbern einander die Hand reichen

Beitrag von Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Zeitung Komsomolskaja Prawda vom 9. Mai 2005 (Wortlaut)

Heute vor 60 Jahren, am 9. Mai 1945, endete mit der totalen Kapitulation Deutschlands der Zweite Weltkrieg in Europa. Kein anderes Land hat den Sieg über Hitler-Deutschland so teuer bezahlen müssen wie die Völker der damaligen Sowjetunion. Mehr als 27 Millionen Tote und unbeschreibliche Verwüstungen - das war für die damalige Sowjetunion das schreckliche Ergebnis des Zweiten Weltkrieges. Dies bleibt Teil der Verantwortung, die wir Deutschen gegenüber dem russischen Volk und den anderen Völkern der früheren Sowjetunion empfinden. Für uns Deutsche ist der 8./9. Mai deshalb ein Datum des stillen Gedenkens an jene, die in den Kämpfen des Zweiten Weltkrieges ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Angehörigen verloren haben, an jene, die vom Nazi-Regime verfolgt und ermordet wurden und an jene, die im mutigen Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur starben. Auch heute bitten wir um Vergebung für das, was dem russischen Volk und den anderen Völkern von Deutschen in deutschem Namen zugefügt wurde.

Die Einladung Präsident Putins an den deutschen Bundeskanzler, am 9. Mai gemeinsam mit vielen anderen Staats- und Regierungschefs in Moskau des Kriegsendes zu gedenken, bedeutet deshalb eine große Ehre und einen Vertrauensbeweis für das deutsche Volk. Diese großherzige Geste zeigt: aus erbitterten Feinden sind Freunde und Partner geworden. Der 9. Mai ist deshalb mehr als nur ein Tag des Gedenkens; wir wollen auch ein Zeichen der europäischen Versöhnung setzen; und wir wollen im Gedenken an die Grauen des Krieges den Willen unserer Völker bekräftigen, unsere Zukunft gemeinsam zu gestalten.

Für Deutschland war der 8./9. Mai vor allem ein Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur. Für viele Menschen ist mit diesem Datum aber auch die Erinnerung an Vertreibung, an die Teilung Deutschlands und Europas und an neue Unfreiheit verbunden. Schließlich markierte der 9. Mai den geistigen und politischen Neuanfang Deutschlands. Sein Ausgangspunkt war die Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte als Voraussetzung für Frieden und Gerechtigkeit. Neuorientierung nach dem Kriege hieß für uns auch Aussöhnung mit unseren Nachbarn im Westen und im Osten. Dass diese auch mit unseren östlichen Nachbarn angesichts der Grauen des Weltkrieges und trotz des Kalten Krieges gelang, gehört für mich zu den Wundern der europäischen Geschichte. Nur die noch lebenden Veteranen wissen, was es für die Kriegsgeneration bedeutet haben muss, wieder aufeinander zuzugehen und über den Gräbern einander die Hand zu reichen. Sie ließ sich leiten von dem Bekenntnis: nie wieder Krieg. Zur Versöhnung zwischen Deutschland und der damaligen Sowjetunion haben viele beigetragen. Ich will an dieser Stelle stellvertretend Willy Brandt nennen. Die Sehnsucht nach Aussöhnung, Versöhnung und dauerhaftem Frieden mit unseren östlichen Nachbarn lag seiner Entspannungspolitik zu Grunde. Mit den europäischen Freiheitsrevolutionen 1989 und der Überwindung des Kalten Krieges fand sie ihre Erfüllung.

Der politische Umbruch hat Deutschen und Russen die Chance eröffnet, gemeinsam ein neues, besseres Kapitel ihrer Geschichte zu schreiben. Wir haben diese Chance genutzt: Unsere Völker sind einander so verbunden wie noch nie zuvor. Uns verbindet eine strategische Partnerschaft für ein friedliches, prosperierendes Europa und eine stabile Weltordnung. Fast alle aus der Vergangenheit herrührenden bilateralen Fragen haben wir gelöst; mit Blick auf die großen Herausforderungen der Gegenwart verfolgen wir gleiche oder ähnliche Ziele.

Wirtschaftlich sind wir füreinander zentrale Partner; allein im vergangenen Jahr wuchs der deutsch-russische Handel um 18 Prozent. Wir sind dabei, unsere wirtschaftliche Zusammenarbeit in strategischen Bereichen auch jenseits von Öl und Gas auszudehnen. Der kulturelle Austausch zwischen unseren Völkern blüht. Die deutsch-russischen Kulturjahre 2003/2004 waren in beiden Ländern überwältigende Erfolge. Sie haben uns erneut in beeindruckender Weise vor Augen geführt, wie sehr sich Deutsche und Russen kulturell angeregt und bereichert haben und dies auch heute noch tun - als große europäische Kulturnationen.

Intensiver als je zuvor in der Geschichte begegnen sich auch die Bürgerinnen und Bürger unserer Länder. Im kommenden Juni treffen sich Vertreter der zahlreichen Städtepartnerschaften in Jekaterinburg zu einem großen Kongress. Der von Präsident Putin und mir ins Leben gerufene "Petersburger Dialog" bietet den Vertretern der Zivilgesellschaften ein wichtiges Forum für den Dialog über die Probleme und Chancen unserer Gesellschaften. Besonders am Herzen liegt Präsident Putin und mir der Jugendaustausch. Schon heute bestehen hunderte von Partnerschaften zwischen deutschen und russischen Schulen, zwischen deutschen und russischen Universitäten. Wir wollen uns aber mit dem Bestehenden nicht zufrieden geben; wir haben die Verantwortung, die deutsch-russische Freundschaft auch in der kommenden Generation zu verankern. Deshalb haben Präsident Putin und ich vereinbart, den deutsch-russischen Jugendaustausch bis 2007 zu verdoppeln. Bei unserem jüngsten Treffen in Hannover haben wir zudem eine strategische Partnerschaft in den Bereichen Bildung, Forschung und Innovation verabredet. Je mehr die nachwachsende Generation voneinander weiß, desto stärker wird auch im 21. Jahrhundert das Vertrauen zwischen unseren Völkern wachsen.

Die europäischen Irrwege des 19. und 20. Jahrhunderts hatten ihre Ursache darin, dass Nationen sich über andere zu erheben suchten, dass totalitäre Ideologien die Menschen verführten, entrechteten und versklavten. Das neue Europa beruht auf der gleichberechtigten Zusammenarbeit aller Nationen, ungeachtet ihrer Größe. Einflusszonen und Vormachtstreben dürfen in diesem neuen Europa keinen Platz mehr haben.

Deutschland und Russland tragen gemeinsam Verantwortung dafür, dass sich die Fehler der Geschichte nie mehr wiederholen und die großartige Vision einer dauerhaften und gerechten europäischen Friedensordnung Wirklichkeit wird. Das verlangt eine immer engere Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Russland. Mein Land ist ein engagierter Anwalt dieser Partnerschaft. Am 10. Mai werden Russland und die EU sich erstmals darauf verständigen, wie wir diese Partnerschaft in allen wichtigen Bereichen konkret verwirklichen wollen: Äußeres und Sicherheit, Wirtschaft, Bildung und Forschung, Inneres und Justiz. Der 9. Mai wird im Zeichen des Gedenkens an die Opfer des Krieges stehen; am 10. Mai wollen wir eine Zukunftspartnerschaft zwischen der EU und Russland auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und Werte besiegeln.

Gemeinsame Zukunftsgestaltung heißt auch, dass sich die EU und Russland den globalen Herausforderungen unserer Zeit stellen. Hierzu gehören internationaler Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Armut und Hoffnungslosigkeit, organisiertes Verbrechen, religiöser Fanatismus. Nicht selten sind wir mit diesen Gefahren auch in unserer gemeinsamen Nachbarschaft konfrontiert. Je enger die EU und Russland zusammenarbeiten, umso größer die Chance, dass wir diese gemeinsamen Herausforderungen meistern. Das wird nur gelingen, wenn wir gemeinsam die multilaterale Zusammenarbeit, allen voran die Vereinten Nationen und das Völkerrecht stärken. Auch das gehört zu den Lehren des vergangenen Jahrhunderts.

Über Jahrhunderte war das Schicksal der Völker in Europa von Vorherrschaftsstreben und Machtpolitik bestimmt. Der Zweite Weltkrieg hat diesen Weg auf schreckliche Weise als Irrweg entlarvt. Nur ein Europa der Freiheit, der Menschenrechte und der Partnerschaft kann auf Dauer ein Europa des Friedens sein. Das ist das Vermächtnis der Kriegsgeneration. Es bleibt auch für uns, 60 Jahre nach dem 9. Mai 1945, unverändert und uneingeschränkt gültig.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Koloniale Nachwehen: Der Kampf um Kaschmir

von Amadeus Marzai

Ein brutaler Terroranschlag riss am Nachmittag des 22. April das idyllische Baisaran-Gebirgstal im von Indien kontrollierten Teil Kaschmirs aus seiner Ruhe. Es war der Beginn einer rapiden Eskalation im seit jeher angespannten indisch-pakistanischen Verhältnis und könnte sogar zum Ausgangspunkt eines größeren Krieges zwischen den beiden Nuklearmächten werden.

Südkorea: Vom Putschversuch zur Richtungswahl

von Fabian Kretschmer

Es ist mehr als nur ein Klischee, dass die südkoreanische Demokratie zu den lebhaftesten in ganz Asien zählt. Seit der Wahlkampf Anfang Mai offiziell eingeläutet wurde, sind die gläsernen Fassaden der Bürotürme in der Hauptstadt Seoul mit riesigen Plakaten der Spitzenkandidaten zugepflastert.

Vom kleinen zum großen Bruder

von Ulrich Menzel

Wenige Tage vor der Winterolympiade 2022 in China reiste Wladimir Putin zu einem Gipfeltreffen mit Staatschef Xi Jingping nach Peking, um Rückendeckung für die geplante Invasion der Ukraine zu bekommen, die er nur drei Wochen später beginnen sollte. Am 4. Februar 2022 verkündeten Putin und Xi in einer gemeinsamen Erklärung die „grenzenlose Freundschaft“ ihrer beiden Länder in der Auseinandersetzung mit dem „absteigenden Westen“.