Ausgabe Januar 2006

Globaler Wachstumsfetisch

Inmitten einer weltweiten Wachstumsperiode diagnostizierte das Anfang November 2005 vorgelegte Gutachten des deutschen Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Situation: „Der Aufschwung bleibt schwach“. Der Grund für die faktische Abkoppelung der Bundesrepublik und einiger anderer europäischer Länder vom globalen Wachstumstrend ist bekannt und wurde schon an anderer Stelle diskutiert: Während die meisten EU-Staaten, an der Spitze Deutschland, weiterhin Erfolge im Außenhandel feiern, stagniert die Binnenachfrage unter dem Druck einer ideologisch befangenen Wirtschaftspolitik.1 Und trotz der extrem hohen Arbeitslosenquoten stilisiert die neue schwarz-rote Bundesregierung die Staatsverschuldung zum Hauptproblem. Hinzu kommt die irrige Ansicht, dass man die – im internationalen Vergleich wenig aufregenden – Haushaltsdefizite durch Ausgabenbeschränkungen in den Griff bekommen kann. Das führt erwartungsgemäß zu niedrigem Wachstum, steigenden Arbeitslosenziffern und somit zu neuen Defiziten, die von den „Sparaposteln“ wiederum durch erneute Ausgabenkürzungen bekämpft werden. Diese Art von Wirtschaftspolitik hat sich gegen jede empirisch ausgerichtete Erfolgskontrolle immunisiert, da sie unter der Parole „Es gibt keine Alternative“ andere wirtschaftspolitische Ansätze von vornherein ignoriert. Tatsächlich geht es um die Durchsetzung einer aggressiven Strategie der Umverteilung „nach oben“, wobei es gelungen ist, große Teile der Öffentlichkeit glauben zu machen, dass hohe Unternehmergewinne und Freiheit zum „Heuern und Feuern“ Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze produzieren würden – und wenn diese Maßnahmen nicht zum Erfolg führen, dann gilt das den neoliberalen Ideologen als Beweis dafür, dass eben noch mehr „Reformen“ erforderlich seien.

Seit Mitte der 80er Jahre erlebt die Welt eine ausgedehnte Phase beschleunigten Wirtschaftswachstums. Im Durchschnitt der letzten Jahre liegt es bei mehr als vier Prozent jährlich, und der Wachstumstrend zeigt immer noch keine Ermüdungserscheinungen. Dabei nimmt der Welthandel weiter überproportional zu.

Dieses anhaltend hohe Wachstum hängt wesentlich mit zwei Faktoren zusammen. Erstens praktiziert die immer noch größte Wirtschaftsmacht der Welt, die USA, eine expansive Wirtschaftspolitik und hält das Wachstumstempo dadurch auf hohem Niveau. Die steigende interne und vor allem externe Verschuldung – das Leistungsbilanzdefizit der USA übersteigt inzwischen sechs Prozent des amerikanischen Inlandsprodukts – wird bewusst in Kauf genommen. Immer wieder wurde das hohe und immer noch steigende US-Defizit als weltwirtschaftlicher Risikofaktor beschrieben, ohne dass die befürchteten negativen Folgen bislang eingetreten sind. Kernproblem ist die Finanzierung des Defizits – und hier befinden sich die USA in einer vergleichsweise komfortablen Situation. Denn die Folgen einer stockenden Defizitfinanzierung – fallende Dollarkurse, steigende Zinsen – haben sie selbst am wenigsten zu fürchten.

Zweitens gewinnen China und Indien als Triebkräfte der Weltwirtschaft zunehmende Bedeutung. Zwar verzeichnen beide Länder, in denen etwa 38 Prozent der Weltbevölkerung leben, schon seit mehreren Jahrzehnten hohe jährliche Wachstumsraten (China rund neun, Indien etwa sieben Prozent), aber erst in den letzten Jahren sind sie zu einem weltwirtschaftlichen Faktor geworden. Noch 1991 erzeugten sie zusammen nicht mehr als drei Prozent des Weltsozialprodukts – inzwischen ist ihr Anteil auf mehr als sechs Prozent angestiegen. China allein ist heute der drittgrößte Warenexporteur der Welt. Entwicklungen in diesen beiden Ländern strahlen also mehr und mehr auf die Weltwirtschaft aus.2 Die vorliegenden internationalen Prognosen für 2006 und 2007 unterscheiden sich (sieht man von unterschiedlichen Berechnungsmethoden ab) nur in wenigen Punkten: Allgemein wird eine Fortsetzung des globalen Wachstumstrends erwartet, wobei sich dieser 2005/2006 gegenüber 2004 etwas abgeschwächt hat. Für 2007 erwartet die Weltbank wieder eine leichte Beschleunigung.3

Die rasche wirtschaftliche Expansion und Industrialisierung in China und Indien (beides rohstoffarme Länder) ist sehr ressourcenintensiv – vor allem werden Mineralölprodukte und Metalle benötigt. Aber auch agrarische Rohstoffe (Holz, Kautschuk) und selbst Nahrungsmittel werden zunehmend nachgefragt. Dies hat zu einem Höhenflug der Rohstoffpreise beigetragen, vor allem bei Rohöl und Metallen.

Erstmalig über eine längere Periode hinweg sind die Rohstoffpreise – und zwar auch die der Nicht-Mineralöl- Rohstoffe – deutlich stärker gestiegen als die Konsumentenpreise in den Industrieländern und die Exportpreise der Industriewaren. Dies hat zu einer deutlichen Verbesserung der internationalen Austauschverhältnisse („Terms of Trade“) der Entwicklungsländer geführt – auch wenn die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD), ein intellektueller Querdenker zum neoliberalen Mainstream, mit Recht darauf verweist, dass dies den drastischen Verfall der „Terms of Trade“ der Vergangenheit nicht hat ausgleichen können. Trotzdem erklärt die große Nachfrage nach Rohstoffen aus China und Indien zu einem großen Teil die aktuell günstigen Trends in den meisten Entwicklungsländern. Selbst in Afrika ist es zu einem bescheidenen Wachstumsschub gekommen. Der hohe Bedarf an Rohstoffen erklärt auch die Tatsache, dass die Welt die Vervielfachung der Erdölpreise – entgegen den Erwartungen vieler Analysten – bislang so gut bewältigt hat. Als Beispiel sei das im südlichen Afrika gelegene Sambia genannt, das als Öl importierendes und von Land umgebenes, extrem armes Entwicklungsland per Saldo nur wenig unter den hohen Ölpreisen leidet: Denn die Kupferpreise verzeichnen ebenfalls ein historisches Hoch und haben die über lange Jahrzehnte darniederliegende Förderung von Kupfer, das einzige nennenswerte Exportprodukt Sambias, wieder in die schwarzen Zahlen gebracht.

Wachstum und Ressourcenverbrauch

Per Saldo zeigt sich, dass das rohstoffintensive Wachstum im neuen globalen „Wachstumspol Ost- und Südasien“4 vor allem den Rohstoffexporteuren nutzt, darunter überwiegend Entwicklungsländer.

Obwohl alle Prognosen die bestehenden Wachstumsrisiken benennen – neben dem US-Defizit vor allem eine Verknappung von Erdöl, mögliches Übersparen aufgrund zu hoher Unternehmensgewinne und ungewisse Zinsentwicklung –, wird erstaunlicherweise das wichtigste globale Risiko überhaupt nicht angesprochen. Denn die hohen Rohstoffpreise sind lediglich der Reflex des ressourcenintensiven Typs der gegenwärtigen Wachstumsperiode. Schon die kommende Generation wird voraussichtlich die Ausbreitung der Ressourcen verschlingenden und ökologisch nicht nachhaltigen westlichen Produktions- und Konsumtionsmuster auf die Mehrheit der Weltbevölkerung erleben. Ökologische Krisenszenarien der 70er Jahre sind heute wesentlich näher und somit realistischer als in der Hochzeit der Ökologiebewegung in den Industrieländern. Trotzdem gilt mehr Wirtschaftswachstum derzeit wieder als Allheilmittel. Wachstumsraten zwischen einem und zwei Prozent wie in Europa gelten als problematisch, weil sie zu niedrig seien. Das hohe Leistungsbilanzdefizit der USA würde dann nicht zum Krisenfaktor werden, wenn die Euro-Länder dazu übergingen, ihre Binnennachfrage durch eine expansive Wirtschaftspolitik anzukurbeln, das heißt ihr Wachstumstempo zu steigern.

So richtig diese Empfehlungen wirtschaftspolitisch sind, so sollte aber die ökologische (und soziale) Qualität dieses Wachstums nicht bloß deshalb ignoriert werden, weil Ökologie aus der Mode gekommen zu sein scheint. Ein Wirtschaftswachstum von einem Prozent wäre bei stagnierenden Bevölkerungszahlen und allgemein hohem Lebensstandard ein durchaus ansehnlicher Wohlstandsgewinn, wenn Verteilungsfragen und die Qualität des Wachstums in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückten. Es ist jedenfalls für die wirtschaftlich hoch entwickelten und Ressourcen verschlingenden Ökonomien des Westens keine Option, die Probleme auf dem Arbeitsmarkt und im sozialen Bereich über eine bloße Beschleunigung des Wachstums lösen zu wollen. Die Alternative zur restriktiv wirkenden neoliberalen Spar- und Umverteilungspolitik ist nicht die Rückkehr zur traditionellen expansiven Wirtschaftspolitik mit niedrigen Zinsen und höheren Staatsausgaben – die Qualität und die ökologische Nachhaltigkeit des so stimulierten Expansionspfads müssen im Mittelpunkt stehen. Peter Hennicke und Michael Müller, beide alte Vordenker einer Energiewende, fordern in ihrem neuen Buch, dass die Energiestrukturen in den Industrieländern Vorbildcharakter und Signalwirkung für Länder wie China und Indien haben müssen.5 Dies ist eine zwar alte, aber richtige Forderung. Angesichts der asiatischen Entwicklungsdynamik steht jedoch zu befürchten, dass es dafür bereits zu spät ist.

1 Vgl. Jörg Goldberg, Die Weltwirtschaft und ihre Zugpferde, in: „Blätter“, 1/2005, S. 108-110.
2 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Hyekyung Cho in diesem Heft.
3 Vgl. World Bank, Global Economic Prospects 2006, Washington D.C. 2006.
4 UNCTAD, Trade and Development Report 2005, www.unctad.org/en/docs/tdr2005overview_en. pdf.
5 Peter Hennicke und Michael Müller, Weltmacht Energie. Herausforderung für Demokratie und Wohlstand, Stuttgart 2005.

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