Ausgabe Juli 2006

Der Wille zum Wir

Ganz egal, wie die Fußball-Weltmeisterschaft am 9. Juli ausgegangen sein wird, eines steht heute bereits fest: Geschichtspolitisch bot sie ein beispielloses Spektakel. Schon lange vor dem Anpfiff schien es, als wollten sich große Teile der chattering class in ihrem Bekenntnis zu Deutschland schier überbieten. Nach dem Antritt des angeblich letzten politischen Aufgebots unter Kanzlerin Angela Merkel kam die WM offensichtlich gerade recht, um ein zweites Gründungsfest der Republik zu inszenieren. Was 1954 für die „Bonner Republik“ gewesen, sollte 2006 für die „Berliner Republik“ werden – der Initiationsakt des neuen Deutschland. Die WM als nationales Erweckungserlebnis.

Angestrengt „unverkrampft“ und mit unbedingtem Willen zum fröhlichen Wir – „Wir sind Deutschland“, „Wir Deutschen“ – rief man „Die Welt zu Gast bei Freunden“. Alles hätte so schön werden sollen – wenn nicht Uwe- Karsten Heye mit seiner Warnung vor „No-go-Areas“ im Osten der Republik kurz vor Anpfiff den Spielverderber gegeben und zeitgleich eine Serie rassistischer Übergriffe stattgefunden hätte.

Sie haben etwa 8% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 92% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Klasse statt Identität

von Lea Ypi

Die Aufklärung wird heutzutage oft geschmäht, sowohl von rechts als auch von links. Von der Rechten, weil kritisches Reflektieren, der Mut, sich seines Verstandes zu bedienen (Kant), schon immer eine Bedrohung für die passive Unterwerfung gegenüber Autorität bedeutet hat, die für die Normalisierung von Ausgrenzungen erforderlich ist.

Mythos grüne Digitalisierung

von Ingo Dachwitz, Sven Hilbig

Der Klang der Zukunft ist ein leises, elektrisches Dröhnen, das in den Knochen vibriert. Hier im Rechenzentrum herrscht niemals Stille. Es ist erfüllt von einem monotonen Chor mechanischer Flüstertöne.

Aliens unter uns?

von Ferdinand Muggenthaler

Es war ein dramatischer Appell an den chinesischen Präsidenten Xi Jinping und Donald Trump, der Ende März in der „New York Times“ erschien. Es ging dabei jedoch nicht um die Klimakrise oder eine Friedenslösung für die Ukraine. Stattdessen forderte der Kommentator Thomas L. Friedman die beiden mächtigen Männer auf, die Künstliche Intelligenz einzuhegen.

Spanien: Das Land der armen Mieter

von Julia Macher

Es gibt nicht viele Themen, die in ganz Spanien Menschen auf die Straße bringen. Landesweite Demonstrationen prägen in der Regel den Weltfrauentag am 8. März, ansonsten vereint wenig das heterogene und politisch hochpolarisierte Land. Eine Ausnahme bildet das Thema Wohnraum.