Ausgabe März 2007

Grundrechte nach Marktwert

Zur Relativierung der Menschenwürde

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das feierliche Pathos dieses ersten Satzes des deutschen Grundgesetzes aus dem Jahre 1949 gewinnt seinen konkreten Sinn erst vor dem Hintergrund alltäglichen Staatsterrors, von tödlichen Menschenversuchen, Folterpraktiken sowie der industriell betriebenen Vernichtung Angehöriger „minderwertiger Rassen“, kurz: der gesamten menschenverachtenden Realität des Nazistaates. Die ideellen Wurzeln dieser Menschenwürdegarantie sind zweifellos heterogen. Diese ist allerdings weniger Ausdruck einer „abendländisch-christlichen Leitkultur“,1 sondern vor allem inspiriert durch die säkulare Ethik Immanuel Kants sowie durch Rechtstexte wie die Präambel der UN-Charta von 1945 sowie Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948.2

Fünf Jahrzehnte lang wurde der Begriff „unantastbar“ von der deutschen Staatsrechtslehre in einem strengen Sinne wörtlich genommen: Danach ist diese Sollensaussage so zu verstehen, dass die Menschenwürde unter keinen Umständen angetastet werden darf. Ganz im Sinne Kants sollte die Menschenwürde unverrechenbar sein, „über allen Preis erhaben“.3 Mit ihrem Absolutheitsanspruch unterscheidet sich die Menschenwürdegarantie von den (anderen) Grundrechten, die von Legislative oder Exekutive eingeschränkt werden dürfen, also nur einen relativen Schutz gewähren.

Sie haben etwa 5% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 95% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Dezember 2025

In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Verbrecherische Komplizen: Libyen und die EU

von Sigrun Matthiesen, Allison West

Es war ein Tiefpunkt in der Geschichte der Seenotrettung: 20 Minuten lang beschoss am 24. August ein Patrouillenboot der libyschen Küstenwache die Ocean Viking, ein Rettungsschiff der Seenotrettungsorganisation SOS Méditerranée.