Zur Relativierung der Menschenwürde
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das feierliche Pathos dieses ersten Satzes des deutschen Grundgesetzes aus dem Jahre 1949 gewinnt seinen konkreten Sinn erst vor dem Hintergrund alltäglichen Staatsterrors, von tödlichen Menschenversuchen, Folterpraktiken sowie der industriell betriebenen Vernichtung Angehöriger „minderwertiger Rassen“, kurz: der gesamten menschenverachtenden Realität des Nazistaates. Die ideellen Wurzeln dieser Menschenwürdegarantie sind zweifellos heterogen. Diese ist allerdings weniger Ausdruck einer „abendländisch-christlichen Leitkultur“,1 sondern vor allem inspiriert durch die säkulare Ethik Immanuel Kants sowie durch Rechtstexte wie die Präambel der UN-Charta von 1945 sowie Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948.2
Fünf Jahrzehnte lang wurde der Begriff „unantastbar“ von der deutschen Staatsrechtslehre in einem strengen Sinne wörtlich genommen: Danach ist diese Sollensaussage so zu verstehen, dass die Menschenwürde unter keinen Umständen angetastet werden darf. Ganz im Sinne Kants sollte die Menschenwürde unverrechenbar sein, „über allen Preis erhaben“.3 Mit ihrem Absolutheitsanspruch unterscheidet sich die Menschenwürdegarantie von den (anderen) Grundrechten, die von Legislative oder Exekutive eingeschränkt werden dürfen, also nur einen relativen Schutz gewähren.