Gerade einmal 38 Minuten nahm sich der Bundestag jüngst Zeit, um die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Mali zu erörtern. Die Abgeordneten – Linke und AfD ausgenommen – hatten sich schon zuvor auf eine Zustimmung verständigt, obwohl die wenigsten unter ihnen ausreichend verstehen, was in Mali vor sich geht. Wie könnte eine wahrheitsgemäße Unterrichtung des Parlaments durch die Regierung geklungen haben? Etwa so: Fünf Jahre internationale Militärintervention haben für Malis Bevölkerung nicht mehr, sondern weniger Sicherheit gebracht. Kaum ein Tag vergeht ohne Anschläge, und der Staat zieht sich aus immer mehr Gebieten zurück.[1]
Die Krise in Mali ist komplex, jedoch nicht rätselhaft, und sie fiel im Jahr 2012 auch nicht vom bleichen Himmel des Sahel. Ihr Verständnis wird leichter, wenn wir zwei Faktoren beachten, die damals die nachfolgenden Ereignisse überhaupt erst möglich machten: In Libyen war gerade erst das Regime von Muammar al-Gaddafi mit Hilfe der Nato gestürzt worden und in Mali die vermeintliche Modelldemokratie zur bloßen Fassade verkümmert.
Aus libyschen Söldnerdiensten kommende, schwer bewaffnete Tuareg eroberten damals unter Führung der neuen Rebellengruppe MNLA (Mouvement National pour la Libération de l’Azawad) rasch große Teile Nordmalis. Sie gingen dazu ein zeitweiliges Bündnis mit dschihadistischen Kämpfern ein; im dünn besiedelten Raum bis zur algerischen Grenze unterhielten diese bereits seit Jahren ihre Refugien. Zu den Dschihadisten zählten (neben in- und ausländischen Arabern) gleichfalls Tuareg – an der Spitze Iyad Ag Ghali, ein einstiger Rebellenführer sowie Verhandlungspartner des Staats und des Westens bei Geiselnahmen. Bis zum heutigen Tag ist Iyad eine Schlüsselfigur im malischen Konflikt; das Magazin „Jeune Afrique“hob ihn unlängst mit der Formulierung: „Der Mann, der Frankreich herausfordert“ auf ihr Titelbild. Die Grenze zwischen jenen Tuareg-Rebellen, die der Westen säkular nennt, und den religiösen Milizionären ist also durchlässig. Für manche war und ist es eine Frage der Karriereplanung, welche Seite sie bevorzugen; Wechsel sind möglich.
Im Frühjahr 2012 war die malische Armee dieser Koalition von Kämpfern heillos unterlegen; die hohe Opferzahl löste eine Meuterei aus, daraufhin putschte in der Hauptstadt Bamako ein junger Unteroffizier. Die Fassadendemokratie fiel in sich zusammen, unter dem Applaus vieler Malier.
Dieses Vakuum nutzten die Tuareg-Rebellen: Sie riefen im Norden den Separatstaat „Azawad“ aus – politisch eine Anmaßung, stellen sie doch selbst nur 20 Prozent der Einwohner des riesigen Gebiets. Doch schon im nächsten Akt wurden die Sezessionisten nach einem kurzen Bruderkrieg durch die waffenstärkeren Dschihadisten vertrieben. Nun stand Nordmali unter einer religiös begründeten Besatzung. Die Weltmedien merkten auf.
Bereits hier, noch vor dem Eingreifen des Westens, sehen wir jene drei Stränge des Geschehens, die bis heute den Konflikt bestimmen. Sie betreffen erstens die Verteilung von Macht und Ressourcen in einem multiethnischen Staat, in dem sich außer den Tuareg noch viele andere Gruppen marginalisiert fühlen; zweitens das Verhältnis der regierenden Elite zum Volk und drittens das Eingreifen von Dschihadisten ins lokale Geschehen. Deren Interessen sind teils ökonomischer Natur – sie resultieren etwa aus dem Transsahara-Schmuggel –, doch sie wollen auch politisch-religiös gestalten.
Der malische Konflikt berührt also grundlegende Fragen des inneren Zusammenhalts und der Konfliktregulierung – in einem Land mit 30 Ethnien, dessen frankophone Elite den Zentralstaat wie ihr Eigentum behandelt.
Monokausal lässt sich diese Krise nicht erklären: weder mit der falschen Nato-Politik in Libyen noch mit den französischen Interessen am Uran in Niger und noch weniger mit der These, in Mali kämpften schwarze sesshafte Bewohner des Südens gegen hellhäutige nördliche Nomaden. Auch der halb-aride Norden, wo nur 15 Prozent der Malier leben, ist mit der Hauptethnie der Songhai mehrheitlich schwarz;[2] und Konflikte zwischen Hirten und Bauern kommen in vielen Regionen Malis vor.
Die weltweit gefährlichste Blauhelm-Mission
Ob die Dschihadisten tatsächlich ganz Mali einnehmen wollten, als ihre Kämpfer im Januar 2013 über die Grenze des bisherigen Besatzungsgebiets hinaus Richtung Süden vorrückten, bleibt umstritten. Frankreich, das schon länger für eine Intervention plädiert hatte, kam jedenfalls in diesem Moment nicht ganz unvorbereitet einem Hilfegesuch der malischen Regierung nach. Mit 4000 entsendeten Soldaten feierte die „Operatión Serval“ einen raschen, jedoch nicht nachhaltigen Erfolg: Die Dschihadisten, in unwegsame Regionen der Sahara bzw. über die Landesgrenze nach Algerien vertrieben, kehrten später zurück.
In der nördlichen Stadt Kidal, einer Hochburg der Tuareg und speziell ihres sezessionistischen Flügels, wurde das offizielle Ziel der Operation, Malis staatliche Integrität wiederherzustellen, aus taktischen Gründen sogar hintangestellt: „Serval“-Streitkräfte verwehrten der malischen Armee den Zugang zur Stadt und übergaben die militärische Kontrolle stattdessen an die Tuareg-Miliz MNLA – nicht zuletzt, um deren ortskundige Kämpfer für die Suche nach französischen Geiseln in entlegenen Stellungen der Dschihadisten zu gewinnen. Auch deshalb ist bis heute die staatliche Integrität nicht erreicht: Kidal bleibt eine Enklave, und Frankreich wird dafür ein Gutteil der Schuld gegeben, besonders von Malis städtischer Jugend, die gern heißblütigen Patriotismus mit einem etwas klobigen Antiimperialismus verbindet.
Auch die „Multidimensionale Integrierte Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali“ (Minusma), eine Blauhelmtruppe von 12 000 ausländischen Soldaten unter deutscher Beteiligung, wurde in Malis Öffentlichkeit von Beginn an mit Unwillen gesehen. Sie wurde Mali im Juli 2013 von Frankreich und der übrigen Europäischen Union aufgedrängt und mit einem Mandat ausgestattet, das von der Wirklichkeit weit entfernt ist: Minusma soll den Friedensprozess unterstützen, die Zivilbevölkerung schützen und bei neuen Sicherheitsstrukturen helfen. All dies ist jedoch kaum möglich, denn der Frieden, den die Blauhelme stabilisieren sollen, ist nicht vorhanden. Stattdessen werden diese selbst zur Zielschiebe dschihadistischer Angriffe. Die Verminung von Straßen und Selbstmordanschläge gab es in der Zeit vor Serval und Minusma noch nicht. Nun beginnt ein irregulärer Krieg, und die Vereinten Nationen gelten darin als Symbol westlicher Politik.
Für die verfehlte Konstruktion der Mission haben bis heute 155 Blauhelm-Soldaten mit dem Leben bezahlt. Obwohl (oder weil) sie so wenig bewirkt, ist Minusma die derzeit gefährlichste UN-Mission der Welt. Jeder zweite Blauhelm-Soldat, der heute stirbt, stirbt in Mali – dies allein müsste ein Grund sein, den Einsatz in Frage zu stellen.
Den eigentlichen War on Terror führt – außerhalb der UNO – weiterhin Frankreich. Seine etwa 1000 Elitesoldaten der „Opération Barkhane“[3] halten eigene Verluste niedrig, machen regelmäßig Dschihadisten „unschädlich“, tragen aber offenkundig zugleich zu deren Nachwachsen bei.
Eine Sonderrolle nehmen gleichfalls die etwa 1000 Soldaten der Bundeswehr ein, wiewohl innerhalb der UN-Mission. Das Kontingent hat am Rande der Stadt Gao ein hochgesichertes eigenes Camp, das die meisten Soldaten nie verlassen. Die dem Kontingent zugewiesenen Aufklärungsaufgaben werden vermittels der Drohne Heron 1 meist vom Camp aus erfüllt sowie durch Hubschraubereinsätze; ferner hilft die Bundeswehr den Franzosen bei Bedarf mit Luftbetankung und fliegt schwerverletzte UN-Kräfte nach Niger aus. Die Deutschen gelten in Mali als Weltmeister im Selbstschutz. Bloß keine Toten!, lautet die Anweisung aus Berlin. Dieser Einsatz ist zu zweifelhaft, um dafür zu sterben. Gleichwohl ist er mit jährlich etwa 260 Mio. Euro nicht gerade billig.
Warum die Bundeswehr überhaupt in Mali ist, erklären Diplomaten rückblickend mit übergeordneter Politik: Frankreich wollte militärische Unterstützung für seine Afrika-Missionen, zur Wahl stand noch die Zentralafrikanische Republik – da entschied man sich lieber für Mali. Dem Bundestag und der Öffentlichkeit gegenüber wurde damals mit der Gefahr des Sahara-Dschihadismus für Europa argumentiert. Mittlerweile hat der Einsatz allerdings eine schleichende Umwidmung erfahren: hin zur Migrationsbekämpfung. „Wenn wir hier abzögen, dann würden sich Millionen auf die Reise nach Europa machen“, sagt ein führender Bundeswehr-Offizier in Gao. Durch dieses neue Primat habe die UN-Mission „eine Bedeutung erhalten, die ein Umsteuern so schwierig macht“, meint ein europäischer Diplomat, der ungenannt bleiben möchte. „Tatsächlich müssen wir uns aber fragen, ob unser Vorgehen nicht den Friedensprozess verlangsamt und ihm eine Richtung gibt, die in Mali eigentlich niemand will.“
Ein Friedensvertrag als Quelle vieler Übel
Für viele Malier waren in den Jahren 2012 und 2013 Tuareg-Rebellen und Dschihadisten gleichermaßen von Übel. Nicht wenige fanden die Rebellen, weil Auslöser der Krise, sogar schlimmer. Immerhin hatten sie im Norden so viel Unheil angerichtet, geplündert und vergewaltigt, dass die ihnen nachfolgenden religiösen Besatzer zunächst sogar als Ordnungsmacht begrüßt wurden. Dieser Sichtweise hat der offizielle Friedensprozess indes in keiner Phase Rechnung getragen. Er basiert eher auf einer fremdbestimmten Definition, wer nachhaltig als Feind auszugrenzen ist und mit wem die Malier morgen wieder Freund sein sollen.
Die Verhandlungen in Algier, die im Mai 2015 zur Unterzeichnung eines 32seitigen „Abkommens für Frieden und Versöhnung“ führten,[4] schlossen dschihadistische Kräfte von vornherein aus. Einigung wurde nur zwischen der Regierung und zwei bewaffneten Gruppierungen gesucht: eine den separatistischen Rebellen nahestehende „Coordination“ und eine loyalistische, aus sogenannten Pro-Bamako-Milizen bestehende „Plateforme“. Letztere war am Ausbruch der Krise nicht beteiligt, hatte aber in der Zwischenzeit militärisch an Gewicht gewonnen.
Der Zuschnitt des Friedensvertrags wurde in der Folgezeit zur Quelle zahlreicher Übel: So lohnt es sich seither, bewaffnet zu sein. Denn nur Bewaffneten steht in Aussicht, nach einem Entwaffnungsprozess einen Job bei den Sicherheitskräften zu bekommen. Zivilisten, allen voran die Frauen, haben hingegen nichts einzufordern. Auch die Zahl der Milizen vergrößert sich seither ständig. Um vom Friedensprozess profitieren zu können, müssen sie sich einer der beiden im Vertrag fixierten Koalitionen anschließen. Immer mehr bewaffnete Kräfte verschaffen sich so das Etikett compliant armed group (CAG). Diese gilt, im Unterschied zu einer terrorist armed group (TAG), als Partner. Ihr Status verschafft den Compliant-Gruppen, allesamt am Millionen Euro schweren Drogenschmuggel beteiligt, obendrein quasi Straflosigkeit für gewöhnliche Vergehen.
Die Strategie, die Dschihadisten vom Verhandlungstisch fernzuhalten, verband sich mit dem Kalkül, die Tuareg-Rebellen so von ihren einstigen Bündnispartnern zu isolieren und eine schärfere Grenze zwischen CAG und TAG zu ziehen. Doch das Gegenteil ist seither eingetreten: „Die Grenzen zwischen Terroristen und Partnern werden immer verschwommener“, klagt ein führender Vertreter der deutschen Entwicklungskooperation im Dezember 2017.
Weil die Mechanismen des Friedensprozesses den bewaffneten Gruppen Vorteile bringen, haben sie ein Interesse daran, ihn aufrechtzuerhalten – nicht aber daran, ihn zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Ähnliches trifft nach Ansicht malischer Gesprächspartner auch auf die regierende Klasse zu: Es sei in ihrem Interesse, den Zustand von Unsicherheit und Instabilität zu verlängern, da die Anwesenheit der internationalen Akteure ihr Macht und Einkünfte sichert. Am Friedensprozess sind also vorzugsweise jene Kräfte beteiligt, denen an seinem Erfolg wenig gelegen ist, während die nach Frieden dürstende Zivilbevölkerung des Nordens außen vor bleibt.
Ein Land unter Vormundschaft
Im Einzelnen bringt die UN-Mission gewiss auch Nutzen: Ohne sie wäre womöglich der Kontakt zur nördlichen Enklave Kidal ganz abgerissen. Doch in ihrer Gesamtheit wird die Minusma heute von vielen Maliern als Last empfunden, sogar als eine Art Besatzungsmacht – und als gigantische Mittelverschwendung. Ließe sich das Jahresbudget von knapp einer Milliarde Euro nicht zivil viel besser einsetzen, um den malischen Staat zu stärken, etwa durch Armutsbekämpfung und Straßenbau?
Ein verbreiteter Vorwurf lautet, die Blauhelm-Soldaten schützten vor allem sich selbst und ließen sich zudem auf Dauer in Mali nieder. In Gao sind die Lebenshaltungskosten aufgrund des dortigen Minusma-„Supercamp“ sogar deutlich gestiegen. Vor allem die Ärmsten, sagt ein Gewerkschaftsführer, litten deshalb unter der Mission.
Die vermehrte Klage von Politikern und Intellektuellen, Mali stehe „unter Vormundschaft“, rührt aber auch aus einem Mangel an politischer Souveränität, der heute deutlicher sichtbarer ist als noch vor einigen Jahren. Verlangten ab 2014 zunächst nur einzelne Prominente, mit Dschihadisten den Dialog zu suchen, gewann die Forderung in jenem Maße an Rückhalt, wie die militärische Bekämpfung des Dschihadismus scheiterte.
Als im vergangenen Jahr eine „Konferenz zur Nationalen Verständigung“ ebenfalls einen Dialogversuch forderte, ließ Staatspräsident Ibrahim Boubacar Keita seinen Versöhnungsminister verkünden: „Mali ist bereit, mit all seinen Söhnen zu verhandeln.“ Doch nur wenige Tage später musste er seine Aussage unter französischem Druck widerrufen.[5] „Es war schockierend zu sehen, wie begrenzt unser Handlungsspielraum ist“, sagt die malische Oppositionspolitikerin Sy Kadiatou Sow, die frühere Außenministerin des Landes.
Die Modernisierung der Gesellschaft als Krisenfaktor
Besonders in Zentralmali ist es dringend, nach nichtmilitärischen Lösungen zu suchen. Seit 2015 ist das geographische Zentrum des Landes mit dem fruchtbaren Binnendelta des Niger zu einer weiteren Konfliktzone geworden. Die Region wird von einer Bewegung erschüttert, die zwischen islamistischem Terror und sozialer Revolte changiert. Sie rekrutiert sich oftmals aus jungen Hirten der Peulh-Ethnie und vertreibt die Repräsentanten eines Staates, den ihre Anhänger nur als Unterdrücker kennen, richtet Steuereintreiber und Bürgermeister hin. Korruption und Willkür sind chronisch in der Region, zumal in ihrer ökonomischen Herzkammer, dem „Office du Niger“, einer bewässerten Anbauzone von hunderttausend Hektar. Malier nennen sie das „Eldorado der Funktionäre“.
Nicht religiöser Fanatismus, sondern die miserable Regierungsführung sei für die Krise verantwortlich, meint sogar ein Vertreter der katholischen Kirche Malis. Und ähnlich wie im Norden während der Okkupation 2012 beeindrucken die Dschihadisten die Bevölkerung damit, dass ihre islamische Justiz vergleichsweise sauber und unparteiisch arbeitet. Der radikale Prediger Amadou Kouffa spricht gleichermaßen fromme und weniger fromme junge Leute an, wenn er gegen eine feudale Oberschicht von Viehhaltern wettert und eine egalitäre Gesellschaft verlangt. Dieses Element von sozialer Emanzipation innerhalb der eigenen, ständischen Gemeinschaft findet sich gleichfalls auf dem nordmalischen Konfliktschauplatz wieder: als Kampf um Aufstieg innerhalb der feudalen Tuareg-Pyramide. Die ungeordnete, nicht gestaltete Modernisierung der Gesellschaft ist ein Faktor der Krise, der dem Auge der meisten Beobachter entgeht. In allen Milieus hört die junge Generation heute nicht mehr auf den mäßigenden Rat der Alten.
Der Hass auf den Staat wird in Zentralmali noch dadurch verstärkt, dass die malische Armee willkürlich Verhaftete verschwinden lässt – trotz Kursen in Menschenrechten durch die EUTM (Mission européenne de formation de l’armée malienne), die seit 2013 malische Soldaten unter starker deutscher Beteiligung trainiert. Erst jüngst fanden Dorfbewohner erneut ein Massengrab.
Auf der Landkarte der täglichen Anschläge blinkt Zentralmali gegenwärtig besonders heftig: Dort geht nun die neue G-5-Truppe[6] der Sahelstaaten in Aktion, beantwortet von einem Trommelfeuer dschihadistischer Attacken, die auch das benachbarte Burkina Faso in Mitleidenschaft ziehen. Die „G5 Sahel“ lehnt sich politisch wie militärisch an „Barkhane“ und Minusma an und wird entsprechend bekämpft. Doch braucht es tatsächlich noch mehr Militär?
Eine alternative Richtung schlägt in Zentralmali derweil der Vorsitzende des Hohen Islamischen Rats von Mali ein, Mahmoud Dicko, ein politisch agiler und religiös gemäßigter Wahhabit. Ganz ohne offizielles Mandat versucht er, Wege zum Dialog mit den Dschihadisten zu öffnen, etwa durch den Vorschlag, Kadis einzurichten, traditionelle islamische Richter jenseits der staatlichen Justiz, die säkular und korrupt ist.
Politische Reifeprozesse jenseits des Militärischen
Vor fünf Jahren forderten viele Malier ein „großes Audit“: eine Rechenschaftslegung darüber, was in den Jahrzehnten verfehlter Demokratie geschah und wohin die Entwicklungshilfe gelangte. Ohne ein solches Audit, sagte damals ein Anwalt, „wird Mali keinen Frieden finden“. Doch die EU ließ Mali dafür keine Zeit und sperrte nach dem Putsch alle Fördergelder (diese machen ein Drittel des Nationalbudgets aus): Es sollte lieber schnell ein neuer Präsident gewählt werden, um für den War on Terror einen legitimierten Partner zu haben. Die Eile hat sich gerächt; für Mali folgten fünf verlorene Jahre. Die Entfremdung der Bürger von Staat und Politik ist noch schroffer geworden, die Erbitterung tiefer. Daraus wächst aber auch etwas Neues: eine gestärkte Opposition, eine politisierte Jugend.
Ein Oppositionsbündnis brachte 2017 eine geplante Verfassungsreform zu Fall, gegen den Willen der Vereinten Nationen und der ausländischen Partner. Gemäß Friedensvertrag sollte neben dem Parlament ein Senat als Vertretung der Regionen entstehen, ein Drittel seiner Mitglieder sollte vom Staatspräsidenten benannt werden. Das war in einem Klima gesteigerten politischen Misstrauens zu viel. Bamako wurde von Massendemonstrationen zum Schutz der Verfassung erschüttert und das Projekt auf unbestimmte Zeit vertagt. Was im offiziellen Friedensprozess als ein Mehr an Demokratie gedacht war, wurde von vielen Maliern als das Gegenteil begriffen – als Angriff auf die Demokratie. Der Vorgang zeigt: Solange der Friedensprozess die Macht der alten Elite begünstigt, wird er scheitern.
Mali braucht heute eine Neubesinnung von innen her. So zwingend eine bessere Regierungsführung ist, um als Staat zu überleben, so drängend ist es mittlerweile auch geworden, Malis multiethnische soziale Textur vor Zerfaserung zu bewahren.
Wenn im Juli Präsidentschaftswahlen anstehen, haben die neu erwachten oppositionellen Kräfte die Chance, das Gesetz des Handelns wieder in die eigenen Hände zu nehmen und den dringend nötigen Paradigmenwechsel einzuleiten. Bisher jedoch hat ein von außen dominiertes Vorgehen im Bündnis mit einer miserablen Regierungsführung das Land noch näher an den Abgrund gebracht.
[1] Ein umfassendes Studienpapier der Autorin, basierend auf Recherchen vor Ort, findet sich auf www.boell.de.
[2] Tuareg und Araber machen je etwa 20 Prozent aus.
[3] Sie hat in den Ländern des Sahel insgesamt 4000 Soldaten.
[4] Zur Vermittlergruppe zählten neben Algerien (federführend) u. a. die EU, die Minusma, die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft und die Organisation für Islamische Zusammenarbeit.
[5] Vgl. auch Charlotte Wiedemann, Verhandeln mit Dschihadisten?, in: „Le Monde diplomatique“, April 2018.
[6] Beteiligt sind neben Mali Mauretanien, Burkina Faso, Niger und Tschad, nicht jedoch Algerien.