Bild: Menschen versammeln sich in Lima / Peru, um nach dem Rücktritt von Perus Präsident Manuel Merino auf dem San-Martin-Platz zu feiern, 15. November 2020 (imago images / ZUMA Wire)
Als sich in Peru Anfang November die Jugend erhob, um gegen die Absetzung von Präsident Martín Vizcarra durch den Kongress zu protestieren, rückte das den Andenstaat für einen Moment auch in den europäischen Medien in den Fokus der Berichterstattung. Inmitten der Corona-Pandemie und einer schweren Wirtschaftskrise hatte eine Mehrheit der peruanischen Kongressabgeordneten den parteilosen Präsidenten in einem fragwürdigen Verfahren des Amtes enthoben und damit eine schwere Staatskrise ausgelöst. Hunderttausende, vor allem junge Menschen gingen in der Folge auf die Straße: Sie sehen in dem Vorgang einen „parlamentarischen Putsch“, mittels dessen sich die Abgeordneten eines Gegners entledigt hätten. Tatsächlich war Vizcarra, der sich dem Kampf gegen die Korruption verschrieben hatte, für viele Kongressmitglieder zu einer Gefahr geworden: Gegen mehr als die Hälfte der Abgeordneten wird mittlerweile wegen Korruption und anderer Delikte ermittelt, nur die parlamentarische Immunität schützt sie vor der Strafverfolgung.
Binnen weniger Tage wechselte das Land in der Folge gleich zwei Mal sein Staatsoberhaupt. Als die Proteste eskalierten und bei Auseinandersetzungen mit der äußerst brutal vorgehenden Polizei zwei Studenten getötet wurden, trat Übergangspräsident Manuel Merino nach nur fünf Tagen im Amt zurück. Nun versucht der eilig als dessen Nachfolger vereidigte, 76jährige Francisco Sagasti von der liberalen „Lila Partei“ die Wogen zu glätten: Er verspricht, die Anliegen der Protestierenden ernstnehmen und die tödlichen Vorfälle aufklären zu wollen. Doch auch von ihm ist kaum jener grundlegende Wandel zu erwarten, den die Demonstrierenden nun fordern. In den Augen der Bevölkerung ist die politische Klasse als ganze diskreditiert: Korruptionsaffären und Selbstbereicherung haben ihrem Ansehen in den vergangenen Jahren enorm geschadet. Vor allem aber die Corona-Pandemie hat die Missstände im Land jüngst drastisch zutage gefördert. Obwohl die Regierung Vizcarra bereits im März einen strengen Lockdown verhängte, verbreitete sich das Virus rasant: Offiziellen Angaben zufolge haben sich bis Anfang Dezember rund 960 000 Peruaner mit Corona infiziert, mit knapp 36 000 Corona-Toten weist das 32-Millionen-Einwohner-Land eine der höchsten Sterblichkeitsraten weltweit auf.
Eine Pandemie der Pfründe
Damit ist das Land in der Region keineswegs allein. Auch in den beiden Nachbarländern Ecuador und Kolumbien sind die Zahlen dramatisch. Bereits im April, als die Bilder der in Müllsäcke eingewickelten Leichen in den Straßen der ecuadorianischen Hafenstadt Guayaquil um die Welt gingen, bemühte man in der deutschsprachigen Presse Metaphern wie „Apokalypse“ oder „Tsunami“. Laut Johns-Hopkins-Universität fielen in Ecuador mit seinen 17 Millionen Einwohnern bis Anfang Dezember knapp 13 500 Menschen dem Virus zum Opfer, in Kolumbien waren es knapp 37 000 von insgesamt 49 Millionen Einwohnern. Allerdings ist diesen offiziellen Zahlen mit Skepsis zu begegnen. Speziell in Ecuador geben sie die Dramatik der Lage nicht einmal annähernd wieder: Betrachtet man die Daten zur Übersterblichkeit, so sind in dem kleinen Andenstaat allein bis Ende Oktober gut 37 000 Menschen mehr gestorben, als unter normalen Umständen zu erwarten gewesen wäre. Überdies ist davon auszugehen, dass zumindest in den ersten Monaten der Pandemie eine erhebliche Zahl der Corona-Toten weder in die Statistiken der allgemeinen Sterbefälle noch in die amtliche Erhebung der Pandemietoten eingegangen ist. Denn oftmals konnten keine Totenscheine ausgestellt werden, weil Amtsärzte aus Angst vor Ansteckungen die Wohnungen der Verstorbenen nicht betreten wollten – oder schlicht die hohen Fallzahlen nicht abarbeiten konnten. Die Bestatter durften deshalb viele Leichen nicht bergen, weshalb die Toten häufig „privat“ verbrannt oder einfach auf den Straßen abgelegt wurden. Bis heute können in Guayaquil hunderte Tote in den Krankenhäusern nicht identifiziert werden, weil sie bis zur Unkenntlichkeit verwest sind.
Geht man also, bei konservativer Schätzung, in Ecuador von 40 000 an Covid-19 Verstorbenen bis Ende Oktober aus, ergibt das etwa 2350 Tote pro eine Million Einwohner – und damit deutlich mehr als etwa in Belgien (1446) oder den USA (835, jeweils Stand 2. Dezember 2020). Übertragen auf die Bevölkerungszahl Deutschlands entspräche das etwa 200 000 Toten.
Um das infolge der Pandemie stark ramponierte Bild Ecuadors aufzubessern, beauftragte die Regierung des Präsidenten Lenín Moreno Mitte Juni 2020 die in Miami ansässige PR-Agentur Balsera Communications. Monatlich überwies die ecuadorianische Regierung, die den Angehörigen Verstorbener aus Kostengründen nur Pappkartons statt Holzsärge zur Verfügung stellte, 37 500 US-Dollar an das Unternehmen. Kurz darauf verschwanden die negativen Schlagzeilen. Ärzte durften nicht mehr über die untragbaren Arbeitsbedingungen sprechen, und später beschuldigte sie der Gesundheitsminister gar, das Virus selbst in die Krankenhäuser eingeschleppt zu haben. Und trotz der Wucht, mit der die Pandemie in Ecuador wütete, stellte Moreno seinen Umgang mit ihr als für die Region vorbildlich dar.
Tatsächlich waren die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in Ecuador, jedenfalls auf den ersten Blick, deutlich strenger als in den meisten europäischen Ländern: Bereits Mitte März 2020 wurden die Grenzen, Flughäfen, Restaurants und Schulen geschlossen. Der Busverkehr wurde eingestellt und für die Benutzung des eigenen Fahrzeugs ein Passierschein verlangt. Die Regierung verhängte eine landesweite Ausgangssperre, lediglich ein Mitglied pro Haushalt durfte vormittags und nur an bestimmten Wochentagen zum Einkaufen – abhängig von der Ausweisnummer. Zugleich wurde das Tragen einer Maske im öffentlichen Raum verpflichtend, sei es auf dem Gehsteig oder im Auto. Zudem sind seit inzwischen über acht Monaten die Schulen geschlossen. In Peru und Kolumbien wurden ähnlich strikte Maßnahmen verhängt.
Dennoch brach das ecuadorianische Gesundheitssystem nur gut einen Monat, nachdem Ende Februar die erste Infektion mit Covid-19 gemeldet wurde, zusammen. Bis heute hat es sich davon nicht erholt. Wer in Quito mit Atemnot und Fieber in einem öffentlichen Krankenhaus vorstellig wird, dem wird gesagt, er möge wiederkommen, wenn er sterbe.
Dass die Pandemie in der Region einen derart katastrophalen Verlauf genommen hat, lässt sich vor allem auf drei Faktoren zurückführen.
Dass die Pandemie in der Region trotz einschneidender Lockdowns einen derart katastrophalen Verlauf genommen hat, lässt sich vor allem auf drei Faktoren zurückführen: erstens auf den großen Anteil der informellen Arbeitsverhältnisse, zweitens auf die Korrumpierung der öffentlichen Verwaltung und drittens auf eine soziale Kontrolle, die sich auf rein polizeiliche Maßnahmen beschränkt.
So arbeiten in Peru rund zwei Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung im informellen Sektor und damit ohne Absicherung; in Kolumbien ist es immerhin knapp die Hälfte. Der seit März allerorten geltende Aufruf „¡Quédate en casa!“ („Bleib zu Hause!“) ist jedoch nicht umzusetzen, wenn informelle Arbeit das Überleben sichert. „Zu Hause“ bleiben kann nur, wer im Gegenzug Lohnfortzahlungen oder zumindest staatliche Ersatzleistungen erhält. Zwar versprachen die Staaten der Region bei Verhängung der Ausgangssperren vollmundig, Lebensmittelpakete an bedürftige Familien zu verteilen, doch verlor sich diese Nothilfe im Gestrüpp aus logistischer Überforderung und Korruption. Im ecuadorianischen Amazonasgebiet hatten zudem die wenigen Lebensmittellieferungen erst das Virus in die indigenen Shuar-Gemeinschaften getragen. Das Fazit der Armen lautete: „Entweder sterben wir am Virus oder am Hunger.“ Und so waren sie es auch, die von den Reichen für die Fruchtlosigkeit der verhängten Maßnahmen verantwortlich gemacht wurden: Nach einer in Peru verbreiteten Deutung habe sich das Virus wegen der Märkte und der Disziplinlosigkeit der Armen so rasch verbreitet.
Entscheidend aber dürfte, jedenfalls in Ecuador, der zweite Faktor gewesen sein. Posten in der öffentlichen Verwaltung – und damit im öffentlichen Gesundheitswesen – werden innerhalb der politischen Klasse wie Pfründe verteilt; diese Postenvergabe ist die Währung, mit der politische und persönliche Loyalität erkauft wird. Das Gesundheitswesen ist im Herbst 2017 ebendieser Aufteilung zum Opfer gefallen, als Lenín Moreno ein Referendum durchführen ließ, dessen Ziel unter anderem darin bestand, die Wiederwahl seines Vorgängers Rafael Correa zu verhindern und die Justizorgane unter seine Kontrolle zu bringen. Die Zustimmung zu dieser Volksbefragung hat sich Moreno politisch erkauft – und zwar ausgerechnet mit der gezielten Vergabe von Posten im Gesundheitssystem an jene Politiker und ihre Angehörigen, die den Präsidenten bei der Kampagne unterstützten. Krankenhäuser stellen in Ecuador eine beachtliche Einnahmequelle dar, weil sie autonom wirtschaften. Die auf diese Weise auf ihre Posten gelangten neuen Krankenhausdirektoren nahmen in der Folge „Ärzte“ unter Vertrag, die keine waren, und kauften Medikamente und medizinische Güter zu überhöhten Preisen bei ihnen nahestehenden Firmen oder bloß zum Schein und füllten sich damit letztlich die eigenen Taschen. Justiz und Polizei funktionieren in Ecuador auf ähnliche Weise.
Das institutionalisierte Chaos
Die Institutionen nehmen somit ihre Aufgabe der Daseinsversorgung gar nicht oder nur völlig unzureichend wahr, sondern sind vielmehr Beute der politischen Klasse: für den Nehmer der Posten sind sie eine Einnahmequelle, für den Geber ein Mittel, Loyalität und damit Macht zu sichern – und oftmals, um den décimo, also das Zehntel des Gehalts, zu erhalten. Da überdies die Regierung Moreno 2019 etwa 3500 Beschäftige im öffentlichen Gesundheitswesen entließ, war dessen Kollaps nur eine Frage der Zeit.
Profiteure der Krise waren hingegen die Privatkliniken, an die sich die Armen in ihrer Verzweiflung wandten. Viele Überlebende stehen nun vor einem Schuldenberg, denn oft verlangen die Kliniken vor Herausgabe der Leichen von deren Angehörigen die Begleichung der horrenden Rechnungen.
Diese in der Krise offensichtlich gewordene Dysfunktionalität des Gesundheitssystems ist für die Eliten Ecuadors freilich funktional: Sie profitieren gerade davon, dass Einrichtungen wie die Justiz, Presse oder Legislative nicht im herkömmlichen Sinne funktionieren und somit auch keine Kontrollfunktion ausüben können. Dieses institutionalisierte Chaos, das neofeudale Netz persönlicher Abhängigkeiten, die das Land durchziehen, ist in der Krise bloß deutlich sichtbar geworden – bestanden hat es schon lange zuvor.
In Peru herrschen ähnlich desaströse Zustände: Trotz eines enormen Wirtschaftswachstums in den vergangenen Jahren – zwischen 2003 und 2019 wuchs Peru schneller als alle anderen großen Volkswirtschaften Lateinamerikas und konnte so die Armutsrate in derselben Zeit von 60 auf 20 Prozent senken – verfügt das Land über ein chronisch unterfinanziertes und zudem von Korruption durchzogenes Gesundheitssystem. Während die staatlichen Kliniken Armenspitälern gleichen, werden die Privatkliniken geführt wie lukrative Unternehmen. Zeitweilig verlangten sie von Covid-19-Patienten Garantiezahlungen von umgerechnet 10 000 Euro, damit sie sie überhaupt aufnahmen. Dennoch wenden sich auch hier viele Arme in ihrer Not an diese Kliniken, weil die Versorgung in den staatlichen Krankenhäusern so mangelhaft ist.
Der dritte Faktor, der zur Katastrophe führte, ist die polizeiliche Dominanz in der Pandemiebekämpfung. Da auf sonstige Institutionen in der Krise nicht zurückgegriffen werden kann, übernehmen die Polizeien der Region mehr schlecht als recht deren Aufgaben. So wurden zwar strikte Maßnahmen wie Ausgangssperren und Fahrverbote verhängt, die sich aber als nicht hinreichend differenziert für die Bekämpfung eines Gesundheitsnotstands erwiesen. Eine Aufklärung über Übertragungswege, Kontaktnachverfolgung und die Einhaltung von Quarantänemaßnahmen, wie sie hierzulande beispielsweise die Gesundheitsämter übernehmen, wurde damit gerade nicht erreicht.
Die bloße Kontrolle des öffentlichen Raums war nicht nur ineffektiv, sondern führte mancherorts sogar zu brutalen Übergriffen durch die Polizei. In Guayaquil etwa machten Polizisten Jagd auf informelle Händler, in Bogotá wurde der 46jährige Anwalt Javier Ordóñez von der Polizei zu Tode geprügelt, nachdem er wegen des Verstoßes gegen das nächtliche Alkoholverbot festgenommen worden war.
Es sind nicht zuletzt die Folgen der neoliberalen Politik, die nun viele junge Menschen in Peru auf die Straßen treiben.
Schließlich ist der Verlauf der Pandemie in der Region aber auch eine Folge der Privatisierung dessen, was eigentlich öffentlich sein sollte – allen voran der Gesundheitssysteme. Die Nachwirkungen der durch die Strukturanpassungsprogramme des IWF in den 1980er und 90er Jahren initiierten Privatisierungswelle sind fast überall in Lateinamerika bis heute zu spüren.
Es sind nicht zuletzt die Folgen dieser neoliberalen Politik, die nun viele junge Menschen in Peru auf die Straßen treiben. Sie fordern einen grundlegenden Wandel nach dem Vorbild Chiles, dessen Bevölkerung Ende Oktober für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung stimmte und damit dem neoliberalen Modell aus den Zeiten der Pinochet-Diktatur ein Ende bereiten will. Wenn im kommenden April Präsidentschafts- und Parlamentswahlen anstehen, könnten sie ihre Stimme geltend machen: Etwa 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler sind jünger als 34 Jahre.
Und auch in Ecuador könnten die Menschen ihrem Unmut bald Luft verschaffen: Voraussichtlich Anfang Februar finden dort Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Zwar hat der Wahlrat dem in Umfragen führenden, Ex-Präsident Rafael Correa nahestehenden Kandidatenduo der Linken, Andrés Arauz und Carlos Rabascall, eine Kandidatur bislang mit teils abwegigen Argumenten verweigert, doch steht eines bereits fest: Der amtierende Präsident Moreno wird angesichts historisch schlechter Zustimmungswerte nicht wieder antreten.