
Bild: Tisch eines Schulkindes mit COVID-19 Antigen-Testkit, 12.3.2021 (IMAGO / MiS)
Für das Coronavirus hätte die Bundestagswahl auf keinen günstigeren Zeitpunkt fallen können: Obwohl das Land bereits mitten in der vierten Welle steckt, gab es aus der Politik im Wahlkampf vor allem Entwarnungen und das ungedeckte Versprechen, ein Ende der Pandemie sei in Sicht, es würde keinesfalls einen weiteren Lockdown geben. Beinahe wöchentlich mehrten sich die Stimmen, die ein Ende aller Maßnahmen forderten. Dabei bleibt nach wie vor eines völlig unklar: Wie kommen wir angesichts der unzureichenden Impfquote und insbesondere den auch im zweiten Corona-Herbst alles andere als gut gerüsteten Schulen und Kitas möglichst sicher durch den Herbst und Winter?
Die im Sommer gesunkenen Infektionszahlen haben wie im Vorjahr ein trügerisches Sicherheitsgefühl erzeugt, dem allzu viele auch aus der Politik Glauben schenkten. Zudem stärkte die nach Anfangsschwierigkeiten erfreulich steigende Impfquote auch dank gut funktionierender Impfzentren zunächst die Hoffnung, bis zum Herbst eine ausreichende Zahl an Menschen gegen eine schwere Covid-19-Erkrankung geimpft zu haben. Doch davon sind wir mit noch deutlich unter 70 Prozent komplett Geimpften weit entfernt – und derweil in Großbritannien und Dänemark die über 60jährigen annähernd zu 95 Prozent und mehr geimpft sind, sind es bei uns lediglich 84 Prozent. So sehnsuchtsvoll so mancher Blick gen Westen gerichtet ist, wo viele Beschränkungen längst gefallen sind, gibt es einen weiteren gravierenden Unterschied zwischen der Bundesrepublik und Großbritannien: Das Durchschnittsalter liegt dort bei nur 40,5, bei uns dagegen bei 45,7 Jahren, was eine weit größere Gefahr aufgrund des höheren Anteils älterer Menschen bedeutet.[1]
»Freedom Day« statt Kinderschutz
Dennoch müsse hierzulande endlich wie in Großbritannien ein „Freedom Day“ her, forderte eine Woche vor der Wahl der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, der schon im vergangenen Jahr für einen sorgloseren Umgang mit der Pandemie geworben hatte.[2] Am 30. Oktober solle Schluss sein mit allen Corona-Maßnahmen. Kein Abstand, keine Masken, keine Tests, keine Zugangsbeschränkungen mehr. All jene, die noch ungeimpft seien, trügen dann einfach persönlich das Risiko, im Falle einer Infektion schwer zu erkranken. Der Staat sei nicht länger dafür zuständig, „jeden davor zu schützen, wenn längst ausreichend Impfstoff da ist“. Schließlich gäben die verbleibenden sechs Wochen „jedem, der will, genug Zeit, sich noch impfen zu lassen“. [3]
Das allerdings ist, und hier liegt der auch medizinische Skandal dieser Aussagen, nicht der Fall: Für einen erheblichen Teil der hiesigen Bevölkerung gibt es bislang gar keinen zugelassenen Impfstoff, nämlich für die neun Millionen Kinder unter zwölf Jahren. Daneben sind infolge eigener Vorbelastung manche Menschen gar nicht in der Lage, sich impfen zu lassen – oder erzielen keine ausreichende Impfreaktion. All jene bleiben so bis auf weiteres ungeschützt dem Virus ausgesetzt.[4] Dessen inzwischen auch hier das Infektionsgeschehen dominierende Delta-Variante ist zudem weit ansteckender als der Virustyp aus dem vergangenen Winter, und auch gefährlicher.
Das allerdings ficht den Orthopäden, Unfallchirurgen und Rheumatologen Gassen nicht an, für Kinder gebe es „in der Regel kein relevantes Risiko“ bei einer Infektion. Doch selbst wenn tatsächlich nur ein kleiner Teil infizierter Kinder ins Krankenhaus muss, wüchse mit steigenden Infektionszahlen unter ihnen gleichwohl die Zahl der erkrankten Kinder. Zudem wissen wir noch immer viel zu wenig über Langzeitfolgen wie Long Covid, das auch nach symptomloser Infektion auftreten kann – und wovon schon jetzt auch Kinder betroffen sind. Dessen Dimension und die damit verbundenen gesellschaftlichen Folgekosten werden auch unter erwachsenen Infizierten derzeit noch eher unter- als überschätzt.[5] Es gibt also gute Gründe, die Kleinsten bis zur absehbaren Zulassung eines Impfstoffs auch für diese bzw. einer ausreichenden Impfquote unter den Erwachsenen so gut es geht zu schützen – und dabei endlich sowohl deren Bildung als auch ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sicherzustellen, anstatt beides gegeneinander auszuspielen. So richtig es ist, auf die sozialen Defizite derer abzustellen, die eben keine guten Lernbedingungen zu Hause haben, so falsch ist es, damit eine potentielle Covid-Erkrankung bei allen Kindern in Kauf zu nehmen, die man in vollbesetzte Klassen ohne Abstand zum Präsenzunterricht verpflichtet.
Von Solidarität keine Spur
Damit dies sicherer möglich ist, müssten die Kinder auf die Solidarität jener zählen können, für deren Schutz sie in den vergangenen eineinhalb Jahren massiv zurückgesteckt haben. Doch darauf ist kein Verlass. Ganz im Gegenteil: Sie werden auch in der Corona-Frage einfach regelmäßig vergessen – oder in der Hoffnung, es werde schon alles gutgehen, gleich der Durchseuchung preisgegeben, ohne für ausreichende Schutzmaßnahmen zu sorgen: Weder werden bislang Kitakinder bundesweit mit den zur Verfügung stehenden, einfach zu handhabenden und präzisen Lolli-PCR-Pool-Tests versorgt, um mögliche Ausbrüche rasch zu erkennen und zu unterbinden, wie es das RKI längst vorschlägt. Noch sind die Schulen mit einer relevanten Zahl an mobilen Luftfiltern ausgestattet, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren. Erst, als in manchen Bundesländern längst die Sommerferien angebrochen waren, stellte der Bundestag endlich Gelder für mobile Luftfilter zur Verfügung; bis dahin durften nur fest verbaute kofinanziert werden. Deren Einbau bis zum Herbst war völlig unrealistisch, geschweige denn, dass alle Klassenzimmer dafür geeignet sind. Nun ist es in der seither verbleibenden Zeit unmöglich, mobile Filter in ausreichender Zahl anzuschaffen. Die Schülerinnen und Schüler schauen also im zweiten Jahr in Folge einem kalten Schulalltag mit offenen Fenstern entgegen. Anders als mit fortwährender Ignoranz ist all das nicht zu erklären.
Der politische Schaden dürfte immens sein: Familien tragen seit Beginn der Coronakrise einen Großteil der Belastungen – und sehen jetzt einem Herbst und Winter entgegen, dessen Corona-Ausschläge sie neben dem Klinikpersonal wieder am härtesten treffen werden. Faktisch stehen wir beim Schutz der Jüngsten nicht viel besser da als vor einem Jahr – mit dem dramatischen Unterschied, dass heute eine erheblich ansteckendere Virusvariante kursiert. Angesichts dessen nun auch die Abkehr von Hygieneregeln zu fordern, wie es neben dem KBV-Chef auch einige Landesbildungsministerien, ja selbst die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) sowie die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) tun, ist schlicht fahrlässig.[6] Letztere fordern in ihrer jüngsten Stellungnahme sogar, auf regelmäßige Testungen von Kindern zu verzichten, erklären Luftfilter für unnötig und Stoßlüften für ausreichend – wo das nicht sichergestellt sei, solle kein Unterricht stattfinden. Das trifft allerdings weit mehr Klassenräume, als den Unterzeichnern der Stellungnahme bewusst sein dürfte. Dennoch sollten ihnen zufolge Schulen und Kitas ungeachtet „der regionalen Inzidenz im Regelbetrieb geöffnet“ bleiben.[7]
Wir brauchen einheitliche Vorgaben
Während Eltern – sofern ihre Arbeitsverhältnisse das ermöglichten – im vergangenen Schuljahr noch selbst entscheiden konnten, ob und wie sie das Risiko einer möglichen Infektion ihrer Kinder eingehen wollten, gilt nunmehr wieder prinzipiell die Allgemeine Schulpflicht ohne Ausnahme. Eingeschlossen auch Kinder, die zu Risikogruppen gehören. Der durchaus nachvollziehbare Anspruch, Kindern wieder einen uneingeschränkten Alltag der Begegnung mit Freunden und schulischer Bildung zu ermöglichen, trifft jedoch auf eine Gesellschaft, die es nicht geschafft hat, dafür die nötigen Bedingungen zu organisieren: Denn wäre ein weit größerer Teil jener geimpft, für die es längst ausreichende Impfangebote gibt, wäre die Gefahr eines Ausbruchs unter Kindern weit geringer.
Nun aber sind die Familien jüngerer Kinder den absehbaren Infektionen an Schulen und Kitas inklusive den daraus folgenden Quarantäneanordnungen ohne ausreichende Unterstützung ausgesetzt: Zwar erhalten angestellte Eltern zusammen auf einfachem Wege bis zu 130 Tage Kinderkrankengeld in Höhe von 67 Prozent des Nettolohns, wenn sie zu Hause die Betreuung sicherstellen müssen.[8] Für Selbstständige gestaltet sich das jedoch schwieriger – und jeder Familie ohne eigenen Garten fällt spätestens nach zwei Tagen die Decke auf den Kopf. Hinzu kommt, dass die Eltern auf das Entgegenkommen ihrer Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber wie ihrer (kinderlosen) Kolleginnen und Kollegen angewiesen sind, die die ausfallenden Arbeitskräfte kompensieren müssen.
Daraus jedoch zu schließen, vorzugsweise vollständig auf Quarantänevorgaben zu verzichten, um den Schul- wie Kitabetrieb zugunsten einer reibungslos funktionierenden Arbeitswelt möglichst einschränkungsfrei aufrecht zu erhalten, kann nicht die Antwort sein. Denn damit liefe man Gefahr, vermeidbare Ansteckungen noch weiter zu forcieren. Stattdessen wäre es dringend nötig, dass sich die Kultusminister endlich auf einheitliche Regelungen verständigen: nämlich auf eine fünftägige Quarantäne mindestens für direkte Sitznachbarn mit der Möglichkeit einer anschließenden – am besten PCR-gestützten – Freitestung sowie engmaschiger Tests für die restliche Klasse.
Um jene zu schützen, die sich selbst nicht durch Impfungen immunisieren können, muss in den nächsten Wochen vor allem – und zwar auf unterschiedlichsten Wegen – massiv in die Impfbereitschaft derer investiert werden, die sich bereits impfen lassen können. Nur so können wir sowohl für einen möglichst normalen Alltag der Kinder sorgen, als auch verhindern, dass wir einen zweiten Winter mit vollgelaufenen Intensivstationen erleben.
Impfungen vorantreiben, Gesundheitspersonal schützen
Denn eines fand in den Wochen vor der Wahl viel zu wenig Beachtung: Die Krankenhäuser füllen sich schon wieder, das Risiko für einen stationären Aufenthalt hat sich mit Delta fast verdoppelt. Der Großteil der Patienten ist ungeimpft, von einem schweren Verlauf sind auch junge, gesunde Menschen betroffen – fast 30 Prozent der derzeit auf den Intensivstationen betreuten Covid-19-Patienten sind unter 50 Jahre alt. All die schwer erkrankten Menschen binden viel Personal, zahlreiche Kliniken arbeiten daher schon jetzt wieder im Drei-Schichtsystem mit spezialisierten Ärztinnen und Ärzten auch in der Nacht, mit wenig Erholungsmöglichkeiten für das medizinische Personal. Kein Wunder also, dass der Frust bei diesem angesichts der vermeidbaren schweren Verläufe weiter anwächst.[9]
Angesichts der unzureichenden Impfquote und der steigenden Zahlen von schwer erkrankten Patienten bereits unter den derzeit noch geltenden Corona-Maßnahmen wiesen zahlreiche Medizinerinnen und Politiker die Freedom-Day-Forderung von Gassen umgehend zurück[10] – und zwar völlig zu Recht. Anstatt kriterienlos ein Ende der Pandemie herbeizuphantasieren, müsste jetzt dringend dafür gesorgt werden, dass all jene Menschen für eine Impfung gewonnen werden, die sie bislang versäumt haben, ohne ideologisch verbohrte Impfgegner zu sein.
Dass dabei noch viel Luft nach oben ist, zeigt das kleine Bundesland Bremen, das unter der Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linkspartei) die deutschlandweit höchste Impfquote vorweisen kann – dank direkter Ansprache, maßgeschneiderter Angebote für Menschen in besonders von Corona betroffenen Gebieten und einer gut ausgestatteten Hotline mit kurzen Wartezeiten sowie Gesundheitsfachkräften, die vor Ort Aufklärungsarbeit leisten.[11]
Dafür braucht es aber weit mehr als eine einzelne, überhastet von Gesundheitsminister Jens Spahn verkündete Impfaktionswoche, die mit schönen Bildchen auf Twitter und Instagram beworben wird. Vereine, Arbeitgeber, Sozialeinrichtungen müssen eingebunden werden, mehrsprachige Flyer, Werbekampagnen mit aufklärendem Inhalt müssen den Weg zu jenen Menschen finden, die die bisherigen Aktionen nicht erreicht haben. Jetzt ist es an der Zeit, die Leute endlich direkt anzusprechen – kontinuierlich, auf verschiedenen Wegen und niedrigschwellig. Erst wenn das gelungen ist, können wir dem Weg Dänemarks und Großbritanniens folgen, ohne unsere Kinder einer Durchseuchung preiszugeben, deren Folgen niemand wirklich verlässlich einschätzen kann.
[1] Die Insel hat zudem auf die Bevölkerung gerechnet fast doppelt so viele Tote zu beklagen wie die Bundesrepublik und sich damit ihre „Freiheit“ ziemlich teuer erkauft.
[2] Vgl. Annett Mängel, Ärzte gegen die Aufklärung, in: „Blätter“, 12/2020, S. 61-68.
[3] Kassenärztechef: „Alle Corona-Maßnahmen in sechs Wochen aufheben!“, www.noz.de, 18.9.2021.
[4] Am 20.9.2021 kündigte Biontech erfolgversprechende Ergebnisse der Impfstudien an unter zwölfjährigen Kindern an, bis zur endgültigen Zulassung wird es aber noch dauern.
[5] Vgl. Long-Covid: Erste Erkenntnisse bei Studie an Uniklinik Kiel, www.ndr.de. 11.9.2021.
[6] So setzte die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien nach den Ferien zunächst die Maskenpflicht an Schulen aus, vgl. Keine Maskenpflicht im Unterricht: Verwirrung um Prien, www.sueddeutsche.de, 20.8.2021.
[7] Infektions- und Übertragungsrisiken von SARS-CoV-2 und die Morbidität und Mortalität bei Kindern und Jugendlichen – Einfluss von saisonalem Verlauf, Virusvarianten und Impfeffekten, www.dgpi.de, 15.9.2021.
[8] Pro Kind stehen jedem Elternteil 30 Tage im Jahr zu, Alleinerziehenden 60 Tage, bei drei Kindern und mehr insgesamt 130 Tage.
[9] Vgl. dazu Lungenarzt Cihan Çelik: „Ich bin etwas desillusioniert“, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 19.9.2021.
[10] Vgl. Tobias Schmidt, Lauterbach kontert Gassen: Stopp der Corona-Maßnahmen „unvertretbar“, www.noz.de, 18.9.2021; Dirk Fisser, Lars Laue und Tobias Schmidt, Gegenwind für Gassen: Auch Kanzleramt kritisiert den „Freedom Day“, www.noz.de, 19.9.2021.
[11] Vgl. Aktionswoche der Bundesregierung: Wer sind die Impfverweigerer – und wie kann man sie erreichen?, www.spiegel.de, 17.9.2021.