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In einer Video-Konferenz des CDU-Präsidiums warnte die Bundeskanzlerin Ende September dieses Jahres davor, dass, wenn der Trend anhalte, man bis Weihnachten „19 200 Infektionen am Tag“ haben werde – sofern es keine ernsthaften Eindämmungsversuche gebe.[1] Von „purem Alarmismus“ und „Kaffeesatzleserei“[2] schrieb daraufhin die „Bild“-Zeitung, ganz im Einklang mit Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie der Universität Bonn. Dieser erkannte noch Anfang Oktober bei „Markus Lanz“ lediglich „eine Dauerwelle, aber mitnichten diese stark steigende exponentielle Kurve“.[3] Nur einen Monat später hatte der rasante Anstieg der Fallzahlen Merkels Corona-Prognose bereits eingeholt. Und am 5. November wurde die von ihr für Weihnachten befürchtete hohe Zahl an bestätigten Corona-Infektionen überschritten: 19 990 neue Fälle führte das Robert-Koch-Institut an, nur einen Tag später waren es bereits 21 506.[4]
Dennoch trommelten „Bild“ und Co. noch am 28. Oktober gegen den sogenannten Wellenbrecher-Lockdown, mit dem die Verbreitung des Virus eingedämmt werden sollte, um eine Überlastung der Krankenhäuser zu vermeiden und die Gesundheitsämter wieder in die Lage zu versetzen, Infektionsketten nachzuverfolgen und somit auch besonders vulnerable Gruppen besser zu schützen: „Ärzte-Aufstand gegen Merkels Lockdown-Plan“, titelte das Springer-Blatt. Just an dem Tag, an dem die Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen der Länder mit der Bundeskanzlerin die Schließung von Museen, Theatern, Kinos, Sportstudios und ein Verbot touristischer Übernachtungen in Hotels und Ferienwohnungen beschlossen und dafür um Verständnis in der Bevölkerung warben, präsentierten der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, der Tropenmediziner Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck eine „Gemeinsame Position von Wissenschaft und Ärzteschaft“[5], in der sie sich gegen einen (partiellen) Lockdown aussprachen. Stattdessen forderten sie, ohne auf die aktuelle dramatische Entwicklung auch nur einzugehen, erstens, von der Kontaktpersonennachverfolgung abzusehen, zweitens, ein einheitliches Ampelsystem einzuführen, „anhand dessen sowohl auf Bundes- als auch auf Kreisebene die aktuelle Lage auf einen Blick erkennbar wird“, drittens, auf „Gebote“ statt „Verbote“ zu setzen, und sich viertens auf den „spezifischen Schutz der Bevölkerungsgruppen, die ein hohes Risiko für schwere Krankheitsverläufe haben“, zu fokussieren.
Nicht nur „Bild“, auch die „tagesschau“ sprach daraufhin von „Kritik aus der Ärzteschaft“[6] und erweckte somit den Eindruck, als gäbe es unter dieser einen breiten Konsens darüber, dass dem Virus mit freundlichen Bitten um Rücksichtnahme und dem Schutz besonders verletzlicher Gruppen beizukommen wäre. Dem widersprachen allerdings umgehend zahlreiche Ärzte und Standesvertretungen – insbesondere aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der Stellungnahme um ein bereits drei Wochen altes Papier handelte, dass also gar nicht auf der Höhe der Pandemie-Entwicklung sein konnte.
Der Berufsverband deutscher Anästhesisten distanzierte sich daher deutlich und warnte davor, dass die Stellungnahme zur Verunsicherung der Bevölkerung beitrage: „Viel stärker als im Frühjahr gehe es jetzt darum, einen Kollaps der gesamten Intensivmedizin in Deutschland und damit sehr viel mehr Tote zu vermeiden.“[7] Auch der Marburger Bund kritisierte laut „Ärztezeitung“ das Positionspapier scharf; es sei „falsch und makaber, angesichts drastisch steigender Infektionszahlen gegen eine vermeintliche Verbotspolitik zu polemisieren und den Eindruck zu erwecken, dass ‚ein bisschen Kontrollverlust‘ gar nicht weiter schlimm sei“.[8] Von Einsicht bei der „Bild“ war dennoch keine Spur, stattdessen nur Häme darüber, dass das „Kanzlerinnen-Orakel daneben“ lag, sprich: sogar deutlich übertroffen wurde.[9]
Überlastung der Krankenhäuser droht
Derweil hatte sich sowohl die Zahl der wegen Covid-19 auf den Intensivstationen des Landes betreuten Patienten als auch derjenigen, die beatmet werden müssen, innerhalb von zwei Monaten mehr als verzehnfacht.[10] Doch während die vermeintliche Kritikerfront „der Ärzteschaft“ angesichts dieser Zahlen schnell in sich zusammenfiel und sich nach ein paar Tagen selbst KBV-Mitunterzeichner Andreas Gassen plötzlich dafür aussprach, „die hohen Infektionszahlen unbedingt und konsequent“ zu senken[11], verstärkte sich in der nach dem ruhigen Sommer coronamüden Öffentlichkeit der Eindruck, in der Wissenschaft stünden sich zu gleichen Teilen Ärztinnen und Forscher gegenüber, die kontrovers und mit offenem Ausgang über den richtigen Umgang mit dem neuartigen Coronavirus debattierten.
Dabei hatten sich bereits einen Tag vor Veröffentlichung des Positionspapiers von Streeck und Co. mit der Deutschen Forschungs-, der Helmholtz und der Leibniz-Gemeinschaft, der Fraunhofer- und der Max-Planck-Gesellschaft sowie der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina die führenden Forschungsinstitutionen der Bundesrepublik dringend für eine Einschränkung „aller Kontakte, die ohne die aktuell geltenden Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen stattfinden“, ausgesprochen, um so eine Unterbrechung der Infektionsketten zu erreichen: „Es ist ernst“, betitelten sie ihr Positionspapier, es müsse so früh und so konsequent wie möglich gehandelt werden, um den exponentiellen Anstieg der Infektionszahlen abzumildern und damit eine Überlastung der Krankenhäuser zu vermeiden.[12]
Dass Letzteres keine abwegige Vermutung ist, sondern bei Nichtstun spätestens im Dezember die Überlastung auch hiesiger Krankenhäuser droht, zeigte da bereits ein Blick in die europäischen Nachbarländer: Nach einem ruhigen Sommer füllten sich im Oktober allerorten die Krankenhäuser und Intensivstationen bis zur Belastungsgrenze – in Tschechien, das im Frühjahr mit geringen Infektionszahlen und wenigen Toten durch die erste Corona-Welle gekommen war, aber auch im seit März stark betroffenen Belgien, in den Niederlanden, in Frankreich und der Schweiz. Während sich manche Urlaubsreisende noch im September über die maskenlose Freizügigkeit im Polderland gefreut hatten, zog das Land Mitte Oktober die Notbremse: In Amsterdam, Rotterdam und Den Haag mussten Notaufnahmen geschlossen werden, weil alle Betten belegt waren und zu wenig Personal zur Verfügung stand.[13] Seitdem gilt auch in den Niederlanden eine Maskenpflicht, wird von Reisen dringend abgeraten, soll möglichst im Homeoffice gearbeitet werden und sind Restaurants geschlossen. In allen Ländern ist Personalmangel ein riesiges Problem – weil Ärztinnen und Pfleger selbst infiziert oder in vorsorglicher Quarantäne sind oder sich wie in Großbritannien die Mängel des chronisch unterfinanzierten Gesundheitsdienstes NHS dramatisch offenbaren. In Belgien sind inzwischen sogar infizierte Ärzte und Krankenpflegerinnen im Einsatz, weil es an gesundem Personal fehlt.
Auch hierzulande will Gesundheitsminister Jens Spahn dies nicht mehr ausschließen. Schon jetzt klagen Pflegekräfte über unzumutbare Belastungen: „Gestern: 19 km [gelaufen], 1:4 [Verhältnis Pflegerin zu Patienten], 200 ml getrunken ... Im Laufen..., 0 Mal zur Toilette. Und dann hörst du wie ärztliche Kollegen sich beschweren, warum wir nicht noch 2 weitere Patienten nehmen WOLLEN, die Betten sind doch schließlich da“, twitterte eine Krankenschwester am 12. November.[14] Zugleich wächst Tag für die Tag die Zahl der Menschen, die schwer an Covid-19 erkranken, intensivpflichtig werden und versterben.
Pseudomedizinische Munition für unsolidarisches Verhalten
Doch diese Realitäten werden von einer in den sozialen Medien resonanzstarken Minderheit von Ärzten und (ehemaligen) Wissenschaftlern radikal in Abrede gestellt. Den dramatischen Entwicklungen in den Nachbarländern und anderen Regionen der Welt zum Trotz liefert sie den allwöchentlich auflaufenden Coronaleugnern bereitwillig Munition für deren unsolidarisches Verhalten.[15] Bereits im April gründeten drei Hamburger Ärzte die Initiative „Ärzte für Aufklärung“, denen sich inzwischen eigenen Angaben zufolge 2000 Unterstützer angeschlossen haben.[16] Vor allem über Youtube, aber auch via „Bild“, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und in Büchern verkünden auch der emeritierte Professor für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie Sucharit Bhakdi und der Arzt und frühere SPD-Gesundheitspolitiker Wolfgang Wodarg ihre verharmlosende Sicht auf das neuartige Coronavirus.[17]
Unterstützt insbesondere von naturheilkundlich und impfkritisch orientierten Mitstreitern, stellen sie mit den immergleichen Mythen – und ungeachtet der inzwischen gesammelten Forschungserkenntnisse und der hohen Zahl an Infizierten, Erkrankten und Verstorbenen – die Gefährlichkeit des neuartigen Coronavirus in Frage: Das Virus sei kein „Killervirus“; die PCR-Tests, mit denen eine Infektion nachgewiesen wird, würden gar nicht funktionieren, sie bildeten aufgrund der vorgeblichen Fehleranfälligkeit keinen Anstieg an Infektionen ab. Dem „Corona-Hype“ liege keine außergewöhnliche medizinische Gefahr zugrunde, verkündete beispielsweise wiederholt Wolfgang Wodarg.[18] „Die Welle ist vorbei“, das Virus schon im Mai so gut wie verschwunden, war sich der Psychologe und ehemalige Direktor des Instituts für transkulturelle Gesundheitswissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, Harald Walach, sicher: Es habe schon immer Coronaviren gegeben, die Menschen kämen aufgrund einer über Jahrhunderte erworbenen Immunität damit schon klar – es sei nur für sehr wenige vorbelastete Menschen gefährlich, anstatt Infektionen zu verhindern, sei es nötig, beim „gesunden Teil der Bevölkerung eine Kontaktaufnahme mit dem Virus zuzulassen“.[19] Denn schließlich, so das wohl am stärksten verbreitete Argument, sei Covid-19 nicht schlimmer als eine Grippe.
All dies ist inzwischen eindeutig widerlegt oder, was die Maßnahmen anbelangt, schlicht nicht machbar: Es gibt keine falsch-positiven PCR-Tests, diese weisen eindeutig nur das neuartige Coronavirus nach – zwar in der Tat nur Virusfragmente, die aber ohne ein komplettes Virus gar nicht vorhanden wären. „Da ist einfach kein Raum für diese Diskussionen. Die PCR ist da einfach zweifelsfrei“, betont der Chefvirologe der Charité, Christian Drosten, wiederholt im Podcast von NDR-Info.[20] Die Tests werden validiert und zertifiziert, bevor sie überhaupt angewendet werden dürfen. Und auch wenn das neue Virus ebenfalls ein Coronavirus ist, hat es mit den herkömmlichen Erkältungs-Coronaviren außer dem Namen fast nichts gemein: Es gibt enorme genetische Unterschiede – weshalb sich das neue Virus weit dramatischer auf den menschlichen Körper auswirken kann.
Symptomloser Verlauf: Kein Grund zur Entwarnung
Der Vergleich mit der Influenza verharmlost somit die möglichen Erkrankungsfolgen von Covid-19 immens. Dass es bei einem Großteil der Infizierten zu keinem schweren Verlauf kommt, ist dabei kein Grund zur Entwarnung, sondern ein Teil des Problems: Sars-Cov-2 ist bereits hochinfektiös, bevor der Infizierte sich krank fühlt; und auch Infizierte, die völlig asymptomatisch bleiben, können hochansteckend und damit eine Gefahr für jene Vorerkrankten sein, die man besonders schützen will – so man sie nicht in sozialdarwinistischer Ignoranz ohnehin verloren gibt.
Während die Sterblichkeit bei der saisonalen Influenza bei unter 0,1 Prozent liegt, geht die Forschung bei Covid-19 von mehr als 0,3 bis zu 0,7 Prozent aus.[21] Dabei steigt die Sterblichkeit mit dem Alter rasant an; bei über 80jährigen kann sie bei bis zu 30 Prozent liegen.[22] In Frankreich wurde Mitte November jeder vierte Todesfall mit Covid-19 in Verbindung gebracht.[23] Schon jetzt gibt es in zahlreichen Staaten eine enorme Übersterblichkeit in diesem Jahr – und der kalte Winter, in dem sich die Viren pudelwohl fühlen und die Menschen sich vor allem in Innenräumen mit ihrem höheren Ansteckungsrisiko aufhalten, steht auf der nördlichen Halbkugel noch bevor.[24]
Deshalb muss es jetzt an erster Stelle darum gehen, weitere Erkrankungen und damit auch Todesfälle zu vermeiden. Denn auch, wenn viele mit Sars-Cov-2 Infizierte gar nicht oder nur leicht erkranken, müssen zehn bis fünfzehn Prozent ins Krankenhaus eingewiesen werden, rund fünf Prozent werden schwer krank. Mehr als die Hälfte aller auf den Intensivstationen liegenden Patienten müssen beatmet werden. Das ist sowohl für die Kranken als auch für die Pflegerinnen und Pfleger eine Tortur, denn die Betreuung dieser Covid-19-Kranken ist besonders aufwendig. So sind, um einen beatmeten Patienten in die Bauchlage zu bringen, vier bis fünf Personen nötig, die sich alle mit Schutzkleidung ausrüsten müssen. Zudem liegen diese Patienten viel länger auf den Intensivstationen als andere, weshalb die Betten nicht so schnell wieder frei werden, wie dies beispielsweise bei einer schwer verlaufenden Influenza-Erkrankung oder geplanten Operationen der Fall ist.
Selbst wer nicht im Krankenhaus landet, hat oft lange Zeit mit den Folgen der Infektion zu kämpfen, bisweilen sogar ohne zuvor Symptome bemerkt zu haben: Unter dem Begriff „Long Covid“ berichten immer mehr – auch junge und zuvor gesunde – Betroffene über länger anhaltende Beeinträchtigungen wie den Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns, monatelange Erschöpfung oder neurologische Beschwerden.[25] Über langfristige Spätschäden ist noch gar nichts bekannt. Ob das Virus etwa wie die Masern auch nach Jahren noch bislang unbekannte Spätfolgen zeitigen kann, kann derzeit niemand mit Sicherheit ausschließen. Steigen die Infektionszahlen weiter so dramatisch an wie seit ein paar Wochen, wären davon immer mehr Menschen betroffen. Daher kommt es zuvorderst darauf an, die Kontrolle über das Infektionsgeschehen endlich zurückzugewinnen. Und dabei hilft zuallererst die Einschränkung von unnötigen oder vermeidbaren Kontakten.
Offene Schulen um jeden Preis?
Angesichts der Erfahrungen aus dem Frühjahr[26] wurde im Herbst die Entscheidung getroffen, möglichst auf Kita- und Schulschließungen zu verzichten – auch und nicht zuletzt mit Blick auf das produzierende Gewerbe, dessen Arbeitskräfte im Falle notwendiger Kinderbetreuung zu Hause fehlen würden. Mit der politischen Entscheidung für offene Schulen mussten die Kontakte zwischen Personen jedoch andernorts beschränkt werden. So traf es im Gegenzug den Kunst-, Kultur- und Gastronomiebereich. Museen, Kinos, Theater und Restaurants, die ausgefeilte Hygienekonzepte entwickelt hatten, mussten im November wieder schließen. Der Ärger darüber ist verständlich, zumal große Shoppingcenter weiterhin geöffnet bleiben und auch Gottesdienste trotz potentieller Ansteckungsgefahr weiter stattfinden können.[27] Allerdings ist inzwischen bei mehr als drei Viertel der Infizierten gar nicht mehr nachvollziehbar, wo sie sich angesteckt haben, weshalb schlechterdings nicht auszuschließen ist, dass Restaurants und Theater auch zum Infektionsgeschehen beitragen, wie gut auch immer ihre Hygienekonzepte sind.
Das Offenhalten der Schulen wird derzeit jedoch vor allem auf dem Rücken der Lehrerinnen und Lehrer sowie der Kinder und deren Familien ausgetragen – und es ist völlig unklar, wie lange diese Entscheidung angesichts des weiteren Verlaufs der Epidemie haltbar sein wird: Der Sommer ist fatalerweise verstrichen, ohne dass sich die zuständigen Ministerien und Verwaltungen wirklich auf die absehbare zweite Welle vorbereitet hätten. Das Konzept lautet nun: Unterrichten um jeden Preis, Fenster öffnen und lüften. Das aber geht längst nicht in allen Klassenräumen, dennoch gibt es für diese in den allermeisten Fällen noch immer keine Luftfiltergeräte. Und dort, wo die Fenster geöffnet werden können, sitzen die Kinder und Jugendlichen in Winterjacke und mit Decke in der Kälte, dicht an dicht, weil die Raumgrößen den Mindestabstand von anderthalb Metern nicht erlauben. Laut RKI sollten die Klassen ab einem Wert von 50 Neuinfektionen auf 100 000 Menschen dringend geteilt und auch im Unterricht ein Mund-Nasen-Schutz getragen werden. Obwohl das angesichts der Infektionszahlen also spätestens nach den Herbstferien hätte passieren müssen, fand es schlicht nicht statt.
Den Schulen fehlt der Platz und das Personal – und zugleich die technische Ausstattung sowie das Knowhow, um flächendeckend analogen und digitalen Unterricht miteinander zu verzahnen, wie jüngst auch die Europäische Kommission monierte.[28] So sind die vor dem Sommer mit dem vom Bund aufgestockten Digitalpakt versprochenen Laptops oder Computer für bedürftige Schülerinnen und Schüler noch immer nicht an allen Schulen angekommen. Es gibt zugleich kaum funktionierende und den europäischen Datenschutzgesetzen entsprechende Cloud-Lösungen, über die Lehrer mit ihren Schülerinnen Aufgaben austauschen könnten – von der digitalen Expertise in den Schulen ganz zu schweigen. Da kommt es nach wie vor viel zu oft allein auf das persönliche Engagement Einzelner an, die, wenn es gut läuft, einen Anstoß für die gesamte Schule geben. Damit aber erfüllt die Schule längst noch nicht die technischen Voraussetzungen, damit die Lehrerinnen auch digital arbeiten können: So mancher Schulleiter rauft sich Tag für die Tag die Haare bei dem Versuch, den bereits zugesagten Breitbandausbau auch umsetzen zu lassen. Zudem fehlen den Schulen nach wie vor handfeste Konzepte und nachvollziehbare Richtlinien, wie mit Coronainfektionen umgegangen werden soll.[29]
Der Druck auf die Schulen wächst jedenfalls enorm: Mitte November waren mit 300 000 Schülerinnen und Schülern sechsmal mehr in Quarantäne als noch Ende September; hinzu kamen bereits 30 000 Lehrerinnen und Lehrer. Immer mehr Schulen mussten deshalb schließen, von einem „Salami-Lockdown“ sprach der Präsident des Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger.[30] Angesichts der steigenden Infektionszahlen bei den 15 bis 19jährigen wird es wohl nur eine Frage der Zeit sein, bis die Schulen notgedrungen zumindest die Vorgaben des RKI befolgen und kleinere Klassen mit mehr Abstand schaffen – auch wenn die Ministerpräsidenten der Länder diesen Beschlussvorschlag der Kanzlerin Mitte November noch ablehnten. Gerade für die mobilen und aktuell besonders infektiösen Jugendlichen wäre besser heute als morgen auf sogenannten hybriden Unterricht umzustellen – mit Zeiten in der Schule (in möglichst kleinen Klassen) und Zeiten zu Hause, auch wenn das auf Dauer kein optimaler Zustand ist. Denn die Viren machen, anderslautenden Kampagnen zum Trotz, vor Kindern und Jugendlichen eben nicht halt. Und auch wenn diese in den meisten Fällen nicht schwer erkranken, so können sie das Virus dennoch weitergeben. Weil sie aber meist asymptomatisch sind, geraten sie allzu oft als auslösender Fall nicht in Betracht.
Risikogruppen schützen – das bedeutet, uns alle zu schützen
Dies alles zeigt: Die Idee, wir müssten „mit dem Virus“ leben lernen, wie sie prominent einmal mehr von Streeck, Gassen und Schmidt-Chanasit Anfang Oktober vertreten wurde, ist, solange sie ohne konkrete Konzepte auskommt, nicht mehr als eine Floskel – und keine Antwort auf die derzeitige Zuspitzung der Pandemie. Denn die Herdenimmunität, die man sich von einer zunehmenden Durchseuchung der Bevölkerung verspricht, wird ohne große Verluste nicht zu haben sein: Zum einen ist noch immer nicht ausgemacht, ob und wie lange die Immunität nach einer Infektion mit Sars-Cov-2 überhaupt anhält. Zum anderen ist es wohlfeil, aber völlig illusorisch, sogenannte Risikogruppen besonders schützen zu wollen, solange man nicht die Verbreitung des Virus insgesamt zu mindern versucht. Denn Menschen mit einem besonderen Risiko leben längst nicht nur alt und betagt in abgrenzbaren Pflegeeinrichtungen – die man, auch das haben wir aus dem Frühjahr gelernt, ja zu Recht unbedingt offenhalten will, damit die Leute nicht vereinsamen –, sondern mitten unter uns: Mindestens ein Viertel der Bevölkerung ist von einem potentiell schweren Verlauf der Krankheit bedroht. Dazu zählen insbesondere Ältere, aber eben auch Menschen mit Vorerkrankungen (beispielsweise Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, chronischer Bronchitis, Typ-2-Diabetes) und laut WHO neuerdings auch Schwangere. Ein Drittel der durch Covid-19 besonders Gefährdeten ist damit jünger als 60 Jahre.[31]
Es ist also völlig ausgeschlossen, die Betroffenen besonders zu schützen, wenn wir nicht uns alle schützen. Wie dies am besten gelingen kann, darüber muss in der Tat intensiv diskutiert werden: Wer bekommt zuerst ausreichend Schnelltests und ausreichend geschultes Personal – die Lufthansa oder doch eher Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Schulen? Wie gestalten wir den Schulalltag sicher für alle Beteiligten – und damit auch für die Familienangehörigen der Kinder und der Lehrerinnen und Lehrer, die vielleicht in der Pflege arbeiten oder zu einer Risikogruppe zählen? Welche Prioritäten setzen wir als Gesellschaft bei der Verteilung von Hilfsgeldern, wie werden diese vergeben, wer bekommt wie viel?
Diese und noch viel mehr Fragen gehören strittig verhandelt, nicht zuletzt in den Parlamenten. Was wir aber wirklich nicht mehr brauchen, ist die Auseinandersetzung darüber, ob wir es hier und heute mit einer historischen Herausforderung zu tun haben. Diese „Frage“ beantwortet sich jeden Tag von selbst – durch die wachsende Zahl der Kranken und Toten.
[1] Nico Fried und Robert Roßmann, Merkel befürchtet mehr als 19 000 Infektionen am Tag, in: „Süddeutsche Zeitung“, 29.9.2020.
[2] Moritz Tschermak, So weit benimmt sich „Bild“ daneben, www.bildblog.de, 2.11.2020.
[3] Zit. nach: Roland W. Waniek, Streeck irrt hoch zwei: Corona-Infektionszahlen steigen sehr wohl exponentiell, www.ruhrbarone.de, 4.10.2020.
[4] Vgl. Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), www.rki.de.
[5] Vgl. Gemeinsames Positionspapier von Wissenschaft und Ärzteschaft zum Umgang mit der Covid-19-Pandemie, www.kbv.de.
[6] Vgl. „Intensivmediziner & Experten widersprechen: Gezielte PR-Kampagne zum Streeck-Papier“ und „Unterzeichner wider Willen: KBV-Unterstützerliste plötzlich fast halbiert“, www.volksverpetzer.de.
[7] Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA), Pressemitteilung zum KBV-Positionspapier, www.facebook.com, 29.10.2020.
[8] Anno Fricke, Corona-Positionspapier: Marburger Bund kritisiert KBV scharf, www.aerztezeitung.de, 5.11.2020.
[9] Tschermak, So weit benimmt sich „Bild“ daneben, a.a.O.
[10] Vgl. divi-Register, Covid-Patienten auf Intensivstationen, am 5.9.: 223, beatmet: 140, am 5.11.: 2653, beatmet: 1422. Bis zum 17.11. stiegen die Zahlen auf 3436, beatmet: 1971.
[11] Vgl. „Streeck-Supporter & KBV-Chef Gassen rudert zurück: Jetzt für Merkel Kurs“, www.volksverpetzer.de, 2.11.2020.
[12] Gemeinsame Erklärung der Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Präsidenten der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Coronavirus-Pandemie: Es ist ernst, www.leopoldina.org, 27.10.2020.
[13] Niederlande: Notaufnahmen wegen Corona zeitweise geschlossen, www.nrz.de, 15.10.2020.
[15] Vgl. den Beitrag von Moritz Kirchner in dieser Ausgabe.
[16] Vgl. Marija Barisic, Ärzte gegen Aufklärung, www.sueddeutsche.de, 14.11.2020.
[17] Vgl. Wolfgang Wodarg im Gespräch mit Punkt.Preradovic, Corona – kein Grund zur Panik?, www.youtube.com, 13.3.2020; Rechtfertigt die Coronalage neue Einschränkungen? Fragen an den Wissenschaftler und Coronaskeptiker Prof. Sucharit Bhakdi, in: „MDR aktuell“, 12.10.2020.
[18] Vgl. bspw. Wolfgang Wodarg, Lösung des Corona-Problems: Panikmacher isolieren, in: „Flensburger Tageblatt“, 29.2.2020.
[19] So Harald Walach und Gastautoren in diversen Blog-Einträgen, etwa am 6.5.2020, 7.10.2020, 13.11.2020.
[20] Vgl. mehrfach im Coronavirus-Update, bspw. Folge 58, 29.9.2020; die Abschriften jeder Folge sind als gesamtes Skript durchsuchbar, was einen umfassenden Einblick in die Forschungsarbeit und die Erkenntnisfortschritte im Laufe der Pandemie ermöglicht: www.ndr.de/coronaupdate.
[21] Vgl. Thomas Laschyk, Querdenker endgültig widerlegt: Corona ist viel tödlicher als die Grippe, www.volksverpetzer.de, 11.11.2020 und www.youtube.com, 10.11.2020.
[22] Folge 58 des Coronavirus-Update, 29.9.2020, S. 6 f., www.ndr.de/coronaupdate.
[23] Europa überschreitet Zehn-Millionen-Marke, www.spiegel.de, 13.11.2020.
[24] Allein bis Mai kam es zu mehr als 200 000 zusätzlichen Todesfällen, vgl. Jan Dönges, Covid-19: Statistik verrät starke Übersterblichkeit in einigen Ländern Europas. In Schweden starben bislang viermal mehr Menschen auf die Bevölkerung gerechnet als hierzulande: 0,059 zu 0,015 Prozent, Berechnung nach den Zahlen der Johns-Hopkins-Universität, https://coronavirus.jhu.edu/map.html.
[25] Vgl. etwa Tupfentier ist bald gesund!, Ein Artikel für die, die nach uns kommen, https://publikum.net, 4.11.2020; Jasmin Kalarickal, „Das war der Horror“, Interview mit Karoline Preisler, www.taz.de, 12.11.2020; WHO, What we know about Long-term effects of COVID-19, 9.9.2020, www.who.int.
[26] Vgl. Annett Mängel, Corona: Die ignorierten Armen, in: „Blätter“, 6/2020, S. 9-12.
[27] Vgl. den Beitrag von Nick Prasse in dieser Ausgabe.
[28] Vgl. EU- Kommission, Monitor für die allgemeine und berufliche Bildung 2020, Luxemburg 2020.
[29] So die Lehrerin Katrin Kramer, Corona-Maßnahmen: Hefte raus, Corona, www.zeit.de, 10.11.2020.
[30] Mehr als 300 000 Schüler sind in Quarantäne, www.tagesspiegel.de, 11.11.2020.
[31] Vgl. Coronavirus-Update, Folge 63, S. 12, www.ndr.de/coronaupdate, 3.11.2020 sowie die Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie zu einem wissenschaftlich begründeten Vorgehen gegen die Covid-19-Pandemie, www.g-f-v.org, 19.10.2020, aktualisiert am 6.11.2020.