Ausgabe Juli 2022

Globaler Hunger: Der Preis des Krieges

Ein Mann in einem Getreidesilo in Ägypten. Das Land zählt zu den größten Weizen-Importeuren der Welt, 16.5.2022 (IMAGO/Xinhua)

Bild: Ein Mann in einem Getreidesilo in Ägypten. Das Land zählt zu den größten Weizen-Importeuren der Welt, 16.5.2022 (IMAGO/Xinhua)

Von einer Krise sprach man schon, bevor der Krieg begann: Zu diesem Zeitpunkt litten bereits über 800 Millionen Menschen chronisch unter Hunger. Doch die russische Invasion der Ukraine hat die Not und die Hungerkrise deutlich verschärft. Schließlich handelt es sich um zwei Länder, die bisher genügend Lebensmittel produzierten, um schätzungsweise 400 Millionen Menschen zu ernähren, und auf die bislang allein zwölf Prozent aller weltweit gehandelten Kalorien entfielen.

Im Mai warnte UN-Generalsekretär António Guterres vor „dem Gespenst eines globalen Lebensmittelmangels“ und der „Economist“ beschwor auf dem Titelblatt „die kommende Nahrungsmittelkatastrophe“.[1] Viele dieser ersten Einschätzungen kennzeichnet eine fast tröstliche Nüchternheit: Grafiken und Tabellen zur Preisentwicklung verschiedener Grundnahrungsmittel, die sich allesamt verteuern. Ein flüchtiger Blick auf diese Statistiken mag den Eindruck vermitteln, es handele sich bei der Krise lediglich um eine Art Inflation. Aufschlussreich ist allerdings – angesichts der inneramerikanischen Debatte über den Preisanstieg im Lande –, dass tatsächlich überall auf der Welt neue Höchststände zu verzeichnen sind.

Sieht man näher hin, werden die Größenordnungen deutlich: Die Getreidepreise sind der Nachrichtenagentur Reuters zufolge um 69,5 Prozent gestiegen, die für Speiseöle sogar um 137,5 Prozent, und der allgemeine Lebensmittelpreisindex liegt um 58,5 Prozent höher als vor Kriegsbeginn. Die Auswirkungen dürften also deutlich dramatischer ausfallen, als der flüchtige Blick nahezulegen schien. Dafür spricht auch, welches Ausmaß an Gewalt in der jüngeren Vergangenheit schon mit geringeren Teuerungswellen einherging, etwa im Krisenjahr 2008, als mehr als vierzig Länder Aufstände, politische Destabilisierung und regelrechte Kriege erlebten.

Solche Statistiken zeigen allerdings ausdrücklich eines nicht: dass massenhafter Hungertod droht. David Beasley zufolge – er war einst Gouverneur von South Carolina und leitet heute das UN-Welternährungsprogramm (WFP) – weisen die Zahlen auf eben diese Katastrophengefahr hin. Beasley hält es für möglich, dass sich im Ergebnis einer anhaltenden, durch den Ukraine-Krieg noch verschärften Lebensmittelkrise sowie des Klimawandels und der Folgen der Corona-Pandemie augenblicklich 323 Millionen Menschen „auf direktem Weg in den Hunger“ befinden, wobei 49 Millionen „buchstäblich an der Schwelle des Hungertodes“ stünden.

Akute Ernährungsunsicherheit

Das WFP fungiert großenteils – wie die Vereinten Nationen insgesamt – als eine Art Lobbyorganisation und ist so gut wie permanent mit Fundraising beschäftigt. Diesmal aber handelt es sich um eine besonders halsbrecherische Anstrengung, Geld zur Abwendung der akutesten Hungergefahren aufzutreiben. Zu den Existenzbedingungen des WFP als Organisation gehört es, Furcht erregende Schätzungen und Alarmrufe von sich zu geben, die sich später als irrig erweisen können: So warnte es im vergangenen Oktober, allein im damals bevorstehenden Winter werde die Hälfte der afghanischen Bevölkerung unter möglicherweise lebensbedrohlichem Hunger zu leiden haben.

Nun ist es nicht die Aufgabe einer Interessenorganisation wie des WFP, vorauszusagen, was tatsächlich geschehen wird, sondern es hat vielmehr vor möglichen Fehlentwicklungen zu warnen und zu versuchen, diese abzuwenden. (Vergleichbar vielleicht mit den Medien können Interessengruppen manchmal den Eindruck erwecken, sie bevorzugten schlechte Nachrichten.) Das ist das inhärente Reputationsdilemma: Wenn du dein Möglichstes tust, um die Krise abzumildern, mag im Erfolgsfall der ursprüngliche Alarm übertrieben erscheinen. Doch im vergangenen Winter ist zwar nicht die Hälfte der afghanischen Bevölkerung gestorben, wohl aber etwa jedes zehnte Neugeborene, und die Ernährungsprobleme vor Ort bestehen weiter. Hunger nimmt viele Formen an, es geht nicht um ein Entweder-Oder. Weltweit ernährt seine Agentur, schätzt Beasley, schon heute Tag für Tag 125 Millionen Menschen. Im laufenden Jahr hofft er diese Zahl auf 150 Millionen steigern zu können. Die Lücke zwischen diesen beiden Zahlen repräsentiert 25 Millionen hungrige Menschen.

Dabei sollte man im Auge behalten, dass es nicht allein die „an der Schwelle des Hungertodes“ stehenden 49 Millionen sind, sondern mindestens 323 Millionen Menschen, die unter akuter Mangelernährung leiden – unter „acute food insecurity“, wie die technische Bezeichnung des WFP für diese Kategorie lautet. Es handelt sich also um die viel größere der beiden Gruppen, die Beasley nennt. Vor dem Krieg waren es, ihm zufolge, 276 Millionen, die unter akuter Mangelernährung gelitten haben, vor der Pandemie 135 Millionen und 2017, als er selbst sich dem WFP anschloss, noch 80 Millionen – wir verzeichnen also eine Vervierfachung der Zahlen im Verlauf nur einer einzigen Amtsperiode.

Schon vor dem Krieg habe er die Welt gewarnt, „dass 2022 und 2023 die schlimmsten beiden Jahre in der humanitären Weltlage seit dem Zweiten Weltkrieg werden könnten“, sagte mir Beasley Ende Mai. „Da versuche ich aller Welt zu erklären, wie schlimm es ist – wie schlimm es kommen wird.“ Aber schon eine Woche später habe er sich korrigieren müssen: „Es kam noch schlimmer, als ich es vorausgesagt hatte!“

Die drei Treiber des Hungers

Diese Verschlimmerung resultiert aus dem Krieg, aber die zugrundeliegende Krise ist sowohl größer als auch stärker strukturell bedingt. Zumindest der Einschätzung des WFP nach ist die wachsende Zahl derer, die unter die erwähnte „acute food insecurity“-Kategorie fallen, hauptsächlich auf bereits vor dem Krieg eingetretene Verschlechterungen der Lebensumstände zurückzuführen. Das liegt vor allem an der Corona-Pandemie, am Klimawandel und an akuten Konflikten – an den „drei Cs – Covid-19, climate change and conflict“, wie Chris Barrett von der Cornell University sagt, ein Ökonom, der sich speziell mit Landwirtschaft und Entwicklung befasst und leitender Redakteur der Fachzeitschrift „Food Policy“ ist. Er weist darauf hin, dass Child Stunting – so der Fachbegriff für kindliche Wachstums- und Entwicklungsstörungen – als das kumulative Ergebnis von Mangelernährung und Krankheit bisher im Grunde überall vorkam, wo Armut herrschte. Heute gilt das im Grunde nur für Armuts- und Konfliktzonen.

Hinzu kommen die mittlerweile fortwährend auftretenden klimabedingten Störungen. Der „Economist“ fasste den globalen Zustand der Landwirtschaft am Vorabend des Krieges folgendermaßen zusammen: „China, der weltweit größte Weizenproduzent, hat angekündigt, die diesjährige Ernte könnte die schlechteste aller Zeiten werden, weil im vergangenen Jahr starke Regenfälle die Aussaat verzögerten. Und während Indien, der zweitgrößte Produzent, unter extremer Hitze leidet, droht in anderen ‚Brotkörben‘ der Welt, von Amerikas Weizengürtel bis in die französische Beauce, Regenmangel die Erträge zu beeinträchtigen. Das Horn von Afrika schließlich wird von der schlimmsten Dürre seit vierzig Jahren heimgesucht.“[2]

Der Ukraine-Krieg wirkt sich nun auf seine Weise krisenverschärfend aus: Mit Embargos gegen russische Exporte sowie eine russische Blockade ukrainischer Ausfuhren, wo die Landwirtschaft zudem darunter zu leiden hat, dass unter Bombengefahr gesät und geerntet werden muss. Auch die wachsenden Kraftstoffkosten tragen erheblich zur Steigerung der Nahrungsmittelpreise bei, indem sie den Transport stark verteuern und die Kosten für Düngemittel, deren Produktion insbesondere auf Gas angewiesen ist, in neue Höhen treiben. Hinzu kommen Exportverbote, wie sie von über einem Dutzend Ländern aus Sorge um die eigene Ernährungssicherheit verhängt wurden und die Märkte zusätzlich unter Druck setzen.

Wie die gleichzeitige Energiekrise scheint der Kreml auch die Ernährungskrise als Waffe einsetzen zu wollen. Und während Führungspersönlichkeiten aus aller Welt in Davos und andernorts darauf drängten, das Problem teilweise durch Umgehung der russischen Blockade zu lösen, warnte das US-Außenministerium selbst „dürregeplagte Länder in Afrika, von denen einigen möglicherweise Hungersnot droht“: Sie dürften keinesfalls „gestohlenen Weizen“ kaufen, weil sonst der Kreml „durch Plünderung profitiere“.[3] Alles in allem haben wir es, so Barrett, mit einem „ausgewachsenen Sturm“ zu tun.

2023: Zu wenig Lebensmittel für die Weltbevölkerung?

Beasley seinerseits fürchtet, dass es 2023 noch schlimmer kommen könnte. Auf die diesjährige Preiskrise könne eine echte Versorgungskrise folgen, in der Nahrungsmittel für viele Millionen unerreichbar würden, und zwar nicht nur wegen der Preise, sondern auch aufgrund fortwirkender struktureller Umstände. Zu diesen zählt unter anderem die gescheiterte Aussaat für die nächstjährige Ernte in der Ukraine und die Explosion der Düngemittelpreise, die bis zu einem Drittel oder mehr der jährlichen Gesamtkosten eines Agrarbetriebs ausmachen. Die Welt könnte 2023 somit das einst Undenkbare erleben: Dass es tatsächlich objektiv zu wenig Lebensmittel gibt, um die Weltbevölkerung ernähren zu können.

In dieser Hinsicht sind allerdings glücklicherweise die meisten Agrarökonomen etwas optimistischer. Sie verweisen darauf, dass Nahrungsmittel größtenteils im Inland konsumiert und nicht auf internationalen Märkten gehandelt werden, weshalb Angaben wie „zwölf Prozent der weltweit gehandelten Kalorien“ irreführend sein können. Ökonomen unterscheiden sorgfältig zwischen Kategorien wie „Mangelernährung“, „Hungern“ und „Verhungern“, die ein ziemlich breites Spektrum menschlicher Nöte bezeichnen. Vielerorts lässt sich der Importausfall kompensieren, sagen die Ökonomen, selbst in den 36 Ländern, die ihren Weizen bisher regelmäßig zu 50 Prozent oder mehr aus Russland und der Ukraine bezogen. Und wo es unmöglich ist, Ersatz zu finden, kann immer noch auf Nahrungsmittelhilfen zurückgegriffen werden – der US-Kongress hat zu diesem Zweck soeben fünf Mrd. US-Dollar bewilligt.

Vor allem aber sind sich alle Agrarökonomen darin einig, dass es global grundsätzlich keinen echten Nahrungsmittelmangel gibt, sondern nur diese anspruchslos klingende „Preiskrise“. Der Ukraine-Krieg hat zwar zu einer weitreichenden humanitären Katastrophe geführt, sagen sie, aber er läuft nicht etwa auf eine Rückkehr des Malthusianismus hinaus, wonach ein unkontrolliertes Bevölkerungswachstum zu Hungersnöten und Armut führe. „Hungerprobleme sind in meinen Augen keine echten Probleme der Ernährungssysteme mehr“, meint Barrett. „Es gibt offenkundig Menschen, die nicht genug zu essen bekommen, ja, aber das liegt nicht daran, dass das Ernährungssystem nicht funktioniert. Lebensmittel werden – kommerziell – in die abgelegensten Dörfer der Welt geliefert. Konzerne wie Unilever oder Coca-Cola erreichen jedes Dorf, wo auch immer, und das ziemlich kostengünstig. Das Problem besteht darin, dass viele sich die Dinge nicht leisten können.“

Wenn das WFP das Geld bekommt, das es braucht, „können wir Hungersnöte und die Destabilisierung ganzer Länder und Massenmigration vermeiden“, erklärt Beasley. „Aber wenn wir das Geld nicht bekommen, wird es Hungersnöte geben. Es wird dann zwangsläufig zur Destabilisierung ganzer Länder und zu Massenmigration kommen.“ Beasley erwähnt die Erfolgsgeschichten der vergangenen Jahre, „als Geberländer sich engagierten und wir liefern konnten“, zeigt sich aber besorgt, dass mancherorts die Kipppunkte schon überschritten sein könnten. „Nehmen Sie all die Aufstände und Proteste, die es bereits gibt: Sri Lanka, Indonesien, Peru, Pakistan“, zählt er auf. „Destabilisierung gab es schon im Tschad, in Mali. Das sind nur Vorzeichen dessen, was auf uns zukommt – schon bald und in beispiellosem Tempo.“

Welche Ausmaße die Katastrophe letztlich annehmen wird – und ihre Opferzahl – bleibt natürlich offen. „Keiner von uns weiß wirklich, ob eine geschätzte Größenordnung von 20 Millionen sich bestätigen wird oder nicht“, sagt Barrett. „Sie liegt sicherlich im Bereich des Möglichen, wenn auch wahrscheinlich im oberen Bereich. Aber ich heiße es ausdrücklich gut, sich zu ‚irren‘, wenn man den anstehenden Problemen mit ein wenig Alarmismus begegnet.“

Das große Beben

Als Sara Menker, die äthiopische Gründerin des Start-ups „Gro Intelligence“, kürzlich vor dem Weltsicherheitsrat über die sich vertiefende Krise referierte, charakterisierte sie diese als „nicht zyklisch“ und als „seismisch“. Es handele sich um keine vorübergehende Erscheinung.

Sie führte eine Reihe von Gründen an, darunter nicht nur die Nachfrageausfälle, die durch die Pandemie und im Zusammenhang mit ihr entstandene Lieferkettenprobleme verursacht wurden, sondern auch „eine rekordverdächtige Zahl von allesamt mit dem Klimawandel verbundenen“ schweren Angebotsstörungen. Als Beispiele nannte Menker den plötzlichen Wiederanstieg der chinesischen Futternachfrage nach der Schweinepest in den Jahren nach 2018, das Problem der Staatsverschuldung in armen Ländern und den Übertragungseffekt, der entsteht, wenn steigende Preise für einen Rohstoff gleichzeitig einen anderen verteuern, der wiederum den Preis eines dritten hochtreibt und so weiter und so fort.

„Jedes dieser Probleme würde schon für sich genommen als großes Marktereignis gelten. Aber wenn fünf davon gleichzeitig geschehen, dann werden sie“, so Menker, „seismisch“. Die Verwandlung Russlands und der Ukraine in „Brotkörbe“ der ganzen Welt war für sie „das landwirtschaftliche Wunder der vergangenen etwa dreißig Jahre“ – die Widerlegung der Katastrophenprognosen von Leuten wie Paul Ehrlich und dem Club of Rome. Wenn man diese Versorgungsquelle vom Markt nimmt, „gießt man nicht ohne Folgen Öl ins Feuer“, sagt Menker, und auf die Frage nach der Größenordnung der Auswirkungen: „Ich denke, sie werden so groß werden, wie wir sie machen.“

Ausweislich der Daten ihrer Firma ist die Größenordnung bereits historisch. Schon im Dezember 2021 fielen nach Berechnungen von „Gro Intelligence“ 39 Millionen Menschen in die Kategorie „on the edge of famine“ – laut Menker eine „extreme Notlage“, buchstäblich „an der Schwelle des Hungertodes“; 780 Millionen lebten in „extremer Armut“ und 1,2 Milliarden litten unter „Mangelernährung“. Heute, fast sechs Monate später, lauten die Vergleichszahlen 49 Millionen, 1,1 Milliarden und über 1,6 Milliarden. Zehn weitere Millionen Menschen sind also, Menker zufolge, seither an die Schwelle des Hungertodes gerückt, und „in aller Welt leiden 400 Millionen Menschen aufgrund der Preissteigerungen allein der vergangenen fünf Monate verstärkt unter Mangelernährung“. Das seien „sage und schreibe mehr Menschen, als China im Laufe der zurückliegenden zwei Jahrzehnte aus der Mangelernährung geholt hat“. Ein erstaunlicher Zahlenvergleich: Die durch China in zwei Dekaden verbesserte Ernährungssicherheit, die oft als eine der wundersamsten humanitären Entwicklungen der Menschheitsgeschichte beschrieben wurde, ist im Weltmaßstab mittlerweile wieder zunichte gemacht – und dies allein seit Ende vergangenen Jahres!

In der technologischen Tretmühle

„Es liegt in der Natur des Menschen, dass wir Gegenwind zur Kenntnis nehmen, aber Rückenwind nicht beachten“ – mit dieser Bemerkung versuchte Barrett, mir zugleich mit der drastischen Schilderung der gegenwärtigen Katastrophe doch auch etwas tröstlichere Aspekte vor Augen zu führen. „Zwar müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Zahl der mangelhaft ernährten Menschen aufgrund der erwähnten ‚drei Cs‘ in den vergangenen Jahren dramatisch gestiegen ist. Die Größenordnung ist aber immer noch niedriger als zu anderen Zeiten meines Berufslebens. Solche Zahlen waren vor zehn oder fünfzehn Jahren in einem durchschnittlich verlaufenden Jahr noch ziemlich normal.“

„Das heißt natürlich nicht, dass wir das Problem ignorieren könnten“, fährt er fort. „Aber wir sollten die längerfristige Entwicklung nicht aus den Augen verlieren. Im Verlauf des vergangenen Vierteljahrhunderts haben wir die Anzahl der unterernährten Menschen um rund sechs Millionen jährlich vermindern können. Erst 2014 kehrte sich diese Entwicklung um, seitdem erleben wir eine stetige Zunahme. Doch übersehen wir allzu gern, dass die Weltbevölkerung im gleichen Zeitraum gewachsen ist. Die Anzahl der Menschen, die täglich genügend Kalorien zu sich nehmen können, ist seit vier Jahrzehnten um grob geschätzt 90 Millionen pro Jahr gewachsen. Gewiss, die bloße Quantität des Kalorienkonsums ist ein ausgesprochen bescheidener Maßstab. Er misst nicht, wie gesund die Ernährung ist, wohl aber, ob diese die Menschen mit genügend Energie versorgt, um überleben zu können.“

Obwohl er immer wieder auf die optimistischere Langzeitentwicklung zurückkommt, ist Barrett bei der Frage, wie leicht es sein wird, diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben, nicht allzu zuversichtlich. Wie allen Agrarökonomen machen ihm klimatische Einflüsse Sorgen, und er erwähnt Willard Cochrane mit dessen Prinzip der „technologischen Tretmühle“: Demzufolge müssen sich Ernährungssysteme permanent weiterentwickeln, um gegen Gefahren gewappnet zu sein, deren Evolution gleichfalls voranschreitet – von Seuchen und Pilzkrankheiten bis zu Hitzeexzessen.

„Man muss sich schon anstrengen, um voranzukommen und nicht einfach zurückzufallen“, sagt Barrett, und in diesem Fall bedeute dies, dass die Staaten viel massiver in landwirtschaftliche Forschung und Entwicklung investieren müssen, als es noch vor einem halben Jahrhundert üblich war. Es geht um die Entkopplung der Nahrungsmittelproduktion vom Bodenverbrauch durch Innovationen wie Präzisionsfermentation, Vertical Farming[4] und dergleichen; strukturelle und rechtliche Verbesserungen sowie Anreize zur Konzentration solcher Innovationen auf die Entwicklungswelt, die sie am dringendsten braucht; und möglicherweise darum, die landwirtschaftliche Produktion von Kraftstoffen – sogenannte Biokraftstoffe – einzustellen oder wenigstens zu reduzieren. (Menker schätzt, dass diese Praxis Nahrungsmittel in einer Größenordnung „verzehrt“, die dem Jahresbedarf von 1,9 Milliarden Menschen entspricht.)

Die Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid

„Das alles wird uns befähigen, die Probleme von morgen zu lösen, ändert aber noch nichts an den heutigen. Die Probleme von heute“, fährt Barrett fort, „lassen sich nur dadurch lösen, dass man ein Scheckheft zückt und all die Menschen mit Nahrungsmitteln versorgt, die gerade jetzt dringend darauf angewiesen sind.“ Das sei allerdings „eine Frage des politischen Willens“, konstatiert er: „Und daran lassen wir es leider ziemlich regelmäßig fehlen.“

Barrett betet hier nicht einfach liberale Sprüche nach. Er verweist auf das UN-Amt zur Koordination humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA), das verfolgt, wie viel der dringend benötigten Unterstützung hilfebedürftigen Ländern tatsächlich zufließt. In Afrika gibt es zwei Länder, die nicht einmal 20 Prozent der als erforderlich veranschlagten Mittel erhalten haben – der Tschad (16 Prozent) und Burundi (3 Prozent). „Im Fall der Ukraine haben Geberländer in aller Welt die erbetenen humanitären Hilfen sogar überzeichnet, während Länder wie der Jemen, der Südsudan und Madagaskar Mühe hatten, auch nur 15 oder 20 Prozent der erbetenen Mittel zu erlangen“, klagt Bennett. „In großen Teilen der Welt nehmen wir menschliches Leid, politisch gesehen, völlig gleichgültig hin.“

„So verhalten wir uns seit Jahrzehnten – außer es geht um weiße Menschen in geostrategisch wichtigen Gegenden wie dem früheren Jugoslawien oder der Ukraine. Beide Länder erlebten ernste humanitäre Krisen und schnelle, großzügige Reaktionen in aller Welt. Doch wenn es um die Kongos und die Sudane dieser Erde geht, werden die Leute nicht aktiv, um zu helfen. Weshalb erwarten wir eigentlich immer noch, dass sich das ändern könnte?“ Und was ist, wenn sich nichts ändert? „In den kommenden – sagen wir – zwölf Monaten werden wir in den Ländern, die sich im Krisenzustand oder Hungersnot befinden, ein hohes Maß an Übersterblichkeit erleben“, warnt Barrett unter Bezug auf das internationale Klassifizierungssystem für Ernährungskrisen.[5] „Mit hohen Übersterblichkeitsraten ist demnach im südlichen Madagaskar, im Südsudan und im Jemen, in Somalia und Afghanistan zu rechnen. Und all diese Probleme sind politischen Ursprungs, sowohl im Hinblick auf die mangelnde humanitäre Reaktion als auch, was Konflikte, Kriege und infrastrukturelle Mängel betrifft.“ Außer im Falle einer „überraschend robusten humanitären Reaktion der Reichen dieser Welt – der Staaten und der Philanthropen –“, sagt Barrett, „wird es großes menschliches Leid geben“.

Sollten Sie liebe Leserin, lieber Leser, Mühe haben, sich in der Stimmenvielfalt dieses Reports zu orientieren: Dies war die Stimme des wohl zuversichtlichsten meiner Gesprächspartner!

»Alle Hungersnöte sind Menschenwerk«

„Ein bemerkenswertes Faktum in der Schreckensgeschichte des Hungers besteht darin, dass es in Ländern mit demokratischer Regierungsform und relativ freier Presse noch nie zu einer echten Hungersnot gekommen ist.“ Diesen berühmt gewordenen Ausspruch tat Amartya Sen 1998. Im Laufe der Jahrzehnte ist daraus fast schon ein Klischee geworden: Alle Hungersnöte sind Menschenwerk. Als Aphorismus mag das tröstlich klingen, fast wie Stolz darauf, die launischen Naturgewalten besiegt – oder zumindest dem regelmäßigen Eintreten tödlicher Hungersnöte ein Ende gemacht zu haben. Im Laufe der Jahrzehnte, die einen stetigen Rückgang des Hungers in der Welt verzeichneten, hat diese Lesart an Plausibilität gewonnen. Die Hungersnöte der 1940er und 1870er Jahre, ja sogar die der 1960er erschienen zunehmend als Relikte einer vergangenen Zeit. (Das gilt auch für Warnrufe im Stil der „Bevölkerungsexplosion“ oder der „Grenzen des Wachstums“.)

Und doch handelt es sich bei der Geschichte der vergangenen 15 Jahre, soweit es um Ernährung und Hunger geht, durchaus nicht um eine Fahrt durch ruhige Gewässer. In einem provokanten, mit „Price Wars“ betitelten Buch ist der Anthropologe und Filmemacher Rupert Russell jüngst der Spur der „Preiskriege“ durch die Rohstoffmärkte gefolgt, um dabei unter anderem festzustellen, dass es in diesen fünfzehn Jahren zu keinem Zeitpunkt so etwas gab wie einen realen Kalorienmangel, sondern dass die Nahrungsmittelproduktion, wie auch Barrett feststellte, vielmehr Jahr für Jahr ununterbrochen zunahm. Wohl aber gab es verschiedentlich Nahrungsmittelpreiskrisen – 2008, 2011 und letzthin mehrere Jahre hindurch – wobei es sich, Russell zufolge, jedes Mal um einen Anstieg der Finanzspekulation mit Rohstoffen handelte.

Wirtschaftswissenschaftliche Untersuchungen der Lebensmittelpreise kommen zu unterschiedlichen Erklärungen – verweisen etwa darauf, dass eine unelastische Nachfragekurve kleine Störungen in gewaltige Preissteigerungen verwandeln kann, oder heben hervor, dass die im Weltmaßstab abnehmende Armut einen Nachfrageboom bewirkt, der ausreiche, das System prekär zu halten. Für Russell hingegen ist primär die Finanzspekulation dafür verantwortlich, dass selbst geringere Störungen des Marktgeschehens (wie örtliche Klimaereignisse oder Konflikte) sich zu viel größeren, tendenziell globalen Problemen auswachsen können, etwa wenn Börsenhändler schon auf kleinste Veränderungen im „realen“ Markt mit heftigem Überbietungswettbewerb reagieren.

Erwartungsgemäß hat Russells Buch ein geteiltes Echo gefunden – einen Verriss im „Wall Street Journal“ durch Roger Lowenstein, aber auch Lob von Tim Sahay in „The American Prospect“, und auf der Website „The Intercept“ nannte Ryan Grim es „eines der wichtigsten Bücher unserer Zeit“.[6] Jedenfalls erscheint es – in kultureller Hinsicht – gerade rechtzeitig, nämlich in einem Moment, in dem viele Menschen aus den Abgründen der Pandemie auftauchen und sich verwundert fragen, ob etwas, was der Globalisierung lange als Stärke zugute gehalten wurde, nämlich ihre Flexibilität, sich durch Lieferkettenschocks und andere Störungen als gebrochenes Versprechen entpuppt hat – oder sogar als Rechtfertigung von Marktversagen.

Russells Lesart der vergangenen Jahre ist natürlich nicht die einzig mögliche: So sagen viele, die dem Establishment mehr Sympathie entgegenbringen, die Pandemie habe bei aller Brutalität letztlich vielleicht nicht so disruptiv gewirkt wie befürchtet. So hätten die Lieferkettenprobleme sich beträchtlich weniger einschneidend ausgewirkt als anfangs fast allgemein angenommen. Und wer auf die Macht der Märkte vertraut, für eine effiziente Ressourcenallokation zu sorgen, kommt vielleicht mit Blick auf dieselben Statistiken, die Russell benutzt hat, zu anderen Schlüssen. Dann mögen einige Preisspitzen und selbst gelegentliche Krisen der Preis für ein dynamisches System sein – ein Preis, der eben von Zeit zu Zeit fällig wird, wenn es auf lokale Störungen reagiert.

Russell teilt dieses Vertrauen nicht, und seine Lesart ist beträchtlich pointierter: Für ihn ist es eben die Finanzialisierung, die unnötige Volatilität in eine Zeit „natürlichen“ Überflusses getragen hat, wodurch regelmäßig die Verwundbarsten dieser Welt in höchste Bedrängnis geraten. „Handelt es sich um eine Ernährungskrise in dem Sinne, dass es nicht genug Nahrungsmittel gibt?“, fragt er. „Oder ist es eine Marktkrise in dem Sinne, dass der Markt unfähig ist, Nahrung korrekt zu bepreisen?“

Und während die gegenwärtige Preiskrise keine bloße Erfindung der Märkte ist – Russell beschrieb sie mir als „Wiederkehr der Realität“, da sie neben anderen Faktoren die Auswirkungen des Krieges widerspiegelt –, hat sie uns auch im Hinblick auf das sprichwörtlich gewordene Demokratie-Diktum Amartya Sens etwas zu sagen: Schließlich war es die willkürliche Entscheidung eines Autokraten, nach zwei Jahren des pandemischen Chaos ein destruktives militärisches Abenteuer zu starten, das die Ernährungskrise noch forciert. Dabei hatte der menschengemachte Klimawandel per se bereits viele landwirtschaftliche Anbaugebiete in große Schwierigkeiten gebracht, und schon vor Kriegsbeginn litten Hunderte Millionen Menschen unter volatilen Preisen für Nahrungsmittel. Das alles erinnert uns daran, dass die These, Hungersnot sei heutzutage in erster Linie Menschenwerk, gar nicht mehr so beruhigend klingt, wie es einst scheinen konnte.

Zwei Lektionen

Natürlich lassen sich aus der alarmierenden Zunahme des Welthungers schon in den vergangenen fünf Jahren und erst recht in den zurückliegenden fünf Monaten noch viele andere Lehren ziehen. Über Konflikt und Krieg sowie darüber, welches Destabilisierungspotential disruptive Klimaereignisse entfesseln können – selbst lange, bevor tatsächlich von einer globalen Nahrungsmittelknappheit die Rede sein kann. Mich persönlich beeindrucken jedoch zwei Lektionen besonders. Die erste lautet: Die Aussage, eine Katastrophe sei nicht „natürlich“, sondern „menschlich“ verursacht, impliziert keineswegs, dass sie leicht zu bewältigen ist – oder leicht zu vermeiden. Schließlich haben wir es augenblicklich mit der dritten derartigen Krise in fünfzehn Jahren zu tun, und die Anzahl der Hungernden dieser Welt wuchs allein in den vergangenen fünf Jahren auf das Vierfache.

Die zweite Lektion besagt, dass auch bei echten Weltkrisen die Störungen oder Schäden nicht erst allumfassende Ausmaße erreichen müssen, um sich verheerend auszuwirken. In den privilegierten Quartieren des globalen Nordens fühlen wir uns beim Blick auf Rohstoffpreisspitzen von 10, 20 oder 50 Prozent vielleicht unwohl, erkennen aber keine wirklich fundamentale Störung darin. Zwar werden unglücklicherweise jene, die am wenigsten haben, schwer belastet. Aber wir können uns einreden, die Preise zeigten eben an, dass die Märkte ihre Arbeit tun, was ja stimmt. Aber was für eine Arbeit ist das? Vielen mag es so erscheinen, als sei es keine große Sache, wenn sie wieder einmal halb so viel für ihre Milch bezahlen als zuvor. Aber eben diese Fluktuation der Preise in den Supermarktregalen spiegelt das Anwachsen des Welthungers um dutzende, womöglich hunderte Millionen wider.

Das sollte eigentlich ausreichen, uns zu alarmieren – selbst wenn die schlimmsten Hungerprognosen für dieses und das kommende Jahr sich noch falsifizieren lassen. Denn so sehen aktuell die Zahlen aus, die man als Erfolg werten wird: Zwar sind einige hundert Millionen binnen Monaten zur Mangelernährung verdammt, Dutzende von Millionen zu akutem Hunger, aber immerhin gibt es relativ wenige Hungertote! Und als wäre das nicht genug, ist dabei noch völlig offen, ob wir diesen „Erfolg“ am Ende überhaupt zustande bringen.

Deutsche Erstveröffentlichung eines Textes, der unter dem Titel „How Bad Is the Global Food Crisis Going to Get?“ in der „New York Times“ erschienen ist. Übersetzt von Karl D. Bredthauer.

[1] Michael J. Puma and Megan Konar, What the War in Ukraine Means for the World’s Food Supply, www.nytimes.com, 1.3.2022; The coming food catastrophe, www.economist.com, 19.5.2022.

[2] The coming food catastrophe, a.a.O.

[3] Declan Walsh and Valerie Hopkins, Russia Seeks Buyers for Plundered Ukraine Grain, U.S. Warns, www.nytimes.com, 5.6.2022.

[4] Eine Sonderform der urbanen Landwirtschaft, bei der pflanzliche und tierische Erzeugnisse in mehrstöckigen Gebäuden „vertikal“ produziert werden.

[5] Die Integrated Food Security Phase Classification (IPC) ist eine international anerkannte, von der Welternährungsorganisation mitentwickelte Methode, um das Ausmaß und die Schwere von Unterernährung und Hunger zu klassifizieren.

[6] Vgl. Roger Lowenstein, „Price Wars“ Review: Hedge Funds on the Attack, www.wsj.com, 2.3.2022; Tim Sahay, How High Energy Prices Emboldened Putin, www.prospect.org, 22.3.2022; Are Prices „Engines of Chaos“?, www.theintercept.com, 18.3.2022.

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