
Bild: IMAGO / Zoonar
Seit kurzem ist es wieder soweit: Buchen, Eichen und Ahorn treiben zartgrün die Blätter – und auch Rehe, Hirsche und Damwild fahren ihren Stoffwechsel hoch. Sie haben zu dieser Jahreszeit vor allem eines: Hunger. Viele der jungen Bäume werden deswegen nicht weit kommen. Ihre Knospen werden abgefressen, alles, was sich mit den ersten Sonnenstrahlen herausgetraut hat, verschwindet im Magen des Schalenwilds. Die Folgen sind unverkennbar: Nadelwald, in dem kaum Grünes wächst, und Laubbäume, die jung scheinen, aber alt sind. Da stehen etwa zehnjährige Eichen, die gerade einmal 60 Zentimeter hoch sind, verzweigt und verkrüppelt, ohne Chance, jemals zu den Riesen heranzuwachsen, die sie eigentlich werden könnten, weil sie jedes Jahr abgefressen werden.
Das ist der Lauf der Natur, denkt der Stadtbewohner und beobachtet verzückt das äsende Wild aus dem ICE heraus. Doch was sich Frühling um Frühling in den Wäldern abspielt, ist nicht Lauf der Natur, es ist eine Katastrophe mit Ansage für den Umbau der Wälder zu mehr Klimaresilienz. Und dafür gibt es einen Grund: Ein anachronistisches Jagdsystem, mit dem mehr Jagd systematisch vereitelt wird und dessen Lobbyisten so einflussreich sind, dass bisher jeder Versuch, es grundlegend zu modernisieren, an ihnen gescheitert ist.
Warum aber ist das so wichtig? Weil rund ein Viertel des Waldes in Deutschland umgebaut werden muss, so schnell wie irgend möglich. Dabei geht es um fast drei Mio. Hektar: Flächen, die von Trockenheit bedroht sind, Wälder, die in Flammen aufgegangen sind oder abgeholzt wurden, weil Borkenkäfer die geschwächten Stämme zerbohrt haben, und vom nächsten Waldbrand bedrohte Nadelholzplantagen. Das Ziel, da sind sich Wissenschaft und Politik seit langem einig, muss ein klimaresilienter Wald sein, ein Mischwald, mit vielen Laubbäumen. Ein solcher Wald ist der wichtigste Schutz gegen Hitze und zugleich Reservoir für Wasser, saubere Luft und Artenvielfalt – und damit unerlässlich für die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse. Laubwälder kühlen, sie begünstigen die Neubildung von Grundwasser,[1] brennen schlechter und tragen zu mehr Artenvielfalt bei.
Unreformierbar: Das Bundesjagdgesetz
Aber diese dringend benötigten Wälder wird es nur geben, wenn die Wilddichte in vielen Regionen deutlich reduziert wird. Die gestiegene Zahl des Schalenwilds sei, so der wissenschaftliche Beirat für Waldpolitik, „vielerorts das Haupthindernis für das Aufwachsen einer artenreichen Naturverjüngung“.[2] Der Forstwirtschaftsrat fordert angesichts dessen eine angepasste Wilddichte,[3] ebenso die Waldeigentümer,[4] Bundeswaldminister Cem Özdemir[5] und sogar sein Kollege Christian Lindner, Bundesfinanzminister und selbst Jäger.[6]
Das Problem ist seit langem bekannt: Bereits 2019 forderte die damalige Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner auf dem Waldgipfel eine „stringentere und zielgerichtetere Jagd“, damit die jungen Bäume und die mittlerweile weit über 1,5 Mrd. Euro Hilfen für Waldbesitzende nicht ruckzuck aufgefressen werden. Dieses Ziel sollte in der Novelle des Bundesjagdgesetzes verankert werden. Monatelang wurde diese vorbereitet, Gesprächsrunde um Gesprächsrunde mit allen diskutiert. Heraus kam zunächst ein zarter Kompromiss: Waldbesitzende und Jäger sollen gemeinsam festlegen, wieviel geschossen werden soll. Einigen sie sich nicht, gibt es ein Vegetationsgutachten, sprich ein Nachweis, wieviel weggefressen wird.
Aber nicht einmal dieser Kompromiss hat am Ende gereicht. Die Novelle ist trotzdem gescheitert. In letzter Minute – die erste Lesung im Bundestag hatte der Entwurf noch passiert – mauerte Bayern, die notwendige Mehrheit war dahin. So wie 2016, als Bayern ebenfalls den Versuch einer Novelle des Gesetzes in letzter Minute verhinderte. So wie eigentlich jede und jeder scheitert, der versucht, auf Landes- oder Bundesebene gesetzlich mehr als kleine Korrekturen am bestehenden Jagdsystem durchzusetzen. In den Koalitionsvertrag der Ampel hat es die Novelle ebenfalls nicht geschafft, laut internen Quellen war die FDP dagegen. Seit Jahrzehnten misslingt die Novellierung dieses Gesetzes. Dabei hat Horst Stern bereits 1971 in seinem legendären Fernsehbeitrag zur besten Sendezeit am Weihnachtsabend zu mehr Jagd auf Hirsche und Rehe aufgerufen, um die Wälder besser zu schützen.
Indes ist es nicht so, dass Jagende nichts schießen: Satte 1,2 Millionen Rehe sind allein in der Saison 2020/21 in den Kühlhäusern gelandet – das sind doppelt so viele wie 1970. Viele der Jäger arbeiten gut mit Waldbesitzenden, Försterinnen und Förstern zusammen und verfolgen gemeinsam das Ziel, den Wald umzubauen. Dazu gehört etwa der Ökologische Jagverband mit seinen rund 3000 Mitgliedern.
Demgegenüber steht allerdings der Deutsche Jagdverband, der Wildreduzierung politisch hart bekämpft. Er verfügt über 250 000 Mitglieder und macht seine Interessen mit entsprechendem Gewicht geltend. Und so meldete die Bundeswaldinventur im Jahr 2012, dass trotz aller Jagd jeder dritte Laubbaum verbissen wird – bei dieser Zählung sind allerdings nur Bäume ab 20 Zentimeter berücksichtigt, nicht aber jene, die bereits vor Erreichen dieser Höhe komplett im Magen der Tiere verschwinden. Wer jetzt moniert, dass die Inventur den Stand von vor elf Jahren wiedergibt und sich der Schwund seitdem doch verringere, dem muss man entgegenhalten: Alle Bundesländer melden regelmäßig hohe Verbissquoten. Mal sind es 30 Prozent aller Laubbäume, mal, wie in Brandenburg, jeder zweite – es gibt kein Bundesland ohne derartige Probleme.
Warum aber einigen sich dann die rund 1,8 Millionen Waldbesitzenden nicht mit den rund 400 000 Jägerinnen und Jägern, ganz ohne Gesetz? Bei solch offensichtlichen Problemen sollte es doch möglich sein, die Wilddichte, wo notwendig, zu reduzieren. Schließlich ist immer mehr Waldbesitzenden klar, dass es beim Wald um mehr geht als um einen bloßen Holzlieferanten.
Schön wäre es, aber: Selber schießen oder schießen lassen darf jemand, der Wald besitzt, noch lange nicht, nur weil ein Jagdschein und Gewehr vorhanden sind. Im eigenen Wald jagen darf nur, wer mindestens 75, in manchen Bundesländern sogar 150 Hektar besitzt. Doch über so viel Wald verfügt kaum jemand: Im Schnitt besitzen Waldeigentümer gerade einmal 2,5 Hektar – damit dürfen über 90 Prozent aller Waldbesitzenden nicht auf ihrem eigenen Grund und Boden jagen. Seit 150 Jahren – denn so alt ist diese Regelung – werden so substanzielle Eigentumsrechte begrenzt. Das ist einzigartig in Europa. Und an dieser Regelung hat sich bis heute nichts geändert.
Wer über 75 Hektar und mehr verfügt, kann in seinem Wald (mit Jagdschein und auf der Basis von Wald- und Jagdgesetz) schießen, so viel er will. Alle anderen sind Pflichtmitglied einer Jagdgenossenschaft. In einer solchen hat theoretisch jeder Waldbesitzende die Möglichkeit, mitzubestimmen, wie viel in seinem Wald geschossen wird, denn die Genossenschaft sucht den Jagdpächter aus und verhandelt mit diesem seinen Einsatz. In manchen Jagdgenossenschaften funktioniert das auch. Aber in vielen nicht – und wer mit ein paar kümmerlichen Hektar gegen die Mehrheit an Stimmen und Fläche anstimmen will, verliert zwangsläufig. Dann bekommt ein Trophäenjäger die Pacht für Jahre überschrieben – die gesetzliche Mindestpachtzeit beträgt neun Jahre –, pflegt und hegt eine hohe Wilddichte und hofft, dass der Zwölfender, ein Hirsch, dessen Geweih an jeder Stange sechs Enden hat, endlich vor die Flinte läuft.
Brandenburgs gescheiterter Vorstoß in das Herz des Jagdsystems
Viele Bundesländer haben mit kleinen Korrekturen versucht, die Wilddichte innerhalb dieses komplexen Systems zu korrigieren: mit Gesprächsrunden, Vegetationsgutachten, erhöhten Abschussquoten und langen Jagdzeiten – doch mit nur mäßigem Erfolg. Nur Brandenburg hat jüngst versucht, den Kern des Problems – das Recht der Waldbesitzenden, ihren Wald so zu bewirtschaften, wie sie es möchten – anzugehen. Das Bundesland ist Spitzenreiter bei Waldbränden, die Trockenheit hat mittlerweile hunderte Hektar Wald geschädigt. Dreiviertel des brandenburgischen Waldes bestehen aus Kiefern, die Hälfte der nachwachsenden Laubbäume werden verbissen. Der Umbau des Waldes ist hier ein Wettrennen gegen die Zeit, denn mit jedem weiteren trockenen Sommer schwindet weiterer Wald. Nachpflanzen und Zäune ziehen sei schon zeitlich keine Option mehr, heißt es, die Natur müsse es selbst schaffen, sich zu verjüngen: Bäume, die von selbst nachwachsen – wenn sie denn nicht gefressen werden.[7]
Entsprechend dringlich versucht Landwirtschaftsminister Axel Vogel (Grüne) eine Novelle des Landesjagdgesetzes voranzutreiben. Sein erster Vorstoß, die Absenkung der Eigenjagdgrenze von 75 auf 10 Hektar scheiterte, vor allem, aber nicht nur, am Widerstand der traditionellen Jäger, die weit über Brandenburg hinaus gegen die Novelle mobilisierten. Sein zweiter Vorstoß: Waldbesitzende mit mindestens drei Hektar, die nicht zufrieden mit ihren Jägern sind, sollten die Möglichkeit bekommen, temporär auf ihren Flächen selbst zu jagen oder jagen zu lassen. Zudem sollten sie sich zusammentun können, um die 75 Hektar für die Eigenjagd zu erreichen, um dann selber jagen zu können. Zudem sollte die Dauer zukünftiger Pachtverträge mit den Jägern auf fünf Jahre begrenzt werden, damit ein Jägerwechsel schneller möglich ist, wenn die Zusammenarbeit nicht klappt.
Das Gesetz würde nicht dazu führen, dass Spaziergänger laufend auf ballernde Kleinwaldbesitzer stoßen. Denn überall dort, wo die Zusammenarbeit mit den Jägern in den Jagdgenossenschaften funktioniert, würde gar nichts geschehen. Überall dort, wo Waldbesitzende sich nicht für den Zustand ihres Waldes interessieren – und das sind nicht wenige – würde ebenfalls nichts passieren. Lediglich in einigen Regionen würden Waldbesitzende Jäger beauftragen oder selbst jagen. Bekämpft wurde der Vorstoß auch nicht deswegen, sondern weil er für alle anderen Bundesländer, die das brandenburgische Vorhaben interessiert beobachten, einen Präzedenzfall schaffen würde. Das Vorhaben wäre ein Angriff auf das Herz des alten Jagdsystems. Entsprechend geharnischt wehrten sich die traditionellen Jäger – und sind bislang erfolgreich. Da hilft es auch nicht, dass sich in seltener Einigkeit Brandenburger Naturschutz- und Waldverbände öffentlich hinter diesen Entwurf stellten. Somit steht diese Novelle – Stand Mitte April – vor dem Scheitern, offiziell an der mitregierenden CDU. Man fürchte eine nicht mehr kontrollierbare Zahl an Jägern in den Wäldern, hieß es vom Fraktionschef.
Deutscher Jagdverband: Bremser des Waldumbaus
Fest steht: Die schärfsten Gegner von mehr Freiheit für die Waldbesitzenden sind die Funktionäre des Deutschen Jagdverbandes. Gegen eine Wildreduktion führen sie traditionell viele Argumente an. Schuld an Monokulturen seien nicht die Rehe, sondern die forstbaulichen Fehler der Vergangenheit: Nach dem Zweiten Weltkrieg sei mit Nadelbäumen aufgeforstet worden. Mit dem politischen Sparkurs sei zudem zu viel Forstpersonal eingespart worden, Personal, das nun fehle, um Bäume vor Verbiss zu schützen. Hinter dem Ruf nach mehr Abschuss stünden nur die gierigen Waldbesitzer, die schöne grade Bäume wollten, weil sie sonst kein Geld verdienten. Schuld sei die Landwirtschaft, die keine Wiesen übrig ließe für die Tiere. Und Ziel aller Waldfreunde sei die brutale Ausrottung von Reh, Hirsch und Damwild. Außerdem brauche das Reh Platz, man könne es nicht auf nur drei Hektar jagen. Kurzum: Waldumbau mit dem Gewehr funktioniere nicht. Sie fordern: Die Bäume müssten eben geschützt werden – koste es, was es wolle. Zahlen sollen das die Waldbesitzenden. Doch ein Zaun kostet schnell mehrere tausend Euro.
Viele dieser Argumente enthalten einen wahren Kern. Tatsächlich fehlt es an Personal im Wald, an allen Ecken und Enden. Tausende Waldbesitzer kümmern sich nicht ausreichend um ihren Wald. Und ja, für das Tiny House, den schönen Tisch, die Verschalungen am Bau braucht es entsprechend gewachsenes Holz. Doch alle Argumente erklären nicht, warum da, wo das Engagement da ist und waldfreundlich gejagt wird, der gewünschte Mischwald nachwächst – und zwar ohne jede Schutzmaßnahme. Ein Wald, der übrigens, sobald die Bäume größer sind, wieder mehr Wild erlaubt. Wie bei Immenstadt im Oberallgäu. Die Stadt orientierte sich um, die Fläche war groß genug. Und die Waldverjüngung setzte nach deutlicher Reduktion der Rehe „rascher ein, als es langjährige Mitarbeiter im Stadtforst erwartet hatten“. Dafür erhielt der Ort den Staatspreis für vorbildliche Waldbewirtschaftung.[8]
Und wenn der Brandenburger Vorstoß scheiter? Im November vergangenen Jahres startete das neueste Waldförderprogramm des Bundes, diesmal mit 900 Mio. Euro bis 2026. Es soll vor allem der Klimaanpassung der Wälder dienen. Im Vordergrund steht die Naturverjüngung, die ersten 200 Mio. Euro sind bereits abgerufen. Doch nach dem aktuellen Stand der Dinge wird das Geld nicht in die Jagd, sondern viel zu oft in Zäune fließen. Dabei braucht es für den dringend notwendigen Umbau der Wälder nicht nur Geld, sondern auch Jäger – und ein modernes Jagdsystem, das Wald und Wild zusammendenkt und Waldbesitzenden ermöglicht, ihren Wald in Zusammenarbeit mit Jagenden ohne Schutzmaßnahmen umzubauen. Und das so schnell wie möglich.
[1] Vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Waldpolitik, Die Anpassung von Wäldern und Waldwirtschaft an den Klimawandel. Gutachten, www.bmel.de, Oktober 2021.
[2] Ebd., S. 134.
[3] Deutscher Forstwirtschaftsrat, Wald & Wild, www.dfwr.de.
[4] Irene Seling, Wälder sind der Schlüssel für den Klimaschutz, www.waldeigentümer.de.
[5] „Es ist gut, dass die Menschen immer weniger Fleisch essen.“ Interview mit Bundesminister Cem Özdemir, www.faz.net, 28.6.2022.
[6] Interview mit RND, 10.11.2018.
[7] Vgl. Maike Rademaker, Welche Rolle die Jagd beim Waldumbau spielt, www.deutschlandfunk.de, 2.9.2022.
[8] Vgl. Lösungsansätze im Forst-Jagd-Konflikt, www.jagdverband.de, 2020, S. 48-49.