
Bild: Keir Starmer nach der Wahl, London, 9.7.2024 (IMAGO / SOPA Images / Tejas Sandhu)
Als die Briten 1997 das letzte Mal mit überwältigender Mehrheit eine Labour-Regierung statt der Tories wählten, war die generelle Stimmung im Land so euphorisch, dass Tony Blair am Tag danach überschwänglich davon schwärmen konnte, ein ganz neuer Morgen sei angebrochen. Sein Nachfolger Keir Starmer, seit dem 5. Juli der neue britische Ministerpräsident, ist bekanntermaßen ein nüchternerer Mann. Und die Zeiten sind andere. Dennoch ist das Ausmaß seines Wahlsiegs vergleichbar. Mit 411 Sitzen ist er nur sieben Sitze von Blairs damaligem Erdrutschsieg entfernt. Das bedeutet eine Mehrheit, mit der er über die nächsten fünf Jahre kraftvoll regieren und einen echten Neuanfang Großbritanniens gestalten kann. Während die EU mit dem rasanten Aufstieg rechtspopulistischer Parteien zu kämpfen hat, scheinen die Briten jetzt auf dem umgekehrten Weg dabei, ihre populistische Phase vorerst hinter sich zu lassen. Das ist die guten Nachricht.
Ein politischer Erdrutschsieg ist aber gleichzeitig eine Art Sieg, bei dem die zuvor als sicher geglaubten Fundamente der politischen Landschaft ins Wanken geraten. Und in Starmers Fall bezieht sich das auch auf seine eigene Basis. Seine defensive Strategie, die Labourpartei konsequent und ohne Rücksicht auf Verluste vom linken Rand in die politische Mitte zu schieben, hat ihm herbe Verluste vor allem bei den jungen linken Wählern eingebracht. Statt der erwarteten 40 Prozent gewann Starmer nur mit 34 Prozent der Gesamtstimmen.[1]
Im britischen Mehrheitswahlrecht ist dabei der klare Wahlsieg trotzdem möglich – David Cameron erreichte nie mehr als 36,9 Prozent der Gesamtstimmen – und durchaus nicht illegitim, die Wähler kennen ihr Wahlsystem und wählen auch taktisch. Damit ist das Ergebnis aber eben auch ein klarer Indikator dafür, dass es den Briten bei dieser Wahl vor allem darum ging, die Tories abzuwählen. Die Euphorie für Labour selbst hielt sich in deutlichen Grenzen, weshalb sich Starmer das Vertrauen der Wähler jetzt erst erarbeiten muss. Ein Faktor, der die ohnehin enormen Herausforderungen seiner bevorstehenden Amtszeit noch gewaltiger erscheinen lässt. Das sind die weniger guten Nachrichten für Labour nach dem Wahlsieg.
Andererseits hat Starmer genau das versprochen: dass er den Briten beweisen werde, das Land reparieren zu können, wenn sie ihm die Chance dazu geben. Nicht mehr und nicht weniger. Und diese Chance hat er bekommen. Sein nüchtern visionsloser Wahlkampf erschien vielen Wählern der Mitte als genau das richtige Gegenmittel zu der chaotischen Clownshow der Tories seit dem Brexit. Und wenn man die ersten Tage der neuen britischen Regierung als Vorboten dessen nimmt, was kommen mag, dann sieht es so aus, als könnte Starmers Vorhaben gelingen. Und damit erneut zunächst zu den guten Nachrichten:
Als Keir Starmer am Tag nach der Wahl seine Antrittsrede in der Downing Street hielt, waren selbst viele der Briten positiv überrascht, die ihm ihre Stimme nicht gegeben hatten. Denn er versprach gleich zu Beginn, dass er auch und vor allem ihnen dienen werde. Ein deutlich anderer Ton, als der der vergangenen Jahre. Kompetenz und Dienst am Land und den Wählern statt der permanenten Lügen und Scheingefechte der in den rechtspopulistischen Raum abgedrifteten Tories, das waren die Kernversprechen Starmers in dieser Rede. Oder wie er selbst es formulierte: „Die Ära des performativen Getöses ist vorbei. Von nun an werden wir nur noch leise in Ihrem Leben vorkommen.“[2]
Die Rückkehr der Vernunft?
Wer aber ist dieser Starmer, der hier so nüchtern die Rückkehr der politischen Vernunft ankündigt? Der neue britische Premierminister ist vor allem ein Mann, der, anders als seine Vorgänger Boris Johnson, Liz Truss und Rishi Sunak, an demokratische Institutionen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Gewaltenteilung und den Rechtsstaat glaubt. Als Director of Public Prosecutions, einer Art britischem Generalstaatsanwalt, wurde er bekannt für sein zähes methodisches Vorgehen, wann immer er vor größeren Problemen stand. Sein Biograph Thomas Baldwin hat Starmers Vorgehen in solchen Fällen einmal so beschrieben: „Er geht einen Schritt vorwärts und bleibt stehen. Ein Schritt nach links, und er bleibt stehen. Einen Schritt zurück, zwei Schritte nach rechts, und er bleibt wieder stehen. Was er tut, sieht seltsam aus. Es ist unelegant, es ist verwirrend. Aber er überquert ein Minenfeld. Und das ist der beste Weg, um auf die andere Seite zu gelangen.“[3]
Gleichzeitig kann Starmer rücksichtlos strategisch sein. Die unter Jeremy Corbyn weit nach links gerückte Labourpartei verwandelte er in nur zwei Jahren in eine streng disziplinierte sozialdemokratische Mitte-links-Partei mit patriotischen Untertönen, die sie auch für konservative, von den Tories enttäuschte Briten wählbar machte. Wer nicht mitzog, wurde ohne Diskussion aus der Partei ausgeschlossen, allen voran Jeremy Corbyn selbst. Wie auch immer man dieses Manöver politisch bewerten will, Starmer hat damit bewiesen, dass er komplexe Aufgaben in großen Institutionen schnell und einigermaßen geräuschlos lösen kann. In seinem Kabinett, das er schon am Wochenende nach seinem Wahlsieg vorstellte, sitzen tatsächlich wieder Experten, also überwiegend Menschen, die wissen, wovon sie reden, und die ernsthaft vorhaben, sich der Probleme des Landes unter Hochdruck anzunehmen. Ein nach den letzten Jahren völlig ungewohnter, aber offenbar willkommener Anblick: In einer ersten Umfrage wenige Tage nach der Wahl schossen Starmers Popularitätswerte im Land um erstaunliche 14 Prozentpunkte in die Höhe.[4] Kompetenz scheint wieder sexy zu sein in Großbritannien.
Und dennoch: Die Herausforderungen sind enorm und bislang ist nicht klar, wie Starmer sie konkret angehen will. Indem er eine Rückabwicklung des Brexit ausgeschlossen hat, ist ihm der direkte Weg zu dringend benötigtem wirtschaftlichem Wachstum verstellt, und bislang hat er auch nicht erklären können, wie er den Wiederaufbau der Nation finanzieren will. Ein zusammengebrochenes Gesundheitssystem, überfüllte Gefängnisse, ein marodes staatliches Schulsystem: All das zu reparieren, braucht Zeit und vor allem viel Geld, das aber nach dem Brexit und der Pandemie schlicht nicht vorhanden ist.
Ein großer Teil des Labour-Programms wird daher zunächst davon abhängen, was ohne Geld getan werden kann: ob die angekündigte Schaffung von Rechtssicherheit für Investoren in den Bereichen Windkraft, Solarenergie und Wohnungsbau oder die Einsetzung eines Rates für Industriestrategie, inklusive der Hoffnung darauf, dass all das in- und ausländische Investoren in großen Mengen motivieren und anziehen wird.
Noch ist es zu früh, um sagen zu können, ob das gelingen kann und ob die Briten mittelfristig die Geduld aufbringen werden, Starmer beim altmodischen „langsamen Bohren dicker Bretter“ dauerhaft zu folgen, und zwar auch dann, wenn es zu erwartbaren Rückschlägen kommt. Die Gefahr aber, dass das nicht der Fall sein wird, besteht durchaus. Denn Starmers Wahlsieg ist keine endgültige Absage an den Rechtspopulismus, sondern eher eine Art Atempause, nach der der Wahnsinn der Brexit-Jahre jederzeit wieder neu ausbrechen kann.
Kein konservatives Korrektiv
Womit wir bei den eher ernüchternden Nachrichten sind: Der eigentliche Grund für den Laboursieg, der nach dem Brexit entstandene tiefe Vertrauensverlust in die Politik, der für die Tories mit der vernichtendsten Niederlage ihrer Geschichte endete, stellt zugleich die größte Gefahr für die neue britische Regierung dar. Denn hier fehlt jetzt ein demokratisches Korrektiv in der rechten Mitte, das klassische britische Zweipartensystem steht damit plötzlich nur noch auf einem Bein, eine insgesamt wenig stabile Ausgangsposition, die vor allem den extremen rechten Rand rund um Nigel Farage stärken könnte.
Eine Entwicklung im Übrigen, die nur einen weiteren Beleg dafür liefert, wie schnell selbst starke konservative Volksparteien zugrunde gehen, wenn sie glauben, den Rechtspopulismus niederringen zu können, indem sie ihn imitieren. Genau das hatten die Tories nämlich seit 2016 versucht. Ihren knappen Sieg beim Referendum interpretierten sie nicht als Auftrag, die gespaltene britische Gesellschaft mit einem weichen Brexit wieder zusammenzuführen, sondern der „Wille des Volkes“ wurde bald zum Freifahrtschein, um jeden Kritiker der geplanten Brexit-Revolution aggressiv als Landesverräter zu denunzieren. Damit machte sich ausgerechnet eine klassisch konservative Partei die autoritären Parolen antidemokratischer Figuren wie Nigel Farage am ultrarechten Rand der britischen Gesellschaft zu eigen. Das Kalkül, ihn dadurch zu neutralisieren, ging jedoch nicht auf. Im Gegenteil. Wenige Wochen vor dem Wahltermin im Juli meldete Farage sich zurück auf der politischen Bühne, als Kandidat der von ihm neu gegründeten Reform-Partei. Als sei nichts geschehen, erklärte er fortan, die Tories hätten den Brexit nicht radikal genug durchgezogen, und trieb den amtierenden Premier Rishi Sunak und die Tories erneut vor sich her. Getreu der Devise: Und täglich grüßt das Murmeltier.
Wenn jetzt nicht wenige der noch verbleibenden Tories in ihrer Not ausgerechnet nach Farage als neuem Toryführer rufen, dann ist das ein fatales Signal, dass die Partei nach ihrer ernüchternden Wahlniederlage wohl kaum zur Besinnung kommen wird. Gleichzeitig hat Farage einen Stimmenanteil von 14 Prozent einfahren können. In mehr als 100 Wahlkreisen lag seine Reform-Partei an zweiter Stelle, 89 davon sind Wahlkreise, die Labour so nur knapp gewinnen konnte. Das britische Mehrheitswahlrecht wandelte das am Ende zwar in nur fünf Sitze um. Dennoch bleibt damit eine starke populistische Unterströmung, die, sollte es Farage gelingen, die am Boden zerstörte Tory-Partei einzubinden oder zu übernehmen, durchaus zu einer MAGA-ähnlichen Bewegung werden kann, die durch ständige Störfeuer jeden auch noch so sinnvollen realpolitischen Schritt Starmers mit lautem Geschrei verzerren und behindern dürfte.
Dem Team rund um Keir Starmer ist all das bewusst. Mit Blick auf die USA weiß man auch, dass gutes Regieren allein im Post-Truth-Zeitalter nicht mehr ausreicht, um populär zu bleiben. Bidens klare wirtschaftliche Erfolge konnten schon vor der Debatte um sein Alter kaum in direkte Zustimmung bei den Wählern übersetzt werden. Starmers Berater haben deshalb jetzt ganz offenbar eine andere Strategie im Blick, und zwar die einer permanenten direkten kämpferischen Konfrontation. Statt sich nur auf die Umsetzung seiner Wahlversprechen zu konzentrieren, will Labour den Briten von nun an regelmäßig ins Gedächtnis rufen, dass weder Farage noch die Tories praktisch Lösungen für die Probleme haben, die sie zwar oft richtig benennen, aber dann nur für sich ausbeuten. Konkret bedeutet das, Starmer wird versuchen, so schnell wie möglich auch unpopuläre Maßnahmen anzukündigen, ohne dabei vor populistischen Störmanövern zurückzuweichen, die er stattdessen frontal als das kennzeichnen will, was sie seit spätestens 2019 unter Boris Johnson immer auch waren: Zerstörerisches Chaos.[5] Starmers Vorteil dabei: die Briten haben all das leidvoll erlebt und werden es, solange man sie regelmäßig daran erinnert, auch vorerst nicht zurückhaben wollen.
Die ersten Tage der neuen Regierung haben diesen neuen, angstfreien Ansatz konsequent durchexerziert. Erste Wahlversprechen wie das sofortige Ende des teuren und nicht umsetzbaren Ruanda-Abschiebeverfahrens wurden schon am Tag eins nach der Wahl eingelöst. Starmer redete dabei nicht lange drumherum, er bezeichnete die Ruanda-Idee als albernen Gimmick, den er nicht mehr bereit sei, mitzumachen. Das Innenministerium legte wenig später eine ehrliche Bilanz der katastrophalen Zustände in den britischen Gefängnissen vor und kündigte grundlegende Reformen an. Darüberhinaus werde man in den nächsten Monaten bis zu 20 000 Menschen vorzeitig entlassen, da viele im Gefängnis säßen, die dort gar nicht hingehörten, so der neue dafür zuständige Staatssekretär im Innenministerium.[6] Dem zu erwartenden Aufschrei von Farage und den Tories sieht man offenbar gelassen entgegen.
Schwieriger dürfte es beim Umgang mit der EU und der versprochenen Wiederannäherung an Brüssel werde. Zwar sprintete der neue Außenminister David Lammy an seinem ersten Wochenende durch gleich drei europäische Hauptstädte und kündigte einen neuen UK-EU Sicherheitspakt an. Aber so wichtig ein solch grundsätzlicher Neustart auch sein mag, Großbritannien bleibt bei all dem auf absehbare Zeit ein Drittland, denn Starmer hat ausgeschlossen, den Brexit wieder rückabwickeln zu wollen. Eine Haltung, die ihn mittelfristig in Konflikt mit seiner eigenen Basis bringen dürfte, denn 78 Prozent der Labourwähler wollen der EU grundsätzlich wieder beitreten.[7] Der Druck auf Starmer dürfte an dieser Front ebenso steigen wie der vom linken Labour-Flügel, falls er der Versuchung erliegen sollte, die von den Tories freigemachte rechte Mitte jetzt auch in der Regierung dauerhaft mitzubesetzen.
Alles in allem liegen damit komplizierte Zeiten vor dem neuen Premierminister, der im Vergleich zu seinem Vorgänger Tony Blair weiter hölzern und ein bisschen langweilig wirkt. Aber vielleicht ist es ja genau das, was effektiven Antipopulismus heute ausmachen muss: eine entschlossene Politik, deren Vertreter angstfrei und klar in der Sache dagegen halten, sich aber ansonsten unaufgeregt, leise und effizient im Hintergrund bewegen.
[1] Toby Helm, Tory stumbles drive Labour to near record 20-point poll lead, theguardian.com, 22.6.2024.
[2] 10 Downing Street, Keir Starmer’s first speech as Prime Minister, youtube.com, 5.7.2024.
[3] Anne Applebaum, How Labour Defeated Populism. Keir Starmer’s party beat the far right and far left by addressing real voters’ problems, theatlantic.com, 5.7.2024.
[4] David Wilcock, Keir Starmer’s „honeymoon“ with Brits, dailymail.co.uk, 12.7.2024.
[5] Gabriel Pogrund, Labour celebrated election success – now they’re targeting Reform, thetimes.com, 7.7.2024.
[6] Dan Woodland, Keir Starmer’s new prisons minister James Timpson believes „only a third of inmates should actually be in jail“, dailymail.co.uk, 6.7.2024.
[7] Anand Menon, A brave new (Brexit) world, ukandeu.ac.uk, 9.7.2024.