
Bild: Symbolbild: Eine Kirchenbank, Josh Applegate via unsplash.com
Wer es bis dahin nicht glauben wollte und der Meinung war, die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) überrage ihre katholische Schwester in Sachen Moral, wurde nun eines Besseren belehrt: Ihre Schuld ist nicht minder. Auch in den Kernzonen und im Umfeld des Protestantismus missbrauchen Pfarrer, Erzieher, Jugendleiter oder Kirchenmusiker das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen, setzen sie unter Druck, verüben sexuelle Gewalt. Das reicht von Verbalübergriffen über Berührungen bis hin zur Penetration. Pastoren nutzen ihre theologische Deutungshoheit, um ihre Handlungen zu rechtfertigen, Pädagogen die abgeschotteten Räume ihrer Einrichtungen, andere die besondere Nähe, die sich in der Jugendfreizeit ebenso einstellt wie an der Orgel, auf der das Lob Gottes erklingt und ihm zum Hohn die Schutzbefohlenen missbraucht werden.
Die lang erwartete und im Januar endlich vorgestellte ForuM-Studie zu „Forschung und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“, die 2018 nach einem öffentlichen Hearing in Auftrag gegeben worden war, lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.[1] 2225 Fälle und 1259 Beschuldigte konnte die interdisziplinär besetzte Forschungsgruppe in den 20 Landeskirchen nachweisen. „Die Spitze der Spitze des Eisbergs“ sei das, wie deren Sprecher Martin Wazlawik auf der Pressekonferenz bitter erklärte.[2] Denn den Forschenden standen nur die Disziplinarakten zur Verfügung, nicht aber – von einer kleinen Landeskirche abgesehen –, die Personalakten wie bei der katholischen MHG-Studie.[3] Ob aus Überlastung oder Überforderung, wie die Kirchenseite argumentiert, oder schlicht aus Unwillen, das Dunkelfeld sexuellen Missbrauchs im Bereich der EKD aufzuhellen, steht dahin. Sicher ist aber, dass dieses immense Ausmaße hat, wenn man die Daten der verfügbaren Personalakten der Landeskirche zugrunde legt. Eine Überprüfung ergab, dass knapp 60 Prozent der Beschuldigten und 75 Prozent der Betroffenen, die dort eruiert werden konnten – also die Mehrheit der Fälle –, allein auf Grundlage der Disziplinarakten nicht hätten identifiziert werden können. Der Mainzer Professor für forensische Psychiatrie, Harald Dreßing, nannte auf der Pressekonferenz die Zahl von 3497 Beschuldigten, würden diese Zahlen auf alle Landeskirchen hochgerechnet.
Lange nur ein Problem der anderen
Diese hinhaltende oder behindernde Rolle der Kirchenverwaltungen deckt sich mit dem Befund der Diskursanalyse, die die Forschenden in der 870 Seiten umfassenden Studie zum Umgang der EKD mit dem Thema Missbrauch angestellt haben. Die Kirche habe sexualisierte Gewalt lange nicht als eigenes Problem wahrgenommen und wenn, höchstens verhalten und selektiv. Entweder habe man die Verantwortung auf die katholische Kirche gelenkt oder in den Kontext der Gesamtgesellschaft gestellt. Eine besondere Betroffenheit und Schuld der EKD habe man nicht erkennen wollen, weil dies bedeutet hätte, den besonderen „Schutzraum“, den die Evangelische Kirche zu bieten beansprucht, infrage zu stellen und damit auch deren kultivierte Vorstellung von einer „partizipativen, hierarchiearmen und progressiven“ Institution.[4] Erst im Anschluss an das dritte öffentliche Hearing der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs und der Synode 2018 zeigte sich die EKD vorsichtig bereit, sich des Themas anzunehmen.
„Ich bin erschüttert und aufgerüttelt, aber nicht fassungslos“, gab die Hamburger Bischöfin und Ratsvorsitzende der EKD, Kirsten Fehrs, zu Protokoll. „Wir haben die Kinder und Jugendlichen zur Tatzeit nicht geschützt und wir haben sie nicht würdig behandelt, als sie den Mut gefasst haben, sich zu melden.“[5] Die Institution habe Schuld auf sich geladen, „und ich kann Sie, die Sie so verletzt wurden, nur von ganzem Herzen um Entschuldigung bitten“, wandte sie sich an die Betroffenen, die im Rahmen des Beteiligtenforums der EKD und direkt an der Studie mitgewirkt haben. Das seien „schöne Worte, die wir immer wieder hören“, konterte Katharina Kracht, die von einem Pastor der Hannoveraner Landeskirche sexualisierte Gewalt erfahren hat. Doch leider bleibe es oft dabei, denn es mangele an „Kompetenz“ und manchmal auch am Willen, sich dem, was im Tatumfeld der Kirche passiert ist, zu stellen. Sie habe Jahre warten und gegen alle Widerstände selbst Nachforschungen anstellen müssen, erzählte sie. „Doch die Betroffenen brauchen das Recht auf Aufarbeitung.“[6]
Gewalt in allen Bereichen
In fünf Teilstudien haben die Forschenden den Tatkontext der Evangelischen Kirche untersucht, einen Ost-West-Vergleich angestellt, die Praxis der Aufarbeitung verfolgt, Erfahrungen aus Betroffenenperspektive offengelegt und begünstigende Faktoren für sexualisierte Gewalt ermittelt. Im fünften Teilprojekt beziffern die Wissenschaftler:innen das Ausmaß und den Umgang mit Missbrauchsverhalten. Aufschlussreich sei, so Wazlawik, dass nicht ein einziger Tatkontext hervorsteche, sondern es in allen Handlungsfeldern der Kirche Hinweise auf sexualisierte Gewalt gebe. Das gelte für den Konfirmandenunterricht und Kirchenchor ebenso wie für das Pfarrhaus, den Kindergarten, die Jugendfreizeit und die Heime in evangelischer Trägerschaft. Oft hätten die Übergriffe über einen längeren Zeitraum stattgefunden.
Bei den aktenkundigen Fällen lag der Anteil der männlichen Betroffenen bei 64,7 Prozent und somit höher als der der weiblichen, insbesondere im Bereich der Diakonischen Werke, die Heime in evangelischer Trägerschaft betreiben. Bei den Fällen, die sich aus den Disziplinarakten auslesen ließen und nicht offiziell wurden, lag der Anteil der Mädchen dagegen bei 55,1 Prozent. Die meisten von sexualisierter Gewalt Betroffenen waren unter 14 Jahre alt, die beschuldigten Mitarbeiter waren dagegen überwiegend männlich und verheiratet, das Durchschnittsalter betrug in den aufgedeckten Fällen 39,6 und in den aus den Disziplinarakten erkannten Fällen 42,7 Jahre. Unter den identifizierten Beschuldigten fanden sich 511 meist männliche verheiratete Pastoren. Die Mär vom katholischen Zölibat, das insbesondere Missbrauch befördere, lässt sich so kaum aufrechterhalten. Oft handelte es sich um Mehrfachtaten, und bei einem Drittel der Fälle wurde gegen mehrere Minderjährige sexualisierte Gewalt ausgeübt.[7] Die Gewalterfahrung hatte „gravierende körperliche, psychische und soziale Folgen, insbesondere in den späteren Partnerbeziehungen“, so Wazlawik auf der Pressekonferenz, während die Täter gedeckt worden seien und sie ihrem Treiben nicht selten an anderen Einsatzorten weiter nachgehen konnten.
Leugnung, Abwehr, Täterschutz
Die Bedeutung der Pfarrperson und das Machtgefälle zwischen Beschuldigten und betroffenen Personen stellt die Studie als besondere Risikofaktoren heraus. Betroffene erzählen, dass der Pfarrer „eine umschwärmte Projektionsfigur“ gewesen sei und sie sich „geehrt“ gefühlt hätten, von ihm wahrgenommen worden zu sein.[8] Oft bahnten die Beschuldigten die Beziehung im theologischen Kontext mit Verweis auf die Liebe Gottes an oder – im sexuallibertären Kontext – als Akt der Befreiung. Das evangelische Amtsverständnis und die spezifische evangelische Kultur mit ihrem Seelsorgewesen, ihrem Harmoniebedürfnis, ihrer Konfliktscheu und ihrer Vorstellung, eine „bessere“ Kirche zu sein, begünstigten dabei sexualisierte Gewalt.
Interessant ist auch der von den Forschenden angestellte Ost-West-Vergleich, der zeigt, dass es in der Evangelischen Kirche der DDR ebenfalls ein implizites oder explizites Wissen über sexualisierte Gewalt gab. Die Betroffenen fanden wie auch im Westen zumeist keine Ansprechpartner. Insgesamt hatten die politischen Systeme keinen unmittelbaren Einfluss auf Umfang und Umgang mit sexualisierter Gewalt. Das gilt mit Blick auf Reformpädagogik und sexualpolitische Liberalisierung, wie die Wissenschaftler:innen betonen.[9]
Wie in den meisten Tatkontexten von sexualisierter Gewalt erwartete die Betroffenen beim Versuch, die Taten offenzulegen und Rechenschaft zu fordern, eine feindselige Atmosphäre: Schweigen, Leugnen, Abwehren, Bagatellisieren, Nicht-Glauben, Schuldumkehr, Schützen von Täter und Täterin, Drohen und Ausgrenzen. Die Studie liefert anschauliche Belege dafür, wie schwer es war und immer noch ist, die Evangelische Kirche zur Verantwortung zu ziehen. Aufarbeitung und eine angemessene Entschädigung scheitern oft genug auch an der föderalen Struktur der EKD und der damit einhergehenden Verantwortungsverschiebung. Dass das Offenlegen und die Aufarbeitung in den allermeisten Fällen von den Betroffenen ausgeht und nicht proaktiv von der Kirche betrieben wird, ist ein Indiz für das gemeinschaftlich-einverständige Wegducken, das dem Wunsch folgt, die Institution vor Schaden zu schützen.
Alleingelassen von Jugendämtern und Gerichten
Dieses Gefühl der Betroffenen, alleingelassen zu werden, offenbart auch die Fallstudie zur Arbeit der Jugendämter und Familiengerichte, die die Aufarbeitungskommission im Dezember vergangenen Jahres vorstellte.[10] Die Auswertung von Jugendamtsakten und -berichten liefert Hinweise auf die Defizite nicht nur bei der Gefährdungseinschätzung, sondern auch beim Umgang mit den Betroffenen. Einerseits fördert die Angst vor dem Jugendamt, das die Kinder entzieht, das Schweigen der Familien: „Die tun nix, und wenn sie was tun, dann nehmen sie nur die Kinder raus.“ Andererseits wird das Jugendamt als ferne Instanz wahrgenommen, die als Ansprechpartner in der Not nicht zur Verfügung steht: „Das Jugendamt war für mich etwas Unerreichbares, bei uns im Dorf gab es das nicht.“[11]
Die Betroffenen erleben es – ganz ähnlich wie im Umkreis der Kirche – als „Glück oder Pech“, auf verständnisvolle oder ignorante Bearbeiter:innen zu stoßen. Sie seien hin- und hergerissen „zwischen Reden wollen und Schweigen sollen“[12], so Ilka Kraugmann, Mitglied des Betroffenenrats. Ihr Schicksal liegt in den Händen fremder Personen, während das familiäre Umfeld vor den Folgen warnt, wenn das Jugendamt aktiv wird. Ob ein Kind „spricht“, hängt vom Zufall ab, dass es an eine vertrauenswürdige Person gerät und sich seine Hoffnung auf Schutz nicht ins Gegenteil verkehrt, etwa wenn der Gewalttäter nach seiner Entdeckung seine Übergriffe intensiviert. Die Angst, wieder in die Familie zurückkehren zu müssen, nachdem der Missbrauch offengelegt wurde, ist ein großes Hindernis, sich anzuvertrauen. Oft haben Jugendamtsmitarbeitende keine Ahnung, wie viel Kraft und Mut es die Betroffenen kostet und wie viele Hürden sie nehmen mussten, um überhaupt die Schwelle zum „Amt“ zu überwinden.
Deshalb fordern die Expert:innen eine bessere Qualifikation der Fachkräfte und eine kindgerechte, medienaffine und niedrigschwellige Öffnung der Jugendämter. Die Kinder und Jugendlichen müssten am Prozess beteiligt, eng begleitet und ihre Wünsche in die Entscheidungen von Familiengerichten einbezogen werden. Angesichts der Personalnot und der katastrophalen Überlastung der Ämter sowie von jährlich über 17 000 Fällen von sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige ist das vor allem eine politische Aufgabe, die an die zuständigen Ministerien zu adressieren ist. „Kinder und Jugendliche können sich bei sexualisierter Gewalt nicht selbst schützen. Dies zu tun und ihnen zu helfen, ist eine zentrale Aufgabe von Jugendämtern“, erklärt die Soziologin Barbara Kavemann, die sich seit Jahrzehnten in Sachen Gewaltschutz engagiert.
Die EKD ihrerseits steht noch ganz am Anfang ihres Auftrags, weil eine gelingende Aufarbeitung sexualisierter Gewalt mit der Reflexion ihres Selbstverständnisses und ihrer „tief verankerten heteronormativen Denk- und Verhaltensmuster“ einhergehen muss.[13] Erste Ansätze, die Betroffenen an diesem Prozess zu beteiligen, sind mit dem Beteiligtenforum gemacht, wobei der Kirche ferner stehende Betroffene monieren, sich dort nicht repräsentiert zu fühlen. Vielfältige Partizipationsformate, aber vor allem der Wille der Evangelischen Kirche, sich dieser unangenehmen Seite ihrer Geschichte zu stellen, seien vonnöten, um den Weg von Prävention, Intervention und Aufarbeitung weiterzugehen, schreiben ihr die Forscher:innen ins Stammbuch.
Katharina Kracht als Betroffene dagegen, die von der Kirche nichts mehr erwartet, wünscht sich die Intervention des Staates. Er müsse „seine Mittel einsetzen und darauf wirken, dass die Betroffenen nicht alleine einer Organisation ausgesetzt sind, die leider allzu oft mit Täterschutz beschäftigt ist“, sagt sie in einem Interview.[14] Detlev Zander vom Beteiligtenforum erklärt gegenüber den Verantwortlichen: „Wir Betroffene sind sprach- und handlungsfähig geworden. Fangt endlich an, uns ernst zu nehmen und behandelt uns nicht als Opfer.“[15]
[1] Forschungsverbund ForuM (Hg.), Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland. Abschlussbericht, forum-studie.de, Januar 2024.
[2] Pressekonferenz am 25.1.2024 in Hannover.
[3] MHG-Studie, Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, dbk.de, 2018.
[4] ForuM-Studie, (Zusammenfassung), S. 5, a.a.O.
[5] EKD, Statement der amtierenden Ratsvorsitzenden Bischöfin Kirsten Fehrs, ekd.de, 25.1.2024.
[6] Katharina Kracht auf der Pressekonferenz am 25.1.2024.
[7] ForuM-Studie, Zusammenfassung, S. 22 ff., a.a.O.
[8] ForuM-Studie, S. 424., a.a.O.
[9] ForuM-Studie (Zusammenfassung), S. 6 f, a.a.O.
[10] Thomas Meysen, Mareike Paulus, Regine Derr und Heinz Kindler, Sexueller Kindesmissbrauch und die Arbeit der Jugendämter, dji.de, 2023.
[11] Ebd. S. 18 und S. 17.
[12] Hier und im Folgenden: Auf der Pressekonferenz am 12.12.2023.
[13] ForuM-Studie, (Zusammenfassung), S. 28.
[14] Zit. nach: „Der Tagesspiegel“, 26.1.2024.
[15] Pressekonferenz am 25.1.2024.