
Bild: Ein Schiff der chinesischen Küstenwache patrouilliert der Küste der Insel Pagasa im Südchinesischen Meer, 16.5.2024 (IMAGO / Matrix Images / Mark R Cristino)
Nach langen Verhandlungen haben Japan und die Philippinen im Juli 2024 ein Abkommen unterzeichnet, mit dem sie ihre militärische Zusammenarbeit ausbauen wollen. Das Reciprocal Access Agreement ermöglicht, sobald es durch den philippinischen Senat und die japanische Diet ratifiziert ist, die temporäre Entsendung von Truppen des einen Partners ins andere Land und die Durchführung gemeinsamer Manöver. Außerdem soll die Interoperabilität zwischen den Streitkräften verbessert werden.
In erster Linie ist das Abkommen eine Reaktion auf die Hegemonieansprüche Chinas in der Region, die sich beispielsweise in dessen aggressivem Auftreten sowohl im Ostchinesischen Meer gegenüber Japan als auch im Südchinesischen Meer gegenüber den Philippinen und anderen Anrainerstaaten äußern.
Wie akut die Bedrohung inzwischen ist, erlebten die Philippinen in den vergangenen Monaten. Fast wöchentlich kam es zu Zusammenstößen zwischen der chinesischen Marine, Küstenwache und Fischerbooten auf der einen, und der philippinischen Marine, Küstenwache und Fischerbooten auf der anderen Seite – vor allem in der Nähe des umstrittenen Second Thomas Shoal. Auf dem bei Ebbe teilweise über Wasser liegendem Riff haben die Philippinen vor fast 30 Jahren ein Schiff auf Grund gesetzt und darauf eine kleine Marinebasis eingerichtet.
Bei chinesischen Angriffen auf Versorgungsmissionen für die Basis etwa mit Wasserkanonen wurden mehrere Filipinos zum Teil schwer verletzt. Dadurch steigt das Risiko einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den Philippinen und China – dies wiederum könnte die USA als Verbündeten Manilas auf den Plan rufen.
Die US-Hegemonie bröckelt
Die USA standen über Jahrzehnte an der Spitze der regionalen Ordnung Asiens. Eine Ordnung, in der Washington seine Hegemonie mit militärischer Stärke, vermittelt primär über ein System bilateraler Militärbündnisse, sowie wachsende wirtschaftliche Kooperation, unter anderem durch den Zugang zu den US-Märkten, absicherte. Selbst China unterhielt von den 1980er Jahren an bis in das erste Jahrzehnt der 2000er Jahre stabile und kooperative Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, um die eigene wirtschaftliche Modernisierung nicht zu behindern. Washington versuchte sogar aktiv, Peking weiter in diese regionale Ordnung zu integrieren – als „verantwortungsbewussten Akteur“ in den Worten des damaligen stellvertretenden Außenministers Robert Zoellick.
Die Hegemonie der USA in Asien bröckelt jedoch seit Jahren. Dies wird einerseits von den USA selbst verursacht – etwa durch die Unterhöhlung demokratischer Normen im Inneren, durch die sprunghafte Außenpolitik unter Trump und, vielleicht noch wichtiger, durch einen wirtschaftlichen Nationalismus unter Trump und Biden, der Marktzugänge asiatischer Partner zunehmend einschränkt, während gleichzeitig China für fast alle US-Alliierten in der Region zum größten Handelspartner aufgestiegen ist.
Andererseits stellt seit Jahren ein immer ehrgeizigeres und selbstbewussteres China die US-Hegemonie gezielt auf verschiedenen Ebenen infrage. Auf rhetorischer Ebene hat Xi Jinping die von den USA geführte hegemoniale Ordnung als ein „Relikt“ des Kalten Krieges bezeichnet und als Gegenmodell eine regionale Ordnung „von und für Asiaten“ entworfen. Und in der Praxis hat China den USA wirtschaftlich in Asien längst den Rang abgelaufen. Darüber hinaus begann das Land mit der Militarisierung von Teilen des Südchinesischen Meeres, einer massiven Aufrüstung seiner Volksbefreiungsarmee, der Ausweitung bilateraler Partnerschaften in der Region (Pekings sogenannter circle of friends) und der Förderung neuer, von China geführter multilateraler Foren und Dialoge, wie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit.
Netz statt Speichen
Die japanisch-philippinische Kooperation ist Teil einer allgemeineren Transformation des US-Allianzsystems in diesem Ringen mit China um die Vormachtstellung in Asien. Seit dem Koreakrieg 1950–53 basierte die regionale Sicherheitsarchitektur des asiatisch-pazifischen Raumes auf dem sogenannten Nabe-und-Speichen-System („hub and spokes“).
Bildlich dargestellt wurde dieses als Rad mit den USA im Zentrum – der Nabe – und den US-Alliierten Australien, Japan, Südkorea, Thailand und den Philippinen als Speichen. Zwar entstanden nach dem Ende des Kalten Krieges multilaterale Foren wie die Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft (APEC), der Ostasiengipfel (EAS) oder das ASEAN-Regionalforum (ARF). Vor allem die ASEAN-zentrierten Sicherheitsforen ARF und EAS zielten auf ein System kooperativer, multilateral organisierter Sicherheit ab, indem sie alle wesentlichen regionalen Akteure einbezogen (inklusive China, Russland, Nordkorea) und regelmäßige Sicherheitsdialoge schufen. Doch der Einfluss und die Handlungsfähigkeit dieser multilateralen Institutionen blieb begrenzt und sie vermochten es zu keinem Zeitpunkt, eine alternative Ordnungsstruktur darzustellen.
Als Reaktion auf die Machtansprüche Chinas haben aufeinanderfolgende US-Administrationen die Wahrung der US-Hegemonie („US leadership“) und damit zusammenhängend die Gegenmachtbildung gegen China zum zentralen strategischen Ziel der US-Politik in der Region erklärt. Hierbei gilt vielen das in Japan erdachte und von den USA aufgenommene Konzept des „Free and Open Indo-Pacific“ (FOIP) als Gegenentwurf zu einer chinesischen Neuordnung der Region. Unter diesem Schlagwort werden auch Ideen für eine reformierte Sicherheitsarchitektur diskutiert – in der Sicht Washingtons quasi selbstverständlich mit den USA an der Spitze.
Die Ansätze der Administrationen unter Trump und Biden eint hierbei die Idee, das bisher zentral auf die USA und ihre militärischen Fähigkeiten ausgerichtete Nabe-und-Speichen-System in eine stärker vernetzte Sicherheitsarchitektur („networked security architecture“) zu transformieren. Drei strukturelle Kernelemente werden in diesem Zusammenhang genannt.
Erstens sollen die US-Militärbasen in der Region erhalten bleiben. Die dort stationierten Militärkapazitäten, zum Beispiel Kampfdrohnen, U-Boote oder ballistische Langstreckenraketen, sollen ausgebaut und die Zugänge zu den Militärbasen von Alliierten ausgeweitet werden. 2023 erlaubten beispielsweise die Philippinen den USA, auf vier weiteren Militärbasen Truppen rotierend zu stationieren. Damit haben jetzt die US-Streitkräfte Zugang zu neun philippinischen Militärbasen. Auch wurde das im australischen Darwin stationierte rotierende US-Truppenkontingent 2021 von wenigen Hundert auf 2500 Marines aufgestockt.
Zweitens sollen die US-Alliierten und sogenannte gleichgesinnte Partner im Indopazifik gestärkt werden. Zusammen mit ihnen wollen die USA ein System der integrierten Abschreckung aufbauen. Darin sollen die Verbündeten integraler Bestandteil der militärischen Abschreckung von Gegnern der USA in Bereichen der konventionellen, der nuklearen, der Cyber- und der Informationskriegsführung sein.
Dahinter steht die Einsicht in Washington, dass die USA unter anderem aufgrund der massiven Aufrüstung Chinas und Russlands nicht mehr über die Fähigkeiten verfügen, jede Region und jeden Operationsraum der Welt militärisch zu dominieren. Im Mittelpunkt stehen dabei Ertüchtigungsprojekte wie Rüstungslieferungen, gemeinsame Manöver und Trainings sowie nachrichtendienstliche Zusammenarbeit. Mit Neu-Delhi schloss Washington 2016 ein Abkommen, welches die gegenseitige Nutzung von Militärbasen für Reparatur- und Nachschubzwecke ermöglicht. Zur engeren Kooperation mit Partnern unterhalb der Schwelle von formellen Allianzen gehört auch ausdrücklich die militärische Unterstützung von Taiwan.
Weiterhin beinhaltet dies auch sogenannte minilaterale Institutionen – also die Kooperation von wenigen Staaten – wie der Quad und AUKUS. Der Quad (Quadrilateral Security Dialogue – eine Kooperation zwischen Australien, Indien, Japan und den USA) steht zudem sinnbildlich für das Eingeständnis Washingtons, die regionale Vormachtstellung im Indopazifik nicht mehr alleine bewahren zu können. Da China zusehends auch an militärischer Stärke gewinnt, soll das Geflecht aus Kooperationen um „gleichgesinnte Partner“ wie Indien erweitert werden. Mit AUKUS wurde zudem ein neuer trilateraler Sicherheitspakt zwischen den USA, Australien und dem Vereinigten Königreich geschaffen. Der Schwerpunkt liegt darauf, nuklear getriebene U-Boote mit US-amerikanischer und britischer Technologie an Australien zu liefern.
Drittens soll die sicherheitspolitische Kooperation der US-Alliierten und Partner untereinander ausgeweitet werden. Zum Beispiel in Bereichen wie Nachrichtendiensten und konventioneller Verteidigung sollen die „Speichen“ intensiver untereinander zusammenarbeiten anstatt wie bisher vor allem mit der „Nabe“ USA. Die Intensivierung der Verteidigungskooperation zwischen den Philippinen und Japan ist ein Beispiel hierfür.
Wankelmütiges Washington
Auf Seiten der US-Alliierten wie auch der sogenannten gleichgesinnten Partner hat die stärkere Kooperation untereinander noch einen weiteren Grund: Die Sorge, dass Washington nicht nur seine zentrale Rolle wegen seines relativen Machtverlusts gegenüber Peking nicht mehr dauerhaft spielen kann, sondern sie auch nicht mehr zuverlässig spielen will – aufgrund innenpolitischer Faktoren in den USA.
Die Reputation der USA als verlässlicher Partner ist in Asien nicht erst seit dem schlecht geplanten und durchgeführten Rückzug der USA aus Afghanistan angekratzt. Immer wieder zeigen Umfragen auf die schrumpfende Unterstützung für internationale Militäreinsätze wie auch generell für das globale Engagement der USA. Und Trump hatte als Präsident nicht nur in Europa mit einem Austritt der USA aus der Nato gedroht, sondern auch die Bündnistreue der USA gegenüber asiatischen Alliierten wie Südkorea offen infrage gestellt.
In Manila erinnern sich viele außerdem an die de facto Besetzung des Scarborough Riffs 2012 durch China, bei der die Unterstützung der USA ausblieb. Nachdem die Philippinen Anfang 2012 chinesische Wilderer festgenommen hatten, tauchte die chinesische Küstenwache dort auf und beanspruchte die Kontrolle über das Riff, welches nur 124 Seemeilen von der philippinischen Hauptinsel Luzon entfernt ist und somit klar innerhalb der philippinischen „Ausschließlichen Wirtschaftszone“ liegt.
Im Juni desselben Jahres vermittelte Washington eine Vereinbarung über einen Rückzug der Schiffe beider Seiten, der jedoch nur Manila nachkam. Seitdem kontrolliert Peking das Riff. Trotz Pekings Wortbruch beschloss die Obama-Regierung, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. Zwar protestierte Washington offiziell, aber ein hochrangiger US-Militärbeamter erklärte damals gegenüber der Washington Post: „Ich glaube nicht, dass wir zulassen, dass die USA in einen Konflikt mit China um Fische oder Felsen hineingezogen werden.“
Das Interregnum
Die Lösung der Großmächterivalität zwischen den USA und China wird häufig binär verstanden. Stark verkürzt: Entweder gelingt es den USA, ihre „Pax Americana“ abzusichern, oder eine chinazentrierte „Pax Sinica“ tritt an deren Stelle. Zum Verständnis der gegenwärtigen Situation viel geeigneter erscheint jedoch das Konzept eines Interregnums von Antonio Gramsci. Er deutet ein Interregnum als einen Moment der fundamentalen Krise einer etablierten Ordnung, in dem „die alte Ordnung stirbt, aber die neue Ordnung noch nicht geboren werden kann“. Ein Interregnum ist daher nicht nur als kurze Phase zwischen dem Abdanken oder Ableben eines Regenten und der Amtsaufnahme seines Nachfolgers zu verstehen, sondern als fundamentale Krise einer etablierten Ordnung.
Auf Asien angewandt, bedeutet dies, dass auf die Krise der US-Hegemonie nicht so schnell eine neue stabile regionale Ordnung folgen wird. Weder ist derzeit eine Wiederherstellung der US-Hegemonie in der Region absehbar noch zeichnet sich ein Konsens bezüglich einer „Pax Sinica“ ab.
Ganz im Gegenteil: Chinesische Hegemonieansprüche werden nicht nur von den USA und ihren Alliierten, sondern auch von Staaten wie Indien oder Vietnam offen infrage gestellt. Letztere teilen zwar das strategische Misstrauen gegenüber China und nähern sich zumindest sicherheitspolitisch den USA an, teilen aber nicht deren zentrales strategisches Ziel: die Bewahrung der US-Hegemonie. Vielmehr sehen sich Staaten wie Indien als Pole einer künftigen multipolaren regionalen Ordnung. Auch deshalb ist die derzeitige Situation sehr fluide und von der Suche nach neuen Normen, Partnerschaften und Allianzen wie auch Institutionen geprägt.
Die Staaten Asiens selbst werden bei dieser Suche nach einer regionalen Sicherheitsordnung vermutlich immer wichtiger werden. Es scheint sich ein komplexes Spinnennetz aus sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperationsformaten herauszubilden, welches zwar noch weitgehend US-zentriert ist, in dem aber die Bedeutung von US-Alliierten wie auch von regionalen Akteuren außerhalb des US-Allianzsystems stetig zunimmt. Verteidigungskooperationen wie die zwischen den Philippinen und Japan dürften daher künftig immer mehr zur Regel werden.
Besorgniserregend ist dabei aber vor allem, dass gleichzeitig multilateral und inklusiv orientierte, traditionell ASEAN-zentrierte Institutionen noch mehr an Bedeutung verlieren. Diese hätten ein Forum für Konfliktmanagment sein können. Und so wächst die Gefahr einer militärischen Konfrontation. Der nächste Krieg in Asien könnte sich daher durchaus an Auseinandersetzungen um Fische und Felsen entzünden.