Ausgabe April 2025

Serbien: Massenproteste gegen die Kleptokratie

Protestierende in Belgrad, 14.3.2025 (IMAGO / CTK Photo / Pavel Nemecek)

Bild: Protestierende in Belgrad, 14.3.2025 (IMAGO / CTK Photo / Pavel Nemecek)

Serbiens Machthaber Aleksandar Vučić hat den Groll seiner Landsleute auf sich gezogen: Seit Monaten demonstrieren Studierende und Aktivist:innen in mehreren Teilen Serbiens gegen die Korruption und den überbordenden Machtmissbrauch im Land. Hunderttausende gingen in serbischen Städten auf die Straßen – eine ähnliche Mobilisierung hatte es zuletzt unter dem ehemaligen Machthaber Slobodan Milošević gegeben, bevor dieser wegen des Vorwurfes schwerster Kriegsverbrechen im Kosovo- und Bosnienkrieg an das Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag ausgeliefert wurde. 

Nun protestieren sie also aufs Neue: Allein am 15. März kamen bis zu 300 000 Menschen zur größten Demonstration in der Geschichte der Hauptstadt Belgrad. Die Protestierenden reagieren diesmal vor allem auf den Einsturz eines Bahnhofsvordachs in der Stadt Novi Sad Ende 2024, bei dem 15 Menschen starben. Der Verdacht des Baupfusches und der Korruption auf höchster Ebene steht im Raum, wie so oft in Serbien. Als Symbol des Widerstands tauchen seither überall im Land Plakate mit roten Handabdrücken auf. Die Botschaft an die Regierenden ist klar: An euren Händen, eurer Vetternwirtschaft, euren kriminellen Machenschaften und an eurer Selbstbereicherung klebt Blut. 

Darüber hinaus sieht man bei den Protestzügen kaum Symbole oder Flaggen – die Organisatoren wollen verhindern, dass etwa nationalistische oder andere Kräfte die friedlichen Proteste kapern. Unterstützung für die Bürgermobilisierung kommt auch von Professor:innen, Lehrkräften, Schauspieler:innen und Künstler:innen. Sie alle eint die Forderung nach einer bedingungslosen Aufarbeitung des Dacheinsturzes, ihr wichtigstes Ziel aber ist die Stärkung des Rechtsstaates. 

Tatsächlich ist es um die rechtsstaatliche Verfasstheit Serbiens schlecht bestellt: Obwohl das Land seit 2012 offiziell EU-Beitrittskandidat ist, fällt es seit Jahren auf wichtigen demokratiepolitischen Feldern immer weiter zurück.Die erhoffte Sogwirkung der EU in Richtung Demokratisierung ist ersichtlich versiegt, doch Brüssel agiert nach wie vor so, als reiche es, ab und zu thematische Arbeitskapitel abzuhandeln, um in den Kandidatenländern eine Demokratisierung anzuregen. Statt das Land auf EU-Kurs zu bringen, trimmt Vučić den Balkanstaat immer stärker auf einen illiberalen Kurs.

Dabei versteht es der serbische Präsident geradezu virtuos, sich den Machtzentren in Moskau, Peking sowie Washington und Brüssel gleichermaßen anzudienen, fast chamäleongleich. Fest steht: Die großen Machtzentren setzen ihrerseits allesamt auf Appeasement, um den Mann in Belgrad auf ihre Seite zu ziehen. In der EU verfolgt man das Ziel, Serbien aus dem russischen Einflussbereich herauszulösen. Dass genau das seit Jahren nicht gelingt und Vučićs erratische Politik zu einer steten Quelle der Destabilisierung in der Region geworden ist, führte bislang indes nicht zu einer Kurskorrektur. 

Paradoxerweise macht Vučić nun „den Westen“ für die Aufwiegelung der Studierenden im Land verantwortlich – dabei war es de facto vor allem die fortgesetzte westliche Samthandschuhpolitik, die seine Macht über Jahre weiter absicherte. Die EU sieht in Vučić gar einen Stabilitätsanker, weshalb ihm eine Schlüsselrolle in der Brüsseler Balkanpolitik zukommt. Diesen Ansatz verfolgte schon Ex-Kanzlerin Angela Merkel. In ihrer Amtszeit reiste sie regelmäßig nach Belgrad, vor Wahlen lobte sie demonstrativ Vučićs Reformwillen. Der starke Mann in Belgrad, so das Kalkül, werde die fragile Lage auf dem Balkan schon irgendwie austarieren. Bilaterales Tête-à-tête und Handelspolitik statt strategischer Balkanpolitik, lautete die Devise.

EU-Appeasement gegenüber Vučić

Bei der Opposition, aber auch bei Bürgerrechtler:innen sorgt Deutschlands Serbienkurs seit Jahren für Unverständnis. Sie fühlen sich marginalisiert und beklagen eine Schwächung der demokratischen Kräfte, nicht nur in Serbien, sondern in der gesamten Region – mit der Folge, dass autoritäre Tendenzen weiter gestärkt werden.

Tatsächlich heizt Vučić mit völkisch ausgerichteten, großserbischen Ambitionen, die in den 1990er Jahren zu den verheerenden Balkankriegen führten, die Spannungen auf dem Balkan weiter an. Den Nachbarländern Kosovo und Bosnien und Herzegowina spricht der aggressive Ansatz der „Serbischen Welt“ (Srpski svet) – de facto eine Fortführung der Großserbienpolitik unter Slobodan Milošević – die Existenzberechtigung ab. 

Die Leugnung der begangenen Verbrechen – bis hin zum Genozid von Srebrenica – dient dabei dem Versuch, die Geschichte umzudeuten und die serbischen Verstrickungen in die Gräueltaten der 1990er Jahre im Kontext des Zerfalls Jugoslawiens zu negieren.[1] 

Auch die USA unter Ex-Präsident Joe Biden haben dem autoritären Treiben in Serbien bis zuletzt wenig entgegengesetzt. Selbst nach dem im Herbst 2023 verübten Terroranschlag im Norden des Kosovo, der Expert:innen zufolge von Serbien aus gestützt wurde, wurde der langjährige US-Botschafter in Belgrad nicht müde, Vučić weiterhin als guten Partner zu loben. 

Genau diese unkritische Beschwichtigung nutzt Vučić seit Jahren strategisch für eine Ausweitung seiner Macht. Nach den Parlamentswahlen 2023 kritisierten EU-Wahlbeobachter:innen und die OSZE massiven Wahlbetrug sowie „Einschüchterung und Druck auf Wähler“.[2] Die Organisation Freedom House konstatierte im vergangenen Jahr, dass sich die Demokratie in Serbien wie in keinem anderen Land in der Region im Niedergang befinde.[3] State-Capture-Strukturen, sprich: die systematische Einflussnahme privater Akteure auf staatliche Entscheidungsprozesse, schwächen die Institutionen und die Gewaltenteilung. Unter Vučić wurden Institutionen und vor allem Medien auf Linie gebracht, bürgerliche Rechte eingeschränkt. Und regierungsnahe Medien verbreiten Hassrede ungefiltert als Propagandawaffe gegen politische Gegner und Oppositionelle. 

Dabei hat vor allem in den vergangenen Jahren der Einfluss Russlands stark zugenommen – prorussische und antieuropäische Narrative dominieren in Serbien den öffentlichen Diskurs. Der Balkan, so eine Studie der Friedrich-Naumann-Stiftung, fungiere als „Labor und Testfeld“ für die Propaganda aus dem Kreml.[4] Eine besondere Bedeutung komme dabei der Führung in Belgrad zu, die ein aggressives Freund-Feind-Denken vorantreibt. Zu den erklärten Feinden zählt in der Vučićschen Lesart vor allem die Zivilgesellschaft. Im Dezember 2024 beklagte Amnesty International in einem Bericht, dass serbische Aktivist:innen, Menschenrechtler:innen und Journalist:innen mit modernster Spionagesoftware gezielt ausspioniert würden.[5] Auch die Demonstrierenden, die seit Monaten Reformen einfordern, sprechen von Einschüchterungen, immer wieder kommt es zu Provokationen. Die Stimmungsmache gegen Andersdenkende zeigt Wirkung: Bei einer Demonstration Mitte Januar raste ein Autofahrer in die versammelte Menschenmenge – eine 20-jährige Demonstrantin wurde dabei schwer verletzt. 

Bei der Großdemonstration in Belgrad Mitte März setzten die Sicherheitskräfte mutmaßlich eine Schallkanone ein. Zwar dementieren die Behörden, es gibt aber Aufnahmen des Zwischenfalls, serbische Medien berichten zudem, dass mehr als 50 Teilnehmer des Protestzuges im Krankenhaus behandelt wurden. Darüberhinaus existieren mehr als 3000 Berichte von Augenzeugen, die den Schallwaffeneinsatz miterlebten.

Großserbische Ambitionen

Wer Vučićs Politik verstehen will, muss vor allem in die Geschichte blicken: Sein politisches Handwerk lernte der bei öffentlichen Auftritten eher ungelenk wirkende Politiker im Machtapparat unter Slobodan Milošević, der als inhaftierter Angeklagter in Den Haag starb, bevor er von der internationalen Justiz zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Als Propagandaminister unter Miloševic´ stützte der damals junge Vučić den gegen andere ethnische Gruppen und die Nachbarländer Serbiens gerichteten aggressiven serbischen Ethnonationalismus. Er war Teil jener Kriegsmaschinerie, die in Kroatien, Bosnien und Herzegowina sowie im Kosovo Kriegsverbrechen beging – ganze Landstriche wurden damals im Namen der großserbischen Idee ethnisch gesäubert. Allein in Bosnien wurden Zehntausende, zumeist muslimische Frauen vergewaltigt.

Wenige Tage nach dem Völkermord in Srebrenica, bei dem serbisch-bosnische Milizen im Juli 1995 mehr als 8300 muslimische Jungen und Männer umbrachten, drohte Vučić: Wenn ein Serbe getötet werde, würden im Gegenzug hundert Muslime sterben.

Serbiens Führung weigert sich bis heute, das Kapitel der Balkankriege der 1990er Jahre, in denen fast 150 000 Menschen starben und über vier Millionen zu Flüchtlingen wurden, aufzuarbeiten – eine Katharsis, ein Wille zur Aussöhnung mit den Nachbarländern lässt sich auch fast 30 Jahre nach Beendigung der Gewaltexzesse nicht erkennen. Und bis heute weigert sich Belgrad trotzig, die Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen. 

Stattdessen schlägt die imperiale, großserbische Politik immer radikalere Töne an – aus Vučićs Umfeld etwa heißt es, eine Vereinigung serbischer Gebiete zu einem großserbischen Staat sei nicht mehr aufzuhalten. So plant die Führung des serbisch dominierten Teils von Bosnien und Herzegowina, der Republika Srpska (RS), unter Präsident Milorad Dodik schon lange, die RS vom bosnischen Gesamtstaat abzuspalten und der Republik Serbien anzuschließen. Dodik unternahm Anfang März weitere Schritte zum Angriff auf gesamtbosnische Institutionen – ausgerechnet die bosnischen Organe der Staatssicherheit und Justiz sollen künftig nicht mehr in der RS arbeiten können. Ein beispielloser Akt, der auf die Funktionalität und Existenz Bosniens als souveräner Staat abzielt. Rückendeckung für den Quasi-Putsch erhielt Dodik, wieder einmal, von Serbiens Präsident Vučić

Dieser ist sowohl ideologisch als auch personell eng mit den Strukturen der kriminellen Vergangenheit Serbiens verwoben, mit den Schlägertrupps, den dubiosen Netzwerken der Unterwelt, der imperialen Politik – ein Bekenntnis zu einem demokratischen Aufbruch sieht anders aus. An den westlichen Sanktionen gegen Russland infolge des Angriffskrieges auf die Ukraine hat sich Belgrad bislang nicht beteiligt. 

Doch wie früher gegenüber Russland setzt Europa auch im Falle Serbiens weiter auf einen Wandel durch Handel: Im vergangenen Jahr schlossen die EU und Deutschland mit der Führung in Belgrad ein Abkommen zur Nutzung der serbischen Lithiumvorkommen ab.[6] Der Hintergrund: Die EU will sich beim Kauf von Rohstoffen von China unabhängig machen, Ende 2023 verabschiedete das EU-Parlament daher den Critical Raw Materials Act. 

Ende 2024 traf sich Noch-Kanzler Olaf Scholz mit Vučić in Sachsen und warb mit diesem für einen nachhaltigen Abbau des begehrten Lithiums – in einem Land aber, das von endemischer Korruption durchdrungen ist und in dem nicht einmal Bahnhofsdächer den allgemeinen Sicherheitsstandards genügen, erscheint die Idee eines nachhaltigen Rohstoffabbaus geradezu abwegig. Dass in Serbien Umweltstandards gefährlich unterlaufen werden, belegen vor allem die massiven Verwüstungen nahe der Stadt Bor, wo chinesische Investoren seit Jahren auf Kosten der Bevölkerung und der Umwelt serbische Kupferminen betreiben. 

Experten warnen in Studien schon lange vor den negativen Folgen des Lithiumabbaus in dem von Landwirtschaft geprägten Jadar-Tal – doch das wischen westliche Politiker:innen, wie so vieles im Umgang mit dem autoritären Regime in Serbien, beiseite. Dabei sollte allein der schlechte Ruf des Minengiganten Rio Tinto, der das Lithium in Serbien abbauen soll, aufhorchen lassen. Die Bilanz des weltweit aktiven Bergbaukonzerns ist verheerend: Sie beinhaltet die ungehemmte Zerstörung von Umwelt, Lebensraum und kostbaren Kulturgütern, etwa in Australien. 

Noch verheerender für die Balkanstaaten ist allerdings der neue außenpolitische Kurs der Trump-Administration, der sich auf der Münchener Sicherheitskonferenz andeutete und sich mit der Demütigung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Oval Office und der darauf folgenden Aussetzung der US-Militärhilfen für die Ukraine manifestierte: Sollte Russlands Präsident Putin, gestützt von der neuen US-Regierung, mit seiner Annexionspolitik in der Ukraine durchkommen, dürfte Serbiens Präsident seine großserbischen Ambitionen noch zielgerichteter verfolgen.

Eine Gefahr für den Balkan: Trumps Pro-Putin-Kurs

Das aber könnte einen gefährlichen Dominoeffekt auslösen, neue kriegerische Auseinandersetzungen auf dem Balkan sind nicht mehr auszuschließen. Umso wichtiger wäre eine strategisch neu aufgesetzte Balkanpolitik der EU zur Eindämmung der imperialen Bestrebungen in der Region. Die Europäische Union sollte die territoriale Integrität der multiethnischen Länder (allen voran Bosnien und Herzegowinas sowie des Kosovo) kompromisslos verteidigen, um eine Zerstörung der aktuellen Friedensordnung in Südosteuropa zu verhindern. 

Serbiens Präsident Aleksandar Vučić ist ein Sicherheitsrisiko, nicht nur für die eigene Bevölkerung, die sich seit Monaten seinem Machtapparat beherzt entgegenstellt, sondern für ganz Europa. Auf einer Gegenveranstaltung zu den Studierendenprotesten machte er deutlich, was er von der Massenmobilisierung im Land hält: Mit Nachdruck erklärte der geübte Demagoge, die „bunte Revolution“ ziele darauf ab, nicht ihn, sondern Serbien zu zerstören. Er aber, so versprach Vucˇic´ den Versammelten, werde alle bunten Revolutionen auf der ganzen Welt erledigen. Wenige Tage später flog Serbiens Vizepremierminister Aleksandar Vulin nach Moskau. Das Thema der Unterredungen mit Kreml-Vertretern: die serbische Protestbewegung. 

[1] Vgl. Marion Kraske, Die Aktualität von Srebrenica, in: „Blätter“, 8/2024, S. 77-84.

[2] Voters had political alternatives in Serbia’s elections but they were marred by overwhelming ruling party advantage, international observers say, osce.org, 18.12.2023.

[3] Nikola Burazer, Nations in Transit 2024. Serbia, freedomhouse.org.

[4] Russland – Wegbereiter von Autokratien, freiheit.org, 6.1.2025.

[5] Serbia: Authorities using spyware and Cellebrite forensic extraction tools to hack journalists and activists, amnesty.org, 16.12.2024. 

[6] Vgl. Adelheid Wölfl, Serbiens weißes Gold: Rohstoffe vor Menschenrechte, in: „Blätter“, 9/2024, S. 33-36.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema