1. Paul Rohrbachs "Orangentheorie" scheint nach acht Jahrzehnten Wirklichkeit geworden zu sein, sein Traum vom Zerlegen des osteuropäischen Großreichs "wie eine Orange", um die Vorherrschaft des Deutschen Reichs in jenen Territorien zu sichern. Als "Dekompositions"-Perspektive wurde sie im Ersten Weltkrieg Teil der offiziellen Außenpolitik und im Vertrag von Brest-Litowsk vom März 1918 von der Ostsee bis zum Kaspischen Meer für wenige Monate in brutaler Perfektion realisiert. Ja, sogar der Traum Hugenbergs, welcher im Gefolge Paul Rohrbachs und jener Außenpolitik im Sommer 1933 auf der Weltwirtschaftskonferenz in London die Loslösung der Ukraine von der Sowjetunion forderte (was selbst der Regierung Hitler damals als so unklug erschien, daß sie Hugenberg umstandslos als Reichswirtschaftsminister ablöste), scheint nunmehr Realität zu werden. Beides freilich geschieht unter wesentlich anderen Bedingungen als vor 60 oder 80 Jahren: a) Die Staaten der bisherigen Sowjetunion haben eine relative Industrialisierung, d.h. die Entwicklung weit höherer Produktivkräfte geleistet, als es seinerzeit der Fall war. b) Sie haben eine Staatsgewalt hervorgebracht, die im Hinblick auf äußere Macht- und Zerstörungsmittel auf dem höchsten Niveau hegt.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.