Rede des CIA-Direktors Gates vor dem Streitkräfteausschuß des Repräsentantenhauses am 10. Dezember 1991 (Auszüge)
(...) Es gibt keinen Präzedenzfall für die plötzliche Auflösung eines so riesigen Imperiums von der Größe Rußlands oder der Sowjetunion. Das Verschwinden sehr viel kleinerer, viel jüngerer Imperien hat dem Frieden ein Ende bereitet, die soziale Ordnung gestört und die internationale Bühne so grundlegend verändert, daß dies erst Jahrzehnte später von Historikern eingeordnet werden konnte. Die Lehren der Geschichte zwingen uns, sowohl die Gefahren als auch die Chancen aufzuzeigen, wenn Imperien zugrunde gehen. (...)
Die Geschichte ist nicht beendet. Sie war nur eingefroren und schlägt nun mit einer Rachsucht zurück, deren Gefahr die Amerikaner verkennen. Nach 80 Jahren der Kriege und Revolutionen sehen wir uns erneut mit Konflikten über Nationalitäten, Rassen, Grenzen und Ressourcen einer lange vergangenen Welt konfrontiert, selbst während wir versuchen, die durch den Zerfall des Kommunismus freigesetzten revolutionären Kräfte zu integrieren und auf sie einzugehen. (...)
Die Situation ist jedoch in gefährlichem Maße instabil. Alle ehemaligen sowjetischen Republiken sehen sich mit enormen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Problemen konfrontiert, die den Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaften schwierig und potentiell gefährlich machen. Die Wirtschaft befindet sich im freien Fall ohne Aussichten für eine Umkehrung dieser Entwicklung. Schwierige Wirtschaftsbedingungen - einschließlich eines gravierenden Mangels an Nahrungsmitteln und Brennstoff in einigen Sektoren, des Zerfalls der Streitkräfte und andauernder ethnischer Konflikte - werden in diesem Winter die tiefgreifendsten Unruhen in der ehemalig en UdSSR hervorbringen seit die Bolschewiken ihre Macht konsolidierten. Der russische Präsident Jelzin hat ehrgeizige Pläne zur Wirtschaftsreform formuliert, aber es bleibt abzuwarten, ob er sie durchführen kann. Marktreformen werden mit Inflation und Arbeitslosigkeit einhergehen, die eine soziale Explosion auslösen könnten und damit die Stabilität der aufstrebenden demokratischen Regierungen gefährden. Man muß mit der Möglichkeit rechnen, daß solche Umstände eine Rückkehr zur autoritären Regierung bewirken - entweder unter der Führung von Reformern die verzweifelt versuchen, Nahrungsmittel für die Bevölkerung zu beschaffen und eine Explosion abzuwenden, oder von einer fremdenfeindlichen, atavistischen Vision Rußlands geleiteten Nationalisten. (...)
Ich möchte mich jetzt den spezifischen Fragen über militärische Angelegenheiten zuwenden, die anzusprechen Sie mich gebeten haben. (...)
Die entstehende Bedrohung durch sowjetische strategische Atomwaffen ist weiterhin erste Priorität unserer Nachrichtendienste. (...)
In der Vergangenheit gingen wir davon aus, daß die Sowjets ihre strategischen Programme wegen ihrer symbolischen Bedeutung und aufgrund ihres Abschreckungswerts aufrechterhalten und verteidigen würden. Es ist jedoch zunehmend schwierig, sich vorzustellen, wie Rußland oder andere Republiken mit strategischen Kernwaffen in der Lage sein werden, die Modernisierungsbemühungen fortzuführen - oder selbst, warum sie dies angesichts der rasch abnehmenden Spannungen mit dem Westen überhaupt anstreben sollten. Deshalb sollten wir nicht überrascht sein, wenn die meisten oder alle sowjetischen Pläne für die Modernisierung der strategischen Offensivkräfte in absehbarer Zukunft eingestellt werden. Dies ist sicherlich nicht das, was von den Militärs gewünscht wird sondern spiegelt lediglich die wahrscheinlichen Prioritäten der politischen Entscheidungsträger in den Republiken sowie die wirtschaftlichen Gegebenheiten wider.
Wir erwarten, daß - wie von Gorbatschow bereits angekündigt - die neu entstehenden Nuklearmächte ihre strategischen Streitkräfte in den 90er Jahren unter die von START gezogenen Grenzen reduzieren. Es ist unwahrscheinlich, da diese Streitkräfte, ob sie nun von Rußland oder irgendeinem gemeinsamen Kommando kontrolliert werden, angesichts der Verschlechterung der operativen Unterstützungsfähigkeiten und der gesamten Infrastruktur auf START-Niveau gehalten werden können. Zahlreiche führende russische und ukrainische Politiker haben bereits ihren Wunsch geäußert, die strategischen Streitkräfte zu verringern, da sie der Meinung sind, sie seien die Kosten und Mühen nicht wert, um sie auf einem Niveau beizubehalten, das auch nur annähernd dem von START zugelassenen entspricht. Sie könnten jedoch nicht in der Lage sein, diese Streitkräfte so rasch abzubauen wie sie möchten. Die Demontage strategischer Waffen ist schwierig und teuer.
Überdies sind die sowjetischen Einrichtungen dafür sehr begrenzt und nur in Rußland vorhanden. Selbst wenn letztlich nur ein verringertes Arsenal strategischer Waffen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion übrig bleibt, wäre dies immer noch ausreichend, um die Vereinigten Staaten und andere Länder zu verwüsten. Solange die Möglichkeit bestehen bleibt, da Unruhen in der Region die Entstehung neuer, gegnerischer Regime fördern könnten, werden die verbleibenden strategischen Waffen Anlaß zur Sorge geben. Ein vordringlicheres Anliegen ist die Möglichkeit, da die Sowjets unfähig sein könnten, ausreichende Sicherheitsvorkehrungen bei der Reduzierung und Demontage eines Großteils ihres Arsenals von 30000 Kernwaffen zu gewährleisten. Zum jetzigen Zeitpunkt besitzt die Zentrale ein vom Verteidigungsministerium und dem Generalstab geleitetes ausgefallenes und wirksames System zur Kontrolle dieser Waffen. Das Zentrum löst sich jedoch vor unseren Augen auf. Diejenigen, die dieses Kontrollsystem konzipierten, hatten niemals mit einer solchen Entwicklung gerechnet.
Etwa zwei Drittel der sowjetischen Kernwaffen befinden sich in Rußland. Tausende von Waffen verbleiben jedoch in anderen Republiken. Die meisten scheinen in gut gesicherten Einrichtungen stationiert zu sein. Wir sehen jedoch einer Periode der Unsicherheit entgegen, während Rußland und die anderen Republiken den Besitz dieser Waffen regeln und neue Strukturen und Verfahren zu ihrer Kontrolle und für ihren Einsatz entwickeln. Ein weiterer ernüchternder Gedanke: Keine der Regelungen dieser neuen Atommächte ist bis heute durch die von der alten Sowjetunion eingegangenen Verpflichtungen gebunden, obwohl alle behaupten, sie würden diese Abkommen einhalten und ratifizieren. Das sowjetische System zur Kontrolle der Kernwaffen hat sich auf fähige Menschen mit starker Disziplin gestützt, die solide Verfahren auf Führungs- und Einsatzebene befolgten. Diese Personen sind jedoch ebenfalls in vieler Hinsicht denselben wirtschaftlichen Problemen und nationalistischen Bestrebungen wie ihre zivilen Landsleute ausgesetzt. Selbst robuste physische Sicherheit und Maßnahmen zur Einsatzkontrolle werden unwirksam, wenn das Wachpersonal oder seine Offiziere angestiftet oder korrumpiert werden oder einfach verschwinden. (...)
Ich möchte kurz auf die ehemalige Sowjetunion als Quelle der Verbreitung eingehen. Wie der Rest der ehemaligen sowjetischen Rüstungsindustrie könnten Unternehmen, die mit Programmen für Massenvernichtungsmittel und Raketen befaßt und Kürzungen des Militärhaushalts ausgesetzt sind, versuchen, im Geschäft zu bleiben, indem sie Gerät, Material und Dienstleistungen auf dem Weltmarkt anbieten. Der Devisenhunger könnte Vorrang vor Sorgen über die Verbreitung von Waffen einnehmen, insbesondere bei den Führungen von Republiken und Kommunen, die eine hohe Konzentration von Rüstungsbetrieben und kaum andere marktfähige Produkte aufweisen. Zehntausende von Wissenschaftlern, Ingenieuren und Medizinern emigrieren Jahr für Jahr aus der ehemaligen Sowjetunion. Einige sind Fachleute für Massenvernichtungswaffen und Raketen. Die meisten dieser Auswanderer werden sich vorzugsweise in Israel oder im Westen niederlassen, aber einige könnten für ihr Fachwissen einen besseren Markt in Ländern der Dritten Welt finden, die sich um die Beschaffung oder Verbesserung ihrer Fähigkeiten bei Massenvernichtungswaffen bemühen. (...)
Die Aussicht, daß Streitkräfte in großem Umfang gegen amerikanische Interessen in Europa und anderen Teilen der Welt, in denen die Sowjetunion stark war, eingesetzt werden, ist durch den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums erheblich zurückgegangen. Die neu entstehenden Staaten der ehemaligen Sowjetunion sind uns - zumindest zum jetzigen Zeitpunkt - freundlich gesonnen. Die internationale kommunistische Bewegung ist tot. In der ganzen Welt verlieren linke Auslandsbewegungen an Kraft, und ehemals prosowjetische Regierungen sind bemüht, engere Beziehungen zum Westen herzustellen. Der Kommunismus hält sich nur noch mühsam in einer Handvoll Länder, die von alternden Führern beherrscht werden, die sich vornehmlich dem eigenen Machterhalt widmen anstatt der Verbreitung dieser Ideologie im Ausland. Diese Entwicklungen sind gewiß ermutigend. Sie scheinen in eine bessere Zukunft zu weisen.
Aber wir sind noch nicht soweit. Wenn Sie in den kommenden Monaten beraten, sollten Sie bedenken, wie unberechenbar die Zukunft geworden ist. Berücksichtigen Sie, - wie schnell sich die Ereignisse entwickeln; - die Aussichten von Turbulenzen und Instabilität im zentral-eurasischen Arsenal, das einmal von einem Land gebildet wurde; - die problematische Verteilung von nahezu 30000 Kernwaffen; - die Unbeständigkeit des Nahen Ostens und Südasiens; - die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen; - Programme zur Entwicklung von Kernwaffen in Ländern, die unseren Prinzipien und Interessen feindlich gesonnen sind; - die zentrifugalen Kräfte nationalistischer und ethnischer Zwietracht, die auf mehreren Kontinenten zu Instabilität oder sogar Kriegen zu führen drohen. Ich möchte mit diesem Tenor schließen, um dem Gesichtspunkt Nachdruck zu verleihen, daß der Zusammenbruch des Kommunismus die Chance eines großen Krieges enorm verringert hat, die Welt aber Tag für Tag ein spannungsgeladenes Umfeld bleibt - und die Spannung steigt. Und ob wir wollen oder nicht - nahezu alle Staaten betrachten die Vereinigten Staaten - die einzige Supermacht - als wichtigste Kraft für Frieden und Stabilität.