Ausgabe Juni 1994

Eine Regenbogennation im Frieden mit sich und der Welt

Rede von Nelson Mandela anläßlich seiner Inauguration als Präsident der Republik Südafrika in Pretoria am 10. Mai 1994 (Wortlaut)

Majestäten,  Hoheiten,  verehrte Gäste,  Mitstreiter und Freunde.

Heute verleihen alle von uns durch ihre Anwesenheit und durch ihre Feiern in anderen Teilen des Landes der neugeborenen Freiheit Glanz und Hoffnung. Aus der Erfahrung eines außergewöhnlichen menschlichen Unheils, das viel zu lange andauerte, muß eine Gesellschaft geboren werden, auf die die gesamte Menschheit stolz sein kann. Unser tägliches Handeln als gewöhnliche Südafrikaner muß eine südafrikanische Realität schaffen, die den Glauben der Menschheit an die Gerechtigkeit und das Vertrauen in die Ehrenhaftigkeit der menschlichen Seele stärkt und all unsere Hoffnungen auf ein ruhmreiches Leben für alle stützt. All dies schulden wir sowohl uns selbst als auch den Völkern der Welt, die heute hier so zahlreich vertreten sind. Ich zögere nicht, zu meinen Landsleuten zu sagen, daß jeder von uns so eng mit dem Boden dieses schönen Landes verbunden ist wie es die berühmten Jacarandabäume Pretorias sind und die Mimosen der Steppe. Jedesmal, wenn einer von uns den Boden dieses Landes berührt, empfinden wir ein Gefühl der persönlichen Erneuerung.

Die nationale Stimmung wechselt mit dem Wechsel der Jahreszeiten. Wir werden von einem Gefühl der Freude und Ausgelassenheit bewegt, wenn das Gras grün wird und die Blumen blühen. Diese geistige und physische Einheit, die uns alle mit dieser Heimat (Homeland) verbindet erklärt die Tiefe des Schmerzes, den wir alle in unseren Herzen trugen, als wir unser Land sahen, wie es sich in einem schrecklichen Konflikt spaltete, und als wir sahen, wie es von den Völkern der Welt verachtet, ausgestoßen und isoliert wurde, eben weil es der universelle Ausgangspunkt der verderblichen Ideologie und Praxis des Rassismus und der rassistischen Unterdrückung geworden war.

Wir, das Volk von Südafrika, fühlen uns erfüllt, daß die Menschheit uns zurück in ihren Schoß genommen hat, daß wir, die wir vor nicht allzu langer Zeit Ausgestoßene waren, heute die seltene Ehre haben, auf unserem eigenen Boden Gastgeber der Nationen der Welt zu sein. Wir danken all unseren verehrten internationalen Gästen, daß sie gekommen sind, um mit dem Volk unseres Landes Besitz zu nehmen von dem, was schließlich ein gemeinsamer Sieg für Gerechtigkeit, für Frieden und menschliche Würde ist. Wir sind zuversichtlich, daß Sie auch weiterhin an unserer Seite sein werden, wenn wir die Herausforderungen der Errichtung von Frieden, Wohlstand, einer nicht-sexistischen und nicht-rassistischen Gesellschaft und Demokratie angehen. Wir schätzen die Rolle sehr hoch, die die Masse unseres Volkes und seine politischen religiösen, Frauen-, Jugend-, Wirtschaftsvertreter, seine traditionellen und anderen Führer gespielt haben, um diese Lösung herbeizuführen.

Nicht zuletzt die meines zweiten Stellvertreters des ehrenwerten F. W. de Klerk. Wir wollen auch allen Dienstgraden unserer Sicherheitskräfte für die wichtige Rolle danken die sie bei der Sicherung unserer ersten demokratischen Wahlen und des Übergangs zur Demokratie vor blutrünstigen Kräften, die das Licht immer noch nicht sehen wollen, gespielt haben. Die Zeit für die Heilung der Wunden ist gekommen. Der Augenblick ist gekommen, die Kluft, die uns trennt, zu überbrücken. Die Zeit des Aufbaus ist da. Wir haben, endlich, unsere politische Emanzipation errungen. Wir verpflichten uns, unser gesamtes Volk von den andauernden Fesseln der Armut, des Mangels, des Leidens zu befreien, von sexueller und anderer Diskriminierung. Wir haben es geschafft, unsere letzten Schritte in Richtung Freiheit unter vergleichsweise friedlichen Bedingungen zu tun. Wir verpflichten uns zur Herstellung eines umfassenden, gerechten und dauernden Friedens.

Wir haben in dem Bemühen triumphiert, Hoffnung in die Herzen der Millionen unseres Volkes zu pflanzen. Wir schließen ein Abkommen, daß wir eine Gesellschaft aufbauen werden, in der alle Südafrikaner, schwarz und weiß, aufrecht gehen können, ohne Furcht in ihren Herzen, ihres unveräußerlichen Rechts auf menschliche Würde sicher - eine Regenbogennation im Frieden mit sich und der Welt. Zum Zeichen ihrer Verpflichtung gegenüber der Erneuerung unseres Landes wird die neue Interimsregierung der Nationalen Einheit als besonders dringende Angelegenheit die Frage der Amnestie für verschiedene Gruppen unseres Volkes, die zur Zeit in Haft sind, angehen. Wir widmen diesen Tag allen Helden und Heldinnen in diesem Land und dem Rest der Welt, die auf viele Arten Opfer gebracht und ihr Leben gegeben haben, so daß wir frei sein können. Ihre Träume sind Wirklichkeit geworden.

Die Freiheit ist ihr Verdienst. Wir sind sowohl beschämt als auch erhoben durch die Ehre und das Privileg, die Sie, das Volk von Südafrika, uns zuteil werden lassen, als der erste Präsident eines geeinten, demokratischen, nicht-rassistischen und nicht-sexistischen Südafrika unser Land aus dem Tal der Dunkelheit zu führen. Wir erkennen trotzdem an, daß es keinen einfachen Weg zur Freiheit gibt. Wir wissen sehr gut, daß niemand von uns allein handelnd Erfolg haben kann. Deshalb müssen wir gemeinsam als ein geeintes Volk handeln, für nationale Versöhnung, für den Aufbau der Nation, für die Geburt einer neuen Welt. Es soll Gerechtigkeit für alle geben. Es soll Frieden für alle geben. Es soll Arbeit, Brot, Wasser und Salz für alle geben. Laßt alle wissen, daß Körper, Geist und Seele eines jeden befreit worden sind, um sich zu verwirklichen. Niemals, niemals, niemals darf es wieder geschehen, daß dieses schöne Land die Unterdrückung des einen durch den anderen erfährt und die Erniedrigung erleidet, der Lump der Welt zu sein. Die Sonne möge nie untergehen über einer so ruhmreichen menschlichen Errungenschaft. Laßt die Freiheit regieren. Gott segne Afrika.

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