Ausgabe Juli 1996

Asylrecht als Ansichtssache

Das Denkmal ist neu. Gerade erst zwei Monate steht die Skulptur in der Berliner Hardenbergstraße, unweit vom Bahnhof Zoo. Zwei Monate alt und bereits ein Fossil, eine fast schon anrührende Botschaft aus längst vergangenen politischen Zeiten. Das Denkmal erinnert an den Asylbewerber Kemal Altun, der im August 1983 aus Angst vor seiner Auslieferung an die Türkei hier aus dem Fenster des Verwaltungsgerichts sprang. Am Abend nach Altuns Tod gingen einige tausend Menschen spontan auf die Straße. Zu seinem Begräbnis kamen mehrere hundert. Dreizehn Jahre später geht es um ein anderes Begräbnis, eines mit gravierenderen Folgen.

Das Bundesverfassungsgericht besiegelt das Ende einer liberalen Asylpolitik. Ein selbstverordneter politisch-moralischer Anspruch deutscher Nachkriegsgeschichte wird zu Grabe getragen. Auch an diesem Tag gehen Menschen auf die Straße - Studenten, öffentlich Bedienstete, Straßenbahnfahrer. Sie demonstrieren gegen die Sparpolitik. Wer ständig sparen soll, glaubt irgendwann, sich manches nicht weiter leisten zu können. Der will haushalten - auch mit politischem Engagement und dem eigenen Empörungspotential. Das reicht allenfalls für die Verteidigung der sozialen "Grundnahrungsmittel". Das Grundrecht auf Asyl gehört nicht mehr dazu. Das ist längst in die Regale mit den Luxusartikeln verbannt.

Juli 1996

Sie haben etwa 9% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 91% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Januar 2026

In der Januar-Ausgabe skizziert der Journalist David Brooks, wie die so dringend nötige Massenbewegung gegen den Trumpismus entstehen könnte. Der Politikwissenschaftler Philipp Lepenies erörtert, ob die Demokratie in den USA in ihrem 250. Jubiläumsjahr noch gesichert ist – und wie sie in Deutschland geschützt werden kann. Der Politikwissenschaftler Sven Altenburger beleuchtet die aktuelle Debatte um die Wehrpflicht – und deren bürgerlich-demokratische Grundlagen. Der Sinologe Lucas Brang analysiert Pekings neue Friedensdiplomatie und erörtert, welche Antwort Europa darauf finden sollte. Die Journalistinnen Susanne Götze und Annika Joeres erläutern, warum die Abhängigkeit von Öl und Gas Europas Sicherheit gefährdet und wie wir ihr entkommen. Der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski erklärt, wie wir im Umgang mit Künstlicher Intelligenz unsere Fähigkeit zum kritischen Denken bewahren können. Und die Soziologin Judith Kohlenberger plädiert für eine »Politik der Empathie« – als ein Schlüssel zur Bekämpfung autoritärer, illiberaler Tendenzen in unserer Gesellschaft.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema