Ausgabe April 1998

Für beide galt damals der gleiche Befehl

Eine Entgegnung auf Yehuda Bauers Thesen zum Genozid an den europäischen Juden, Sinti und Roma

Am "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus", dem 27. Januar, sprach 1998 Yehuda Bauer in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages. Professor Bauer, Direktor des Internationalen Forschungsinstituts für Holocaust-Studien am Yad Vashem in Jerusalem, unterschied in seiner Bonner Rede den NS-Völkermord an den Sinti und Roma in einer Weise vom Holocaust, der Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, im folgenden Beitrag energisch widerspricht. Yehuda Bauers Rede erschien im Bulletin des Bundespresseamts (Nr. 8/1998) und wurde von der Zeitschrift "Universitas" in ihrer Märzausgabe nachgedruckt. Auf der Website der "Blätter" - http://www.blaetter.de - können beide Texte verglichen werden. - D. Red.

Am frühen Morgen des 3. Juli 1943 umstellte ein deutsches Exekutionskommando die Häuser der Roma-Familien in dem polnischen Dorf Szczurowa. Die Menschen wurden aus ihren Betten gerissen, mit Leiterwagen zum Friedhof gefahren und dort erschossen: 94 Männer, Frauen und Kinder. Ihre Leichen verscharrte man in einem Massengrab. Nach dem Raub der zurückgelassenen Wertgegenstände wurden ihre Häuser niedergebrannt. Inzwischen sind im sogenannten "Generalgouvernement" etwa 180 Orte bekannt, an denen Sinti und Roma durch Mordkommandos der SS, der Polizei und der Wehrmacht umgebracht wurden - oft gemeinsam mit Juden. Dessen ungeachtet behauptete Yehuda Bauer in seiner am 27. Januar - dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus - vor dem Deutschen Bundestag gehaltenen Rede, daß die Nationalsozialisten die Sinti und Roma im besetzten Europa nicht total ermorden wollten: "Wandernde Roma sollten überall in Europa ermordet werden, ansässige - so hieß es - würden toleriert werden." Bereits in Bauers Artikel über "Zigeuner" in der Enzyklopädie des Holocaust (Berlin 1993) war zu lesen, es gebe "keinen Beleg dafür, daß die Deutschen versucht hätten, seßhafte Zigeuner aufzuspüren". Auch in seinem Brief an die Auschwitz-Überlebende Elisabeth Guttenberger vom 13. Dezember 1993 schrieb Bauer wörtlich, die Deutschen hätten außerhalb des Reichsgebiets "keine besonderen Jagden auf ansässige Rom gemacht" und diese seien z.B. im besetzten Polen "nicht belästigt" worden. Das Beispiel Szczurowa belegt das Gegenteil. Wie im Pfarrbuch dokumentiert, waren Roma dort seit Generationen beheimatet. In vielen weiteren Ortschaften wurden - entgegen Bauers These - die dort seit langem lebenden Sinti und Roma gezielt ausfindig gemacht und erschossen. Die gleichmäßige territoriale Verteilung der Tötungsorte im "Generalgouvernement" zeigt die Systematik des Massenmords an den Sinti und Roma, dem zentrale Befehle zugrunde lagen. Auch in den Gebieten der besetzten Sowjetunion orientierte sich die Vernichtungspolitik allein am Kriteriun, der "rassischen" Zugehörigkeit.

So ermordeten Kommandos der Einsatzgruppe D im Dezember 1941 die Roma der Stadt Simferopol, nachdem sie zuvor namentlich registriert worden waren. In Simferopol waren Roma seit dem 19. Jahrhundert ansässig. Oder das ukrainische Dorf Siwaschi: Dort wurden am 6. Mai 1942 sämtliche im Ort wohnenden Roma - etwa 30 Männer, Frauen und Kinder - von SS-Angehörigen des Einsatzkommandos 10a erschossen; das gleiche geschah in den umliegenden Dörfern. Otto Ohlendorf, Befehlshaber der Einsatzgruppe D, sagte vor dem Nürnberger Gerichtshof aus: "Es bestand kein Unterschied zwischen den Zigeunern und den Juden. Für beide galt damals der gleiche Befehl". Ein weiteres Zentrum des Völkermords an den Sinti und Roma waren die besetzten Gebiete Jugoslawiens, wo sich ebenfalls Einheiten der Wehrmacht an den Massenerschießungen beteiligten. In einem Vortrag von Harald Turner, Leiter des Verwaltungsstabes der Militärverwaltung in Serbien, vom 29. August 1942 heißt es: "Serbien einziges Land, in dem Judenfrage und Zigeunerfrage gelöst" (Nürnberger Dokumente, NOKW - 1486). Daß auch die Kinder der systematischen Vernichtungspolitik zum Opfer fielen, zeigt das Beispiel der Stadt Kragujevac: Augenzeugen berichteten, daß RomaKinder aus dem dortigen Gymnasium auf einem Platz mitten in der Stadt erschossen wurden.

All diese Tatsachen werden von Yehuda Bauer beharrlich ignoriert. Seit Jahren bestreitet er in seinen Veröffentlichungen die historische Parallelität des Völkermords an den Juden einerseits und an den Sinti und Roma andererseits. Auch in seiner jüngst vor dem Deutschen Bundestag gehaltenen Rede gab Yehuda Bauer seiner Meinung Ausdruck, daß der Begriff der historischen Einmaligkeit nur für den Holocaust an den europäischen Juden Gültigkeit habe: "Zum ersten Mal in der Geschichte wurden alle Menschen, die von drei oder vier gewissen - in diesem Fall jüdischen - Großelternteilen abstammten, zum Tode verurteilt, weil sie geboren wurden." Allein der Judenmord sei "total, global und rein ideologisch gewesen"; dies mache ihn "präzedenzlos". Bei allen anderen Völkermorden also auch beim Völkermord an den Sinti und Roma - sei das Motiv "irgendwie realistisch" gewesen. Diese aus dem Munde eines Yad Vashem-Direktors geradezu zynisch anmutende Behauptung beruht indes nicht auf historischen Fakten, sondern auf Bauers subjektiven Einschätzungen, die offensichtlich nicht nur von wissenschaftlichen Motiven bestimmt sind. Bereits in der Enzyklopädie des Holocaust, die Yehuda Bauer mit herausgegeben hat, wurde bewußt unterschieden "zwischen dem Holocaust (der auf den Grundsätzen des Rassismus beruhte und in dem Versuch vollständiger und sofortiger Vernichtung eines Volkes seinen Ausdruck fand)" und "Maßnahmen gegen Volksgruppen", die "die Nazis von ihren sozialen, politischen oder militärischen Gesichtspunkten aus für schädlich ansahen und folglich beseitigen wollten" (Bd. 1, S. XIII f.).

Während die Autoren der Enzyklopädie nachdrücklich betonen, die deutschen Juden seien im Gegensatz zu den Behauptungen der Nationalsozialisten "ein loyaler und ergebener Teil der deutschen Gesellschaft" (Bd. 1, S. XII) gewesen, findet in dem Beitrag über "Zigeuner", der von Yehuda Bauer selbst verfaßt wurde, keinerlei Unterscheidung zwischen den Kategorien der Täter-Propaganda und der Lebenswirklichkeit der Sinti und Roma statt. Vielmehr wird die diffamierende Terminologie der Nationalsozialisten, welche der Rechtfertigung der Verfolgungsmaßnahmen diente, unkritisch zitiert und als - scheinbare - Begründung für den Völkermord übernommen. Im Falle der Shoa hingegen, so Bauer jüngst vor dem Deutschen Bundestag, sei "die völkermordende Ideologie auf reiner Phantasie aufgebaut, zum ersten Mal in der Geschichte." Niemals seien die Juden Feinde der Deutschen gewesen. Unterstellt Bauer, daß dies für die deutschen Sinti und Roma nicht gelte? Tatsächlich leben Sinti und Roma bereits seit über 600 Jahren in Deutschland. Sie waren vor der nationalsozialistischen Machtübernahme als Nachbarn und Arbeitskollegen in das gesellschaftliche Leben und in die lokalen Zusammenhänge integriert. Selbst die Tatsache, daß viele Sinti und Roma im Ersten Weltkrieg in der kaiserlichen Armee gedient und damit ihre Loyalität für ihr Heimatland unter Beweis gestellt hatten, hinderte die nationalsozialistischen Machthaber nicht daran, diese Menschen ebenso wie die Juden mit ihren Familien in die Todeslager zu verschleppen. Dies galt auch für jene Sinti und Roma in der deutschen Wehrmacht, die direkt von der Front nach Auschwitz deportiert wurden. Manche trugen noch ihre Uniform oder ihre Auszeichnungen, als sie dort eintrafen (wie selbst der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, in seinen Erinnerungen vermerkt).

Die historische Parallelität beider Völkermorde

Die nationalsozialistische Rassenideologie zielte nicht nur auf die jüdische Gemeinschaft, sondern genauso wurden Sinti und Roma von Anfang an zu "Fremdrassigen" erklärt, die aus der "Volksgemeinschaft" auszugrenzen und letztlich "auszumerzen" seien. "Zigeuner" und Juden standen außerhalb jeder Rechtsordnung, ja ihr Existenzrecht selbst wurde in Frage gestellt. Erster Höhepunkt ihrer systematischen Entrechtung waren die "Nürnberger Gesetze", die - auf direkte Anweisung von Reichsinnenminister Frick - in gleicher Weise auf Sinti und Roma angewandt wurden. Schon Mitte der 30er Jahre inhaftierte man Sinti- und Roma-Familien in besonderen Konzentrationslagern, die in vielen deutschen Städten errichtet wurden. Später dienten diese Lager - wie die jüdischen Ghettos - als Sammelstätten für die Deportationen in die Todeslager im besetzten Polen. Gleichzeitig erfolgte die systematische Ausgrenzung der Minderheit aus nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Schon vor Kriegsbeginn belegte man Sinti und Roma mit Berufsverboten, wurden sie aus den Schulen ebenso ausgeschlossen wie aus der Wehrmacht. Erklärtes Ziel der Nationalsozialisten war die "rassische Absonderung" aller Sinti und Roma von der "deutschblütigen" Bevölkerung. Eine Vielzahl von Sonderbestimmungen schnürte ihren Lebenskreis immer stärker ein.

Mein Großvater Anton Rose, der in Darmstadt ein Lichtspieltheater betrieb, sollte schon 1934 auf Betreiben der Gaustelle HessenNassau wegen seines "zigeunerischen Aussehens" aus der Reichsfilmkammer ausgeschlossen werden. Er legte Beschwerde ein und erhielt vom Präsidenten der Reichsfilmkammer zunächst Recht. Doch bereits 1937 erfolgte das endgültige Berufsverbot für das Familienunternehmen aus "Gründen der Rasse". Später kam Anton Rose zusammen mit vielen anderen Angehörigen in den Gaskammern von Auschwitz um. Wie im Falle der Juden, so benutzten die Nationalsozialisten auch bei der gezielten Diffamierung der Sinti und Roma tiefverwurzelte Vorurteile, um ihre "Rassenpolitik" zu rechtfertigen und um die Akzeptanz der Bevölkerung wie auch die Mitarbeit der traditionellen Verwaltung sicherzustellen. Die Sprache der gegen Sinti und Roma gerichteten Hetzartikel unterscheidet sich in keiner Weise von den Haßtiraden gegen die Juden etwa im "Stürmer". Begriffe wie "Ausmerze" oder "Ausrottung" wurden in Zusammenhang mit der "Zigeunerfrage" ganz selbstverständlich gebraucht. Im März 1938 forderte Werner Best, Leiter des Verwaltungsamtes der Sicherheitspolizei und später Amtschef im Reichssicherheitshauptamt, die "endgültige Lösung der Zigeunerfrage nach rassischen Gesichtspunkten". Auch Himmler spricht in seinem Erlaß vom 8. Dezember 1938 von der "endgültigen Lösung der Zigeunerfrage" und benennt als Ziel nationalsozialistischer Politik die "Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus".

Daher beauftragte der "Reichsführer SS" die "Rassenhygienische Forschungsstelle" unter Dr. Robert Ritter, die bereits 1936 in Berlin eingerichtet worden war, mit der vollständigen Erfassung der Minderheit: eine entscheidende Voraussetzung für die Durchführung des Völkermords. All dies zeigt, daß es die nationalsozialistische Rassenideologie war, welche die Grundlage der gegen Sinti und Roma gerichteten Politik bildete. Begriffe der NS-Propaganda wie "vorbeugende Verbrechensbekämpfung" dienten lediglich als Vorwand, die gegen Sinti und Roma gerichteten Verfolgungsmaßnahmen zu legitimieren. Mit der gleichen Absicht wurden Juden systematisch kriminalisiert und von den Nazis als "Parasiten" oder "Banditen" diffamiert. Auch jüdische Menschen hat man im Rahmen der sogenannten "Aktion Arbeitsscheu Reich" im Juni 1938 gemeinsam mit Hunderten Sinti und Roma in die Konzentrationslager deportiert, um sie als Arbeitssklaven für die neugegründeten Unternehmen der SS zu mißbrauchen. Mit der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs erlangte die nationalsozialistische "Rassenpolitik" eine neue Dimension. Das im gleichen Monat eingerichtete "Reichssicherheitshauptamt" übernahm die Federführung bei der "Lösung der Zigeunerfrage".

Erstmals bot sich nun in den Augen der nationalsozialistischen Machthaber die Möglichkeit, alle "Fremdrassigen" aus dem Reich in die neu besetzten Gebiete zu deportieren. Von Anfang an waren neben den Juden auch die deutschen Sinti und Roma in die Deportationspläne der SS-Führung mit einbezogen. Wenige Monate nach den ersten Deportationen von Juden aus Deutschland erfolgte im Mai 1940 auf Befehl Himmlers die erste familienweise Deportation von 2 500 Sinti und Roma ins besetzte Polen, wo die meisten der unmenschlichen Zwangsarbeit und den Massenerschießungen zum Opfer fielen. Wie die Juden, so waren auch Sinti und Roma in den besetzten Gebieten besonderen Kennzeichnungsmaßnahmen unterworfen: Im Warschauer Ghetto oder in Serbien mußten sie Armbinden mit der Aufschrift "Zigeuner" tragen. Sinti und Roma gehörten neben Juden zu den ersten Opfern der fabrikmäßigen Massentötungen in den neu errichteten Vernichtungslagern. Wenige Wochen nachdem die systematischen Deportationen der Juden aus dem Reichsgebiet einsetzten, wurden im November 1941 5000 österreichische Sinti und Roma ein großer Teil waren Kinder und Jugendliche - in das Ghetto Lodz deportiert, wo in unmittelbarer Nachbarschaft zum jüdischen Ghetto ein "Zigeunerghetto" entstand.

Zuständig für die Deportationen auch der Sinti und Roma war Adolf Eichmann. Im Januar 1942 wurden die überlebenden Insassen des "Zigeunerghettos" Lodz wie ihre jüdischen Leidensgenossen nach Chetmno deportiert, wo man sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in Gaswagen erstickte. Himmlers Auschwitz-Erlaß vom 16. Dezember 1942 leitete die letzte Phase der Vernichtungspolitik ein: die Deportation von über 22 000 Sinti und Roma aus elf Ländern Europas in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Fast 90% der Frauen, Männer und Kinder fielen im Lagerabschnitt B II e, von der SS "Zigeunerlager" genannt, dem Terror, dem Hunger und den Krankheiten zum Opfer oder mußten in den Gaskammern einen qualvollen Tod erleiden. Etwa 3 000 Menschen wurden vor der "Liquidierung" des "Zigeunerlagers" - als die SS die letzten 2 900 Überlebenden in einer einzigen Nacht in die Gaskammern trieb - zur "Vernichtung durch Arbeit" in Konzentrationslager im Reichsgebiet deportiert, wo nur wenige die unmenschliche Zwangsarbeit, die medizinischen Experimente und die "Todesmärsche" kurz vor der Befreiung überlebten. Die scheinbare Normalität, mit der die staatlichen Institutionen die Verschleppung Tausender Sinti und Roma abwickelten, offenbart die tiefe Verstrickung der deutschen Gesellschaft in ein Völkermordverbrechen, das sich vor den Augen aller vollzog und das ohne die Mithilfe unzähliger "Schreibtischtäter" - bis hin zu den Beamten der kommunalen Behörden - nicht möglich gewesen wäre. Bis Kriegsende wurden Sinti und Roma systematisch aufgespürt und ermordet.

Es gibt keinen eindringlicheren Beleg für die Totalität des nationalsozialistischen Vernichtungswillens gegenüber unserer Minderheit als das Schicksal der Kinder. Auch die Sinti- und Roma-Kinder, die man nach der Deportation ihrer Eltern zunächst in Kinderheime eingewiesen hatte, wurden anschließend zentral erfaßt und nach Auschwitz deportiert. Noch im Mai 1944 kamen die etwa 40 Sinti-Kinder der St. Josefspflege, eines katholischen Kinderheims in Mulfingen/Württemberg, auf einen Transport nach Auschwitz, nachdem sie von der "Rasseforscherin" Eva Justin als Versuchsobjekte für ihre Doktorarbeit mißbraucht worden waren. Bis auf vier Überlebende wurden sie alle in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Und selbst jene Sinti- und Roma-Kinder, die in "arischen" Adoptivfamilien aufwuchsen, blieben nicht von der Vernichtung verschont. Entgegen der Darstellung Bauers, der in seinem Enzyklopädie-Artikel über Sinti und Roma behauptet, es habe keinen "umfassenden Plan zu ihrer systematischen Ermordung" gegeben, ziele die nationalsozialistische Völkermordpolitik auf die Minderheit als Ganzes.

Sinti, Roma und Juden waren die einzigen Opfergruppen, die vom Säugling bis zum Greis "rassisch" erfaßt, deportiert und ermordet wurden, und zwar mit Hilfe eines modernen bürokratischen Staatsapparats. Yves Ternon schreibt in seiner Studie "Der verbrecherische Staat", in der er die Völkermorde im 20. Jahrhundert analysiert: "Selbst wenn die Tatsachen erst später festgestellt wurden und die Einzelheiten weniger bekannt sind, verlief die Vernichtung der Zigeuner parallel zu jener der Juden. Sie begann mit dem Ausschluß aus der Staatsgemeinschaft, setzte sich fort mit Deportationen und endete in Gaswagen oder Gaskammern." Von den verschiedenen Gruppen, die Opfer der Nationalsozialisten wurden, waren, so Ternon, "allein Juden und Zigeuner aufgrund rassischer Gesichtspunkte der Vernichtung geweiht" (Hamburg 1996, S. 129). Andere unabhängige Historiker wie Henry Friedlander, Sybil Milton oder Wolfgang Wippermann kommen ebenfalls zu diesem Ergebnis. Dagegen benutzt Yehuda Bauer einzelne NS-Erlasse dazu, die Totalität des nationalsozialistischen Vernichtungswillens gegenüber den Sinti und Roma in Abrede zu stellen. Als Beispiel führt er an, jene Sinti und Roma, die von den NS-Anthropologen als "reinrassig" eingestuft worden waren, habe man von den Deportationsmaßnahmen ausgenommen. Doch selbst für diese (zahlenmäßig äußerst kleine) Minderheit sahen die Nationalsozialisten den Völkermord durch Zwangssterilisation vor. Indes spielten derartige Ausnahmebestimmungen - die sich ohnehin nur auf das Reichsgebiet bezogen - in der Praxis der Deportationen keine Rolle. Entscheidend war vielmehr das Bemühen der Behörden vor Ort, ihren Bezirk "zigeunerfrei" zu machen - ein weiteres Beispiel dafür, daß die historische Wirklichkeit nicht einfach mit dem Wortlaut einzelner Erlasse gleichgesetzt werden kann. Wie wir heute wissen, war auch der Holocaust an den europäischen Juden das Ergebnis eines komplexen Prozesses, der über weite Strecken gekennzeichnet war von Improvisation und Konfusion. "Ausnahmen" hat es bei jeder Opfergruppe gegeben, meist waren sie situationsbedingt oder taktischer Natur und hatten lediglich vorläufigen Charakter.

So waren die jüdischen "Mischlinge" in Deutschland von den Deportationsmaßnahmen weitgehend ausgenommen, während selbst "Achtelzigeuner" nach Auschwitz deportiert wurden. Auch das erst kürzlich bekannt gewordene Faktum, daß Tausende von Soldaten jüdischer Herkunft während des Zweiten Weltkriegs in der Wehrmacht dienten - oft mit persönlicher Erlaubnis Hitlers - kann keinesfalls dazu benutzt werden, die Totalität des nationalsozialistischen Vernichtungswillens gegenüber den Juden anzuzweifeln. Genauso verfährt jedoch Yehuda Bauer, wenn er unter Berufung auf einzelne Bestimmungen oder Erlasse die Systematik des Völkermords an den Sinti und Roma bestreitet und den Begriff der historischen Einzigartigkeit nur für den Völkermord an den europäischen Juden gelten lassen will. Daß Menschen den Holocaust überlebt haben, lag einzig und allein daran, daß der nationalsozialistischen Führung nicht genug Zeit blieb, ihre Vernichtungspläne vollends in die Tat umzusetzen. Entscheidend ist, daß Sinti und Roma wie Juden vom Säugling bis zum Greis allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit mithin auf Grund ihrer bloßen Existenz - zu Opfern einer staatlich organisierten Mordpolitik wurden, die sich bis heute allen historischen Vergleichen entzieht.

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