Die fingierte Selbstauflösung einer Ideologieschmiede
Vor etwa einem Jahrzehnt erfand ich zusammen mit einem Kollegen, der wie ich früher einmal für Irving Kristol gearbeitet hatte, ein Spiel. Wir nannten es Neokonservativen-Bingo. Es ging darum, die Klischees neokonservativer Diskurse in verschiedenen Kombinationen auf Bingokarten zu arrangieren: "Der Welt einzige Supermacht"; "Die neue Klasse"; "Die chinesische Gefahr"; "Dekadentes Europa"; "Wider die UNO"; "The Adversary Culture" (Die Gegenkultur); "Die globale Demokratierevolution"; "Nieder mit den Beschwichtigern!"; "Seid standhaft wie Churchill". In der Mitte einer solchen Bingokarte würde stehen "Es gibt kein palästinensisches Volk" (heutzutage hieße es "Keinen Palästinenserstaat" oder "Alle Palästinenser sind Terroristen"). Liest man nun den Aufsatz oder das Buch eines Neokonservativen, so hat man nichts weiter zu tun, als jeden Slogan in der Reihenfolge, in der er erscheint, auf der Karte abzuhaken.
Wir haben unsere Neocon-Bingokarten niemals drucken lassen. Aber man kann genauso gut auf das neokonservative Manifest zurückgreifen, das David Frum und Richard Perle gerade unter dem Titel "An End to Evil"1 veröffentlicht haben. Es handelt sich dabei eher um eine Stichwortsammlung, um Gesprächsstoff, als um eine in sich geschlossene Abhandlung. Die Vereinten Nationen? Sie haben den Traum vom Weltfrieden "verunglimpft und verraten". Die chinesische Gefahr? "Wenn es zur Wiedervereinigung Koreas kommt, so wird sie die Demokratien der Welt gegen ein aggressives und undemokratisches China, falls dieses sich so entwickelt, deutlich stärken." Es gibt die Beschwichtigungspolitiker vom Typ Neville Chamberlain und das Thema Dekadentes Europa: "Den Amerikanern erschienen [die europäischen Zweifel an der Irakinvasion – M.L.] als Appeasement. Es wäre jedoch ein großer Fehler, die beschwichtigende Haltung der Europäer auf Feigheit zurückzuführen – oder allein auf Feigheit." Ebenso tauchen die obligatorischen Churchill-Verweise auf: Ein Kapitel ist "End of the Beginning" überschrieben, und schließlich finden wir dies: "Wir werden niemals aufhören, auf die Unterstützung der zivilisierten Welt zu hoffen. Aber wenn sie – was geschehen kann – ausbleibt, werden wir wie der tapfere einsame britische Soldat in der berühmten Karikatur David Lows aus dem Jahre 1940 sagen müssen: ,Na schön, dann eben allein.’"
Bingo.
Wie das Leben so spielt, veröffentlichten Perle und Frum ihr Manifest über den strategischen Meisterplan der Neokonservativen paradoxerweise just in dem Augenblick, in dem viele ihrer Kollegen die Behauptung drucken ließen, den Neokonservatismus gebe es überhaupt nicht und die Neocons hätten keinerlei Einfluss auf die amerikanische Außenpolitik. Noch bis in den Sommer 2003 hinein hatten Neokonservative ihre Bewegung selbstbewusst gegen die Gegner auf der Linken und gegen Fraktionen der Rechten (Realisten, Paläokonservative [also die sich selbst ironisch so nennenden "Steinzeitkonservativen"] und Libertäre) verteidigt, die den Einmarsch im Irak für keine kluge Entscheidung halten. Doch in jenem Sommer nahm die Irakinvasion, die seit über einem Jahrzehnt hauptsächlich von führenden Außenpolitikexperten der Neokonservativen wie Paul Wolfowitz und Douglas Feith aus dem Bush-Pentagon geplant und schließlich ausgeführt worden war, eine schreckliche Wendung. Während ich dies niederschreibe, sind schon mehr amerikanische Soldaten in diesem unnötigen zweiten Irakkrieg umgekommen als bei irgendeiner anderen US-Militäroperation seit Vietnam; mehrere tausend Iraker fanden den Tod und viele weitere wurden verstümmelt (das Bush-Pentagon macht sich nicht die Mühe, irakische Opfer zu zählen). Als das Ausmaß des Debakels klar zu Tage trat, begannen die Neokonservativen von einem Tag auf den anderen, ihre eigene Existenz zu bestreiten. Seit Stalin der kommunistischen Partei der USA befahl, in den Untergrund zu gehen, hat keine politische Strömung Amerikas auf derartige Weise ihre öffentliche Selbstauflösung fingiert.
David Brooks verkündete neulich in der "New York Times", nur Irre könnten glauben, dass neokonservative Institutionen wie das Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert (PNAC) irgendwelchen Einfluss auf die Politik der Bush-Administration hätten. Begründung: Das PNAC "hat fünf feste Mitarbeiter und gibt Denkschriften zur Außenpolitik heraus". Aber dieses "Projekt" dient nicht dazu, die Ansichten seiner festen Mitarbeiter, Empfangsdamen und Praktikanten zu verbreiten, sondern diejenigen mächtiger Insider der Administration wie Paul Wolfowitz, Dick Cheney und Donald Rumsfeld – genau wie einst das Committee on the Present Danger die Ansichten von Paul Nitze und Gene Rostow in die Medien trug, während die Genannten selbst sich als Regierungsvertreter bei eigenen Äußerungen in der Öffentlichkeit bedeckt hielten.
"In Wahrheit", fuhr Brooks fort, "verkehren die als Neocons Etikettierten [...] in ganz unterschiedlichen Kreisen und kommen eigentlich wenig miteinander in Berührung." In Wahrheit – um Brooks Wendung aufzunehmen – finden sich unter den Unterzeichnern von PNAC-Briefen Namen wie Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz, Perle und Robert Kagan. Betrieben wird das "Projekt" von William Kristol, dem Herausgeber des "Weekly Standard" (für den Brooks schreibt) und Sohn von Irving Kristol, dem Begründer von "The Public Interest" und früheren Verleger von "The National Interest", der ein Buch mit dem Titel "Neoconservatism: The Autobiography of an Idea" schrieb und mit Williams Mutter, der neokonservativen Historikerin Gertrude Himmelfarb, verheiratet ist. Norman Podhoretz, der frühere Herausgeber von "Commentary", ist der Vater von John Podhoretz, einem neokonservativen Redakteur und Kolumnisten, der für die "Washington Times" des Reverend Moon und die "New York Post" gearbeitet hat, wobei Letztere Rupert Murdoch gehört, der gleichfalls "The Weekly Standard" und Fox Television besitzt. Norman ist der Schwiegervater von Elliott Abrams, einer Figur der Iran/Contra-Affäre und ehemals Chef des neokonservativen Ethics and Public Policy Centersowie Leiter der Nahost-Abteilung im Nationalen Sicherheitsrat. Elliotts Schwiegermutter und Normans Ehefrau, Midge Decter, wie viele ältere Neocons eine Veteranin des Committee on the Present Danger, hat kürzlich eine National Humanities Medal erhalten, nachdem sie eine schmeichlerische Biographie über Rumsfeld geschrieben hatte, dessen Stellvertreter auf den Plätzen zwei und drei im Pentagon Wolfowitz und Feith sind, ihrerseits Veteranen des Committee on the Present Danger und des Teams B, jener nachrichtendienstlichen Beratergruppe, die in den 70er und 80er Jahren die sowjetische Militärmacht maßlos übertrieb. Perle, Mitglied des Defense Policy Board des Pentagon (und dessen früherer Chef), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim American Enterprise Institute und Aufsichtsratsmitglied bei Hollinger International, einem weit rechts stehenden Medienkonglomerat, zu dem unter anderen die "Jerusalem Post" und der "Daily Telegraph" gehören und das von Conrad Black kontrolliert wird, welcher dem Herausgeberkreis des "National Interest" vorsitzt, einer Publikation, die Black zum Teil vermittels des Nixon Centers subventioniert. Perle und Feith, beide PNAC-Partner, wirkten 1996 bei der Ausarbeitung eines Strategiepapiers für Israels Rechtsaußen- Premier Benjamin Netanjahu mit, dessen Titel "A Clean Break" (einen glatten Bruch) forderte. Gemeinsam mit den anderen amerikanischen und israelischen Autoren riefen Perle und Feith Israel dazu auf, aus dem Oslo-Prozess auszusteigen und die besetzten Palästinensergebiete wieder unter Kriegsrecht zu stellen – dies lange vor dem Beginn der zweiten Intifada. Im Übrigen treten die Neocons gerne als Autorengespanne auf: Brooks und Kristol, Kristol und Kagan, Frum und Perle.
Es handelt sich eben um Leute, die, wie David Brooks sagt, "eigentlich wenig miteinander in Berührung" kommen.
Brooks zufolge "ist das PNAC, so wie diese Leute [die angeblichen Verschwörungstheoretiker] es beschreiben, eine Art jiddische trilaterale Kommission, das verbindende Zentrum der überallhin ausgreifenden Neocon- Tentakel". Con, schreibt er, "ist ein Kürzel für ,conservative’ und neo ist ein Kürzel für ,jüdisch’". Mit diesem tückischen Schlenker hat Brooks sich nunmehr Jonah Goldberg, Joshua Muravchik, Joel Mowbray, Robert J. Lieber und anderen neokonservativen Autoren angeschlossen, die allen Kritikern der Likud-Regierung in Israel und ihrer neokonservativen Verbündeten unterstellen, sie meinten, wenn sie jemanden als "Neokonservativen" bezeichnen, in Wirklichkeit "Jude". Zu denjenigen, die im vergangenen Jahr von Neocons auf diese Weise verunglimpft wurden, gehören Chris Matthews, William Pfaff, Eric Alterman, Joshua Micah Marshall, General Anthony Zinni und der Verfasser selbst. Der widerlichste Beitrag zu dieser widerlichen Kampagne stammt von Mowbray: "Im Gespräch mit der ,Washington Post’ über den Irakkrieg schlug Ex-General Anthony Zinni vergangene Woche jenen Pfad ein, den so viele Antisemiten wählen: er schob die Verantwortung auf die Juden [...] Genau genommen sprach der frühere Chef des Central Command im Mittleren Osten nicht von ,Juden’. Er benutzte stattdessen einen Begriff, den Antisemiten neuerdings bevorzugen: ,Neokonservative’." In ihrem Buch "An End to Evil" wiederholen Perle und Frum die neue Parteilinie – spontan, wie man nur vermuten kann, da Neocons "eigentlich wenig miteinander in Berührung" kommen: "Vor allen Dingen", schreiben sie, "gibt der Mythos vom Neokonservatismus Europäern und Liberalen einen nützlichen Euphemismus an die Hand, um ihre Israelfeindschaft zu artikulieren."
Tatsächlich tendieren einige Journalisten unglücklicherweise dazu, den Begriff "Neokonservative" nur zu verwenden, wenn sie sich auf jüdische Neokonservative beziehen. Diese Praxis nötigt sie dazu, für Rumsfeld oder Cheney Kategorien wie "nationalistischer Konservativer" oder "westlicher Konservativer" zu erfinden. Aber der Neokonservatismus ist eine Ideologie, genau wie der Paläokonservatismus oder die libertäre Richtung, und bei Rumsfeld handelt es sich ebenso wie bei Dick und Lynn Cheney um Vollblut- Neocons, nicht etwa um Paläeocons oder Libertäre, obwohl sie keine Juden sind und nie Liberale oder Linke waren. Noch wichtiger ist, dass die jüdischen Neocons nicht für die Mehrheit der amerikanischen Juden sprechen. Folgt man dem Jahresbericht des American Jewish Committee über die Auffassungen der amerikanischen Juden für das Jahr 2003 (Annual Survey of American Jewish Opinion), so missbilligten 54Prozent der amerikanischen Juden den Irakkrieg, während nur 43Prozent ihm zustimmten; und der Art und Weise, in der Bush die Kampagne gegen den Terrorismus führt, versagten die jüdischen Amerikaner im Verhältnis 54 zu 41 ihre Zustimmung.
Rechte Ideologen von links
Der Neokonservatismus (der Begriff stammt von Michael Harrington) entstand in den 1970er Jahren als eine Bewegung antisowjetischer Liberaler und Sozialdemokraten in der Tradition von Truman, Kennedy, Johnson, Humphrey und Henry ("Scoop") Jackson, von denen viele sich lieber als "Paläoliberale" bezeichneten. Es gab einen proisraelischen Flügel der Bewegung, aber deren Aufmerksamkeit konzentrierte sich vor allem auf die Konfrontation mit dem Sowjetblock in der Außenpolitik und die Verteidigung des New-Deal- Liberalismus sowie des "farbenblinden" liberalen Integrationismus im Inneren gegen Rivalen von links. Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Aufstieg des Democratic Leadership Council [der Clinton-Richtung in der Demokratischen Partei – d. Übs.] rückten viele "Paläoliberale" wieder in die Mitte der Demokratischen Partei. Daniel Patrick Moynihan, einst als möglicher Präsidentschaftskandidat der Neokonservativen im Gespräch, brach in den 80er Jahren mit der Bewegung, weil er deren wachsende Verachtung für das Völkerrecht und ihre Übertreibung der sowjetischen Gefahr nicht mitmachen wollte. Bei den Neocons unserer Tage handelt es sich um den zusammengeschrumpften Rest einer ursprünglich breiten neokonservativen Koalition.
Dass ihre Ideologie Wurzeln auf der Linken hat, springt nichtsdestotrotz immer noch ins Auge. Die Tatsache, dass die meisten jüngeren Neocons nie zur Linken gehörten, spielt keine Rolle; sie sind die intellektuellen (und in den Fällen William Kristol und John Podhoretz die buchstäblichen) Erben älterer Ex-Linker. Den Gedanken, dass die Vereinigten Staaten und vergleichbare Gesellschaften von einer dekadenten, postbourgeoisen "neuen Klasse" dominiert werden, haben Denker der trotzkistischen Traditionslinie wie James Burnham und Max Schachtman entwickelt, die eine ältere Generation von Neocons beeinflussten. Die Vorstellung der "globalen Demokratierevolution" hat ihren Ursprung in der Vision der trotzkistischen Vierten Internationale von der permanenten Revolution. Der ökonomische Determinismus des Gedankens, dass die liberale Demokratie eine Folgeerscheinung des Kapitalismus sei, wie Neokonservative, etwa Michael Novak, ihn vertreten, ist schlicht marxistisch, nur dass hier Unternehmer die Proletarier als die heroischen Subjekte der Geschichte ersetzen.
Die Organisationsweise der neokonservativen Bewegung hat ebenso wie ihre Ideologie linke respektive liberale Ursprünge. Das Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert folgt dem Muster des Committee on the Present Danger, welches seinerseits dem Modell des Congress for Cultural Freedom (CCS) folgte, eines von der CIA finanzierten Netzwerks des antikommunistischen Mitte-links-Spektrums, das zwischen den 40er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts den kulturellen Frontgruppen Stalins international entgegenzuwirken suchte. Viele der älteren Neocons sind Veteranen des CCS, unter ihnen Irving Kristol, der zusammen mit Stephen Spender den "Encounter" herausgab, die CIA-gesponserte Zeitschrift der Bewegung, und die Schlüsselinstitution der Neocons, die Nationale Demokratiestiftung (National Endowment for Democracy) entstand nach dem Vorbild sozialdemokratischer Einrichtungen in Europa.
Wie andere Strömungen, die aus der antistalinistischen Linken hervorgegangen sind, zog auch der Neokonservatismus viele jüdische Intellektuelle und Aktivisten an, aber das bedeutet durchaus nicht, dass er deshalb eine jüdische Bewegung sei. Nicht anders als andere ursprünglich linke Denkschulen rekrutierte sich der Neokonservatismus auf verschiedenen "Baustellen". Eine Rolle spielten beispielsweise liberale Katholiken (William Bennett und Michael Novak fingen bei den Linkskatholiken an) sowie Populisten, Sozialisten und New Deal-Liberale aus dem Süden und Südwesten (der Teich, aus dem Jeane Kirkpatrick, James Woolsey und meine Wenigkeit gezogen wurden). Es gab und gibt sehr wenige WASP-Mandarine2 aus dem Nordosten der USA in der neokonservativen Bewegung, aus dem gleichen Grund, aus dem sie in der älteren amerikanischen Linken, die hauptsächlich die New- Deal-Koalition ethnischer und regionaler Outsider widerspiegelte, nur schwach vertreten waren.
Die neokonservativen Außenpolitikvorstellungen haben – mit Ausnahme der Strategie für den Nahen und Mittleren Osten – nichts besonders "Jüdisches" an sich. Zwar hat das israelische Beispiel amerikanische Neokonservative für Taktiken wie den Präventivkrieg und "targeted assassination", gezielten Mord, eingenommen, aber die Globalstrategie der heutigen Neocons ist vor allem durch das Erbe des Antikommunismus aus dem Kalten Krieg geprägt. Die allzu oft allein auf die UN-Resolutionen, die Israel verurteilen, zurückgeführte Feindseligkeit der Neocons gegenüber der Weltorganisation ist ein Relikt aus den 70er und 80er Jahren, als eine antiamerikanische Allianz der Autokratien des Sowjetblocks und der Dritten Welt die Generalversammlung dominierte. Wenn Elliot Cohen, James Woolsey und Norman Podhoretz behaupten, wir befänden uns im "vierten Weltkrieg", so handelt es sich hier um einen Reflex von Kalten Kriegern, die sich selbst überlebt haben. Das Gleiche gilt für Parallelen zwischen dem militanten Islam und dem säkularen Totalitarismus oder den Versuch, China oder das postkommunistische Russland zu Gefahrenquellen vom Ausmaß Sowjetrusslands oder Nazi-Deutschlands hochzustilisieren.
1939 forever
Nicht allein Amerikas Geschichte des Kalten Krieges, sondern auch die britischen Erfahrungen im 20. Jahrhundert haben die Auffassungen der Neocons geprägt. Das ist nicht so erstaunlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Großbritannien war noch vor wenigen Generationen die führende Weltmacht; viele Neokonservative sind als Erwachsene aus dem britischen Commonwealth in die USA eingewandert, beispielsweise Charles Krauthammer und David Frum, beide früher kanadische Untertanen Ihrer Majestät; und viele neokonservative Denker folgen Lionel Trilling (den Irving Kristol neben Leo Strauss als eine der wichtigsten Quellen seines Denkens bezeichnet hat), wenn sie sich der britischen Kultur zuwenden, um die amerikanische Gesellschaft besser erklären zu können. Als die erste moderne Industriegesellschaft erreichte Großbritannien, wie die Neocons glauben, seine Spitzenstellung durch die Kombination imperialer Rücksichtslosigkeit mit bürgerlichem (nicht Manager-)Kapitalismus und viktorianischer Tugendhaftigkeit. Tragischerweise jedoch wurde die britische Stärke von innen heraus durch die postbourgeoise Elite von Bloomsbury3 untergraben, die sich über die viktorianischen Werte lustig machte, obwohl der Wohlfahrtsstaat bereits das Ethos der Arbeit untergrub. Dies führte dazu, dass Großbritannien sich moralisch und materiell unvorbereitet zeigte, als es darum ging, den faschistischen Totalitarismus zu bekämpfen. Die bedeutendste Gestalt des 20. Jahrhunderts war nicht Franklin Roosevelt, sondern – geht man danach, wie oft er von Neocons zitiert wird – Winston Churchill, der Verteidiger der viktorianischen Werte.
Der neokonservativen Ideologie zufolge machen die Vereinigten Staaten heute noch einmal durch, was Großbritannien vor einem Dreivierteljahrhundert erleben musste. Osama Bin Laden (oder Saddam oder die chinesische Führung oder Jassir Arafat) ist der neue Hitler. Bush ist der neue Churchill, so wie es früher einmal Reagan war. Gemäßigte Republikaner und konservative Realisten sind ebenso wie liberale Demokraten die neuen Neville Chamberlains. Die protestantischen Fundamentalisten aus den arbeitenden Schichten des ländlichen und vorstädtischen amerikanischen Südens werden mit den dissidierenden bourgeoisen Protestanten des viktorianischen England gleichgesetzt. Die amerikanische Universität ist das neue Bloomsbury; dominiert von dekadenten Liberalen und Linken, untergräbt sie die Moral junger Amerikaner, die nach Auffassung vieler Neokonservativer zum Militärdienst eingezogen und in eine Serie von Kriegen geschickt werden sollten, um im Ausland für die Förderung der Demokratie zu kämpfen. Vor vier Jahren veröffentlichten Donald Kagan und Frederick Kagan (Robert Kagans Vater und Bruder) ein Buch mit dem Titel "While America Sleeps" (Während Amerika schläft), in dem sie die Vereinigten Staaten mit dem Großbritannien der späten 30er Jahre verglichen. Für die Neocons ist Amerika das Großbritannien Churchills und Chamberlains – und wir haben immer 1939.
Was Vivian De Sola Pinto in "Crisis in English Poetry" (1968) über Kipling schrieb, könnte man heute über den Kipling-Bewunderer Max Boot und die meisten der gegenwärtigen neokonservativen Imperialisten sagen: "Es gab [für Kipling] kein irisches oder südafrikanisches Problem, nur Rebellen und Verräter; es gab kein Ästhetikproblem, nur Vergeuder und Verderber wie Anthony Glosters Sohn, der in ,Harrer an’ Trinity College’ erzogen worden war und ‚mit Büchern und Bildern herumpfuschte‘, oder Tomlinson4, dessen Sünden ausschließlich literarischer Natur waren; es gab kein Problem von Krieg und Frieden, nur törichte Liberale und rührselige oder schurkische Pazifisten. Alles, was die Welt brauchte, war mehr Disziplin, Gehorsam und Loyalität und vor allem ein väterliches britisches Empire mit seinen selbstlosen und effizienten Verwaltern und der bewunderungswürdigen Armee, die durch perfekte Unteroffiziere in Form gehalten wurde."
Ungeachtet seiner exzentrischen Züge, etwa seiner unamerikanischen Nostalgie für den britischen Imperialismus, ist der Neokonservatismus – wie Paläocons und Libertäre unermüdlich betonen – eine Bewegung, die einige Werte der linken Mitte teilt. Wenn Richard Perle Frauenrechte in muslimischen Ländern fordert, wenn David Brooks sich publizistisch für die Homoehe einsetzt und wenn der "Weekly Standard" "neokonföderierten Rassismus" anprangert, besteht kein Grund zu bezweifeln, dass sie es ehrlich meinen. Ebenso wenig will Irving Kristol uns etwas vormachen, wenn er sagt, dass der Wohlfahrtsstaat erhalten werden muss. Dass sie elitären Vorstellungen im Stil von Leo Strauss anhängen, entwertet die linken Referenzen der Neocons nicht. Viele liberale und demokratische Bewegungen hatten ihre Zweifel hinsichtlich der Fähigkeit der Mehrheit, sich selbst zu regieren, und setzten auf irgendeine Art aufgeklärter Elite – Jeffersons Natural Aristocracy, die von der amerikanischen Fortschrittsbewegung gefeierten Technokraten oder die Avantgarderolle der Intelligenzija bei den Marxisten-Leninisten. Auch der Imperialismus war kompatibel mit einem gewissen liberalen Sendungsbewusstsein. Bis zum Aufstieg der nationalen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt waren einige der entschiedensten Empire-Verfechter Liberale, unter ihnen britische Fabianer und amerikanische Fortschrittler (Progressives). Selbst Marx war bereit anzuerkennen, dass unterentwickelte Länder wie Indien aus imperialer Bevormundung durchaus Nutzen ziehen könnten.
Amerikanischer Patriotismus?
Besonders deutlich zeigt sich der Einfluss des Marxismus in den Patriotismuskonzeptionen der Neokonservativen. Im "Weekly Standard" vom 25. August letzten Jahres veröffentlichte Kristol einen Aufsatz mit dem Titel "Die neokonservative Überzeugung" (offenbar hatte jemand vergessen, Kristol, "den Gottvater des Neokonservatismus", über die neue Parteilinie zu informieren, dass es überhaupt keinen Neokonservatismus gibt). Zu dem, was Kristol als "die folgenden ,Thesen’ (wie ein Marxist sagen würde)" vorstellt, gehört seine Behauptung, dass "große Nationen mit einer ideologischen Identität wie gestern die Sowjetunion und heute die Vereinigten Staaten über ihre eher materiellen Anliegen hinaus unweigerlich ideologische Interessen haben. Außer in ganz ungewöhnlichen Umständen werden sich die Vereinigten Staaten immer verpflichtet fühlen, ein demokratisches Land, das von nichtdemokratischen Kräften angegriffen wird, sei es von außen oder von innen, wenn möglich zu verteidigen". Deshalb sollten die Vereinigten Staaten "Israel heute verteidigen [...] da bedarf es keiner komplizierten geopolitischen Abwägungen des nationalen Interesses" (seltsame Einstellung für den früheren Verleger einer Zeitschrift mit dem Titel "The National Interest", deren leitender Redakteur ich von 1991 bis 1994 war). Aber lassen wir die Israelfrage einen Moment beiseite und halten fest, dass ziemlich wenige Amerikaner ihr Land für eine Variante der UdSSR mit liberaler Demokratie statt Marxismus-Leninismus als amtlicher Ideologie halten – wahrscheinlich ebenso wenige wie jene, die sich über die amerikanische Außenpolitik in Kategorien wie ",Thesen’ (wie ein Marxist sagen würde)" verständigen.
Schon vor einigen Jahren hatten Irvings Sohn William und David Brooks im "Wall Street Journal" gemeinsam einen ähnlichen Aufruf zu einem "Konservatismus der nationalen Größe" veröffentlicht, in welchem sie den amerikanischen Patriotismus jeglichen Inhalts entleeren, mit der Ausnahme militärischer Kreuzzüge für die Demokratie im Ausland. Soweit es um "Empire" geht, ist festzustellen, dass William Kristol und Max Boot sich das "E-Wort" zu Eigen machen, während Frum und Perle es ablehnen. Aber wenn der Wert der Nation nur darin besteht, dass sie als Basis oder Träger einer potentiell universellen Ideologie fungiert, die durch Waffen und Subversion gewaltsam im Ausland verbreitet werden muss, dann verschwimmt die Unterscheidung zwischen "nationaler Größe" und "Imperialismus" – im Fall des amerikani- schen Neokonservatismus nicht weniger als in den vergleichbaren Fällen des Sowjetkommunismus und des napoleonischen Liberalismus. Diese Art des kreuzfahrenden säkularen Messianismus hat ganz und gar nichts mit dem herkömmlichen Patriotismus und Nationalismus zu tun, nicht einmal in deren liberalen Formen. Viele Amerikaner haben sich unser Land immer wieder als Modell für andere liberale Demokratien vorgestellt, aber es wird kaum jemanden darunter geben, der die USA als die bloße Ausgangsbasis einer "globalen Demokratierevolution" betrachtet, die man fördert, indem man in fremde Länder einmarschiert und ausländische Aufständische mit Waffen versorgt, während es keiner "Abwägungen des nationalen Interesses" bedarf.
Man spürt entfernt den Einfluss der trotzkistischen Vierten Internationale, auch wenn die Neokonservativen die amerikanische Geschichte plündern, um ihre Bewegung mit einer brauchbaren Vergangenheit auszustatten. Max Boot nennt sich selbst einen "harten Wilsonianer", aber es fällt schwer, in seiner Art, den Imperialismus im Stile Kiplings zu feiern, viel von Wilson wiederzuerkennen, der Völkerrecht und Weltorganisation als Alternative zu der von ihm befürchteten Militarisierung der amerikanischen Gesellschaft betrachtete und dessen Name für alle Zeiten mit jener nationalen Selbstbestimmung verbunden sein wird, wie sie die Palästinenser fordern. William Kristol und David Brooks berufen sich auf Theodore Roosevelt. Aber während TRs imperialer Progressivismus Naturschutz und Reformen zugunsten der Beschäftigten förderte, erweist sich die innenpolitische Seite des "Konservatismus der nationalen Größe" als inhaltsleer; sie besteht hauptsächlich aus Vorschlägen, wie Brooks und Kristol sie unterbreiten, nämlich dass die Vereinigten Staaten mehr Kriegerdenkmäler bauen sollten, vielleicht im Hinblick auf den Bodycount, den sie im Zuge ihrer Kriege zur Förderung der Demokratie voraussehen.
Wie Paul Berman, der maître penseur der liberalen Falken, versuchen viele Neocons Lincoln für ihre Sache zu vereinnahmen. Aber Lincoln war ein Gegner des Mexikokrieges und wies die Vorstellung zurück, die Vereinigten Staaten hätten die Pflicht, die Demokratie gewaltsam auszubreiten. 1859 machte Lincoln sich über das "junge Amerika" lustig: Es "ist ein großer Freund der Menschheit; und sein Landhunger ist nicht selbstsüchtig, sondern lediglich der Impuls, das Territorium der Freiheit zu vergrößern. Es brennt darauf, für die Befreiung versklavter Nationen und Kolonien zu kämpfen, immer vorausgesetzt, sie haben Land und sind durchaus nicht an seiner Einmischung interessiert."
Ideologische Gleichschaltung
Die Neudefinition des amerikanischen Patriotismus im Sinne des Glaubenseifers für eine Kreuzfahrerideologie messianischen Zuschnitts ist kompatibel mit der Missachtung der bestehenden amerikanischen Institutionen, welche, käme sie aus dem Munde von Linken oder Liberalen, von neokonservativen Patriotismus-Experten wie Frum als unamerikanisch denunziert werden würde – bemerkenswerterweise ist Frum selbst ein Kanadier, der sich erst als er unter Bush in den Dienst des Weißen Hauses trat, die Mühe machte, amerikanischer Staatsbürger zu werden. Die meisten der hauptamtlichen Experten in den nationalen Sicherheitsbehörden – beim Militär, den Nachrichtendiensten und im auswärtigen Dienst – sind gegen das strategische Konzept von George W. Bush und dessen neokonservativen Politikberatern. Nur logisch, dass Perle und Frum Beamte auf Lebenszeit durch Gefolgsleute des jeweiligen Präsidenten ersetzen möchten. Über die Nachrichtendienste schreiben sie, "es wäre wohl an der Zeit, all diese Geheimkrieger in einer einzigen paramilitärischen Struktur zu organisieren, die letztlich dem Verteidigungsminister verantwortlich ist" – vom stellvertretenden Verteidigungsminister Wolfowitz und dem Undersecretary of Defense Feith ganz zu schweigen. Hätte man die Nachrichtendienste schon früher den Zivilisten im Pentagon unterstellt, hätten Wolfowitz und Feith es nicht nötig gehabt, CIA und State Department zu umgehen, indem sie einen neuen Nachrichtendienst schufen, das Office of Special Plans, das die Daten so lange misshandelte, bis sie die von den Neocons verlangte Politik zu untermauern schienen. Während die Abgesandten der Neokonservativen im Pentagon die Nachrichtendienste auf Vordermann bringen, werden andere den diplomatischen Dienst kolonisieren. Perle und Frum, die beide früher als politische (also nur auf Zeit ernannte) Beamte fungierten, schreiben: "Als Nächstes sollten wir die Anzahl der politischen Beamten im State Department entschieden vergrößern und ihre Rolle ausweiten."
Die ideologische Gleichschaltung (im Original deutsch) wird vor den amerikanischen Streitkräften nicht Halt machen. Die Neocons, von denen nur wenige jemals Militärdienst leisteten, können ihre Verachtung für Amerikas Soldaten kaum verbergen: Frum und Perle sprechen von "der Erblast der militärischen Tradition". (Generalleutnant William Boykin, wie so viele der amerikanischen Unterstützer Ariel Scharons ein christlicher Fundamentalist, ist dagegen genehm und wurde ins Büro des Verteidigungsministers geholt, wo er mit den politischen Beamten Rumsfeld, Wolfowitz und Feith, sämtlich Zivilisten, zusammenarbeitet.) Das Berufsmilitär, das sich schon so oft als Hemmnis für grandiose Visionen der Neocons erwies, muss, folgt man Perle und Frum, in ein Instrument für Präventivkriege umgewandelt werden: "Werden wir uns um ein Terroristenlager in irgendeinem entlegenen Dorf Indonesiens kümmern müssen? Oder einen Syrien-Raid unternehmen, um Massenvernichtungswaffen sicherzustellen oder zu zerstören, die Saddam Hussein möglicherweise zur Aufbewahrung dorthin geschickt hat? Oder einen Entscheidungsschlag gegen eine nordkoreanische Fabrik führen, die gerade Nuklearwaffen für einen terroristischen Kunden produziert?" – Alles Aktionen, die, wie wir fürchten müssen, auf der Grundlage von Informationen gerechtfertigt werden würden, wie sie neokonservative politische Beamte in den US-Nachrichtendiensten zurechtfälschen.
Die neuen US-Streitkräfte werden viel zu tun bekommen, wenn Perles und Frums Vorstellungen sich durchsetzen. In ihrem Buch "An End to Evil" fordern sie die Absetzung der Regierungen des Iran und Syriens, die Behand- lung Saudi-Arabiens als Feindstaat, eine Blockade Nordkoreas, und Frankreich – nicht zu vergessen – ist als Feind zu betrachten, zusammen mit "Frankreichs Pilotfisch Belgien". Nieder mit Belgien, Frankreichs Pilotfisch! – hier handelt es sich um einen neu hinzugefügten Posten der neokonservativen Litanei. Glaubt man Frum und Perle, so wird es amerikanischer Invasionen und amerikanisch unterstützter Revolutionen in großer Zahl bedürfen, um die Demokratie in Länder zu tragen, wo sie heute fehlt: "Kofi Annan behauptete im Juli 2003, die Demokratie könne nicht gewaltsam oktroyiert werden. Tatsächlich?" Annan kennt die Geschichte besser als Perle und Frum. Die historische Bilanz lässt keinen Zweifel: Wo sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten die Demokratie durchgesetzt hat, geschah dies zumeist nicht durch ausländische Militärintervention oder militärischen Druck, wohingegen die meisten militärischen Interventionen der USA im Ausland letztlich Diktaturen, nicht aber Demokratien hinterließen. Die beiden Fälle, auf die die Neocons immer wieder zurückkommen, Deutschland und Japan, zählen zu jenen wenigen, in denen eine US-Invasion zur Wiederherstellung der Demokratie führte (nicht etwa zu ihrer Erschaffung aus dem Nichts). Der Sowjetblock demokratisierte sich selbst von innen heraus in den 90er Jahren – und das obwohl die Vereinigten Staaten Moskau nicht bombardierten, den Polen keinen Notstandsgouverneur oktroyierten und ebensowenig frühere kommunistische Amtsträger in Ungarn ohne Anklage in Lager hinter Stacheldraht steckten. In Lateinamerika wandelte sich Mexiko von der Einparteiendiktatur zur Mehrparteiendemokratie, ohne dass US-Marines im Präsidentensitz von Mexico City für Fotos posierten, und es war nicht erforderlich, dass amerikanische Soldaten zehntausende Argentinier, Chilenen und Brasilianer töteten, damit die Demokratie in diesen Ländern Wurzeln schlagen konnte.
Ein Netzwerk ränkeschmiedender Stümper
Man kann nur hoffen, dass die amerikanischen Soldaten im Irak eine funktionierende Demokratie hinterlassen – im Unterschied zu den unfähigen Autokratien und Kleptokratien, die das Erbe amerikanischer militärischer Besatzung auf den Philippinen, Kuba, in Nicaragua, Haiti und Mexiko darstellten. Aber wenn die liberale Demokratie sich in der islamischen Welt im Allgemeinen und der arabischen Region im Besonderen durchsetzt, so wird dies wahrscheinlich auf eine Weise geschehen, die an den schrittweisen, überwiegend unblutigen Übergang in Sowjeteuropa und Lateinamerika erinnert, nicht etwa als Ergebnis amerikanischen militärischen Handelns oder Einschüchterns. Die Neocons – und die humanitären Falken auf der Linken – befinden sich schlichtweg im Irrtum darüber, wie die Demokratie am besten auszubreiten ist.
Zu ihrem Unglück kann es sich eine politische Ideologie in der wirklichen Welt nicht beliebig oft leisten zu scheitern, ohne schließlich ihren Kredit zu verlieren. Mindestens zwei Jahrzehnte lang haben die Neocons sich in der Außenpolitik in so gut wie allem geirrt. Als die Sowjetunion am Rande des Zusammenbruchs stand, erklärten die Falken des Team B und des Committee on the Present Danger, sie stehe an der Schwelle der Weltherrschaft. In den 90er Jahren übertrieben sie Chinas Macht und Gefährlichkeit, wobei sie erneut ihre Ideologie über die nüchternen Analysen der Berufsmilitärs und der Aufklärungsexperten stellten. Die Obsession der Neocons durch Saddam Hussein und Jassir Arafat ging so weit, dass sie die wachsende Bedrohung durch Al Qaida übersahen. Nach 9/11 forcierten sie den Einsatz unwirksamer Allheilmittel wie Präventivkrieg und Raketenabwehr als Lösung für Probleme wie Flugzeugentführer und Selbstmordattentäter.
Sie sagten, Saddam hätte Massenvernichtungswaffen. Er hatte keine. Sie sagten, er sei mit Osama Bin Laden verbündet. Er war es nicht. Sie prophezeiten, es würde nach dem Krieg zu keiner größeren Aufstandsbewegung im Irak kommen. Sie kam. Sie sagten, eine Welle des Proamerikanismus würde den Mittleren Osten und die ganze Welt erfassen, wenn die Vereinigten Staaten nur kühn und auf eigene Faust handelten. Stattdessen erhob sich regional und global eine Welle des Antiamerikanismus.
David Brooks und seine Kollegen in der Neocon-Presse haben zur Hälfte Recht. Es gibt kein neokonservatives Netzwerk ränkeschmiedender Genies – es gibt lediglich ein Netzwerk ränkeschmiedender Stümper. Im Ergebnis der eigenen Inkompetenz haben die Neokonservativen sich selbst gedemütigt. Wen wundert’s, dass sie jetzt so tun, als habe es sie nie gegeben.