Ausgabe September 2011

Neue Weinerlichkeit

In den 70er Jahren hatten in der Literatur „Neue Subjektivität“ und „Neue Sensibilität“ Konjunktur. In den Romanen und Erzählungen einer jungen Generation von Schriftstellern und Schriftstellerinnen ging es – anders als noch in den Jahren zuvor – dezidiert nicht um Politik im engeren Sinne, sondern um Lust und Unlust, ob bewusst oder unbewusst, um den Alltag, um das Private. Denn wie wusste man und frau – noch – in diesen bewegten Zeiten: Das Private ist politisch.

Heute sind wir längst einen Schritt weiter – und bei der „Neuen Weinerlichkeit“ gelandet. Allerdings nicht bei der Neuen Linken, sondern bei den Neuen Konservativen – wie soeben der schleswig-holsteinische CDU-Spitzenkandidat Christian von Boetticher mit seinem tränenreichen Abgang demonstrierte.

Das aber war nur der vorläufige Höhepunkt einer kontinuierlichen Verweichlichung des deutschen Konservatismus. Lange vorbei die Zeiten, in denen etwa die hessische Union von Alfred Dregger und Manfred Kanther noch als knallharter Kampfverband gegen „die Sozen“ geführte wurde.

Woran hat man sich seither nicht alles gewöhnen müssen? An einen Bundespräsidenten namens Horst Köhler, der tief beleidigt und erschüttert zurücktrat, bloß weil man ihn – böse, böse – zu kritisieren gewagt hatte. An einen hessischen Hardliner namens Roland Koch, der mit den menschelnden Worten „Politik ist nicht mein Leben“ die vermeintliche Berufung schnöde an den Nagel hängte und kurzerhand zum Manager konvertierte. Und schließlich an einen Hamburger Bürgermeister Ole von Beust, der kurz vor der Wahl mit dem altersweisen „Alles hat seine Zeit“ zurücktrat, um sich fortan seiner Lieblingsinsel Sylt mitsamt jugendlichem Liebhaber zu widmen. Von einer tätowierten Bundespräsidenten-Gattin wie von einem CSU-Parteiführer mit Zweitfrau samt Tochter ganz zu schweigen.

So viel „Horizontalliberalisierung“ bei der Union mag dazu geführt haben, dass auch von Boetticher glaubte, leichthin eine Liaison mit einer knapp 16jährigen eingehen zu können. Denn: „Es war schlichtweg Liebe“ (O-Ton Boetticher). Und wer wollte da schon richten?

Doch offenbar ist hier einiges in Vergessenheit geraten. Das Private bleibt eben politisch. Und die alte Steigerungsformel „Feind–Todfeind–Parteifreund“ gilt eben auch und gerade im Intrigantenstadl CDU, wo die junge Liebe prompt an die Medien durchgesteckt wurde. Da helfen auch keine Tränen nicht. Und Taschentücher schon gar nicht.

Bei so viel Gemeinheit nimmt von Boetticher jetzt eine Auszeit in den USA. An der dortigen Ostküste wird er gewiss auf jenen treffen, der das Opfer der schlimmsten „Menschenjagd nach 1945“ geworden ist – so Vater Enoch über seinen Sohn Karl-Theodor zu Guttenberg. Gattin Stephanie freut sich jedenfalls bereits auf „die gemeinsame Zeit in einer normalen Familie an einem Ort, wo uns keiner kennt“. Wohl bekomm’s, möchte man hinzufügen – und erinnert sich fast sehnsüchtig an die gute alte Adenauer-CDU, die es anstelle der Neuen Weinerlichkeit mit der Alten Innerlichkeit hielt und möglichst wenig nach außen dringen ließ.

Immerhin eine hält die Fahne unverdrossen hoch: die beinharte Angela. Außer dem obligatorischen Bayreuth-Besuch mit Ehemann Joachim Sauer einmal im Jahr kommt Privatheit bei der Kanzlerin schlicht nicht vor.  Dagegen war selbst Helmut Kohl mit seinen alljährlichen Urlaubsbildern vom Wolfgangsee ein wahrer Impressario seines Privatlebens – und ein waschechter Post-68er.

 

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In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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