Zehntausende Menschen sind in den letzten Jahren in syrischen Gefängnissen misshandelt und gefoltert worden. Tausende überlebten diese Torturen nicht. Das belegten zuletzt der Bericht von Amnesty International zum Saydnaya-Gefängnis und die Aufnahmen des syrischen Militärfotografen unter dem Decknamen „Caesar“. Wie die Auswertung seiner Fotos eindringlich zeigt, steckt hinter der Folter ein hierarchisch organisiertes und durchstrukturiertes System.[1]
Systematische Folter und Massaker gehören schon seit mehreren Jahrzehnten zum Herrschaftssystem von Vater und Sohn Assad. Man denke etwa an das Massaker in der Sunniten-Hochburg Hama mit mindestens 20 000 Toten im Jahr 1982. Auch Gefängnisse wie Tadmor oder Saydnaya sind seit Jahrzehnten berüchtigt. Sie bilden allerdings nur die Spitze des Eisbergs.
Dennoch hat die westliche Öffentlichkeit lange weggesehen. Baschar al-Assad war ein Verbündeter im sogenannten Kampf gegen den Terror. Spätestens seit dem Arabischen Frühling, dem syrischen Aufbruch von 2011 und vor allem seit der gewaltsamen Reaktion der Assad-Regierung hat sich das geändert. Auf die massive Niederschlagung der Aufstände folgte eine Verhaftungs- und Folterwelle. Zudem setzte das Regime chemische Waffen ein, wie die UN dokumentiert hat, und bombardierte vor allem in Aleppo zivile Ziele. Dazu kommen zahlreiche weitere – von vielen Akteuren begangene – Völkerstraftaten.
Rechtlich handelt es sich hierbei um Verbrechen gegen die Menschlichkeit und um Kriegsverbrechen. Wo, wenn nicht heute in Syrien, sollte sich also die internationale Strafjustiz bewähren? Dort werden praktisch alle Verbrechen verübt, die nach dem Völkerstrafrecht, nicht zuletzt dem Statut für den Internationalen Strafgerichtshof, geahndet sind. Die Lage in Syrien ruft Erinnerungen an Sarajevo oder Srebrenica zu Beginn der 1990er Jahre wach. Und hatte nicht als Reaktion auf genau diese Ereignisse der Aufbau der internationalen Strafjustiz begonnen? Der UN-Sicherheitsrat beschloss seinerzeit die Etablierung eines UN-Sondertribunals zu den Verbrechen in Jugoslawien, später auch zum Völkermord in Ruanda (1994/1995). Schließlich wurde 1998 in Rom das Statut für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) beschlossen, das auf der Arbeit dieser UN-Tribunale aufbaute.
Heute können Völkerstraftaten daher auf drei verschiedenen Ebenen untersucht und sanktioniert werden: erstens durch die Justiz des betroffenen Landes sowie regionale Menschenrechtsgerichtshöfe, zweitens durch den Internationalen Strafgerichtshof und internationale Tribunale und drittens durch Drittstaaten nach dem Weltrechtsprinzip.
Die tatortnahe Untersuchung durch lokale und regionale Behörden ist zuletzt häufig erfolgt, auch wenn eine auf sich selbst fixierte nordatlantische Öffentlichkeit dies nicht immer genügend beachtet. So wurde dem „Pinochet Afrikas“, Tschads Exdiktator Hissène Habré, für seine Verbrechen der 1980er Jahre der Prozess gemacht. Ein Sondergericht der Afrikanischen Union im Senegal verurteilte ihn im Mai 2016 zu lebenslanger Haft. Im gleichen Monat verhängte ein Bundesgericht in Argentinien hohe Freiheitsstrafen gegen einstmals führende lateinamerikanische Generäle wegen der „Operation Kondor“ gegen Regimegegner in den 1970er Jahren. Mehrere ehemalige Staatschefs wurden angeklagt und teilweise auch verurteilt, so in Argentinien, Chile und Peru.
Auf allen Kontinenten fanden heftige juristische und politische Auseinandersetzungen um die andauernde Straflosigkeit statt. Viele Menschenrechtsorganisationen und Opfer von Völkerstraftaten haben Strafverfahren initiiert, zum Teil unter hohem Risiko, aber auch mit spektakulären Erfolgen. Das Prinzip der tatortnahen Verfolgung stößt allerdings oft an Grenzen: In Diktaturen und Bürgerkriegen wie aktuell in Syrien begehen gerade jene die Verbrechen, die auch für die juristische Aufarbeitung zuständig wären. Dort ist mithin eine Strafverfolgung durch die betroffenen Gesellschaften jedenfalls temporär nicht möglich.
Vor ganz anderen Problemen steht der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Er sieht sich dem Vorwurf selektiver Ermittlungen ausgesetzt, da er sich zu stark auf Afrika konzentriere. Doch diese Kritik ist nur teilweise berechtigt:[2] Der Gerichtshof kann nämlich nur jene Fälle untersuchen, die Staatsbürger von Vertragsstaaten betreffen und auf deren Territorium stattfinden. Will er darüber hinaus tätig werden, muss ihn der UN-Sicherheitsrat ermächtigen. Zwar erkennen derzeit 121 Staaten das Gericht an, nicht aber die Großmächte USA, Russland, China und Indien sowie zahlreiche Konfliktherde wie Syrien, Iran und Sri Lanka. Nur wenn sich der Sicherheitsrat und insbesondere dessen Vetomächte politisch geeinigt haben, können die Den Haager Ermittler tätig werden, wie zuletzt im Sudan oder in Libyen.
Diese Lücke versucht die Strafverfolgung durch Drittstaaten aufgrund des Weltrechtsprinzips oder dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit auszufüllen. Insbesondere nach der Verhaftung des chilenischen Exdiktators Augusto Pinochet, der im Oktober 1998 in London aufgrund eines spanischen Haftbefehls festgesetzt wurde, erstatteten Betroffene und Menschenrechtsorganisationen hunderte Anzeigen, die Menschenrechtsverletzungen aus der ganzen Welt betrafen. Der eigentliche Erfolg der anschließenden Verfahren gegen chilenische und argentinische Exmilitärs besteht nicht in den Urteilen vor spanischen, deutschen oder französischen Gerichten, obwohl hier Haftbefehle und Verdikte in Abwesenheit der Angeklagten ergingen. Wichtiger sind die Veränderungen in den betroffenen Staaten: Der „Pinochet-Effekt“ führte zu hunderten erfolgreichen Strafverfahren gegen hohe und höchste Militärs und Geheimdienstler in Chile und Argentinien. Dies konnte aber nur gelingen, weil es aktive Zivilgesellschaften, Menschenrechtsorganisationen und Juristen gab sowie ein einigermaßen wiederhergestelltes Rechtssystem nach der Rückkehr zur Demokratie.
Die Folterer belangen
In Syrien hingegen ist auf absehbare Zeit nicht an rechtsstaatliche Verhältnisse zu denken. Auch eine Strafverfolgung durch die Anklagebehörde am IStGH ist derzeit ausgeschlossen: Die Den Haager Ermittler sind nicht zuständig, da Syrien das Statut des Gerichts ebenso wenig unterzeichnet hat wie die meisten der anderen am Krieg beteiligten Akteure. Und eine Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat scheitert am Veto von China und Russland. Aus demselben Grund sind auch UN-Sondertribunale zu Syrien derzeit politisch nicht durchsetzbar.
Damit bleibt zur Ahndung der syrischen Kriegsverbrechen nur die drittbeste Option: Gerichte und Staatsanwälte in Drittländern können nach dem Weltrechtsprinzip die Strafverfolgung aufnehmen sowie nach dem aktiven oder passiven Personalitätsprinzip. Letzteres setzt voraus, dass ihre (Doppel-)Staatsbürger auf die eine oder andere Weise an Verbrechen in Syrien beteiligt sind.
Tatsächlich sind in zahlreichen Ländern – darunter Deutschland, Frankreich, Schweden, die Schweiz, die Niederlande und Norwegen sowie Kanada und die USA – derzeit knapp 100 Verfahren anhängig. Allerdings beschränken sie sich überwiegend auf Tatverdächtige, die auf dem eigenen Territorium angetroffen wurden. So wurde etwa in der Bundesrepublik Aria L. wegen Kriegsverbrechen verurteilt, ein deutscher Staatsbürger iranischer Herkunft. Er war in Syrien bei islamistischen Milizen aktiv gewesen und hatte gemeinsam mit anderen vor den Köpfen von Bürgerkriegsopfern posiert, die auf Metallstangen aufgespießt waren. Die Bilder hatte er anschließend über Soziale Medien verbreitet. Ähnliche Urteile ergingen gegen in Deutschland und Schweden verhaftete Täter.
Sie alle konnten nur belangt werden, weil sie die deutsche oder eine doppelte Staatsbürgerschaft besaßen und sich auf europäischem Territorium aufhielten. Das beschränkt eine mögliche Strafverfolgung auf einen eher kleinen Personenkreis. Wenn sie Hinweise auf Straftaten erhalten und Zugriff auf die Verdächtigen haben, müssen die Behörden aktiv werden, zumal der öffentliche Druck in derartigen Fällen von Terrorismusverdächtigen hoch ist. An hochrangige Tatverantwortliche für Menschenrechtsverbrechen kommen sie auf diesem Weg jedoch nicht heran.
Nicht zuletzt deswegen sind gerade nach der Veröffentlichung der „Caesar-Fotos“ in Frankreich, Spanien und Deutschland Ermittlungsverfahren gegen hohe Funktionäre und Geheimdienstchefs des Assad-Regimes eingeleitet worden. In Deutschland und Frankreich stehen dabei nicht einzelne Personen im Mittelpunkt, vielmehr sollen die Strukturen der syrischen Geheimdienste und ihrer Foltergefängnisse ermittelt werden.
Überdies sind im Februar und März 2017 nach den Strafanzeigen von Betroffenen und gemeinsam mit Menschenrechtsorganisationen in Spanien und Deutschland weitere Ermittlungsverfahren angestrengt worden. Dazu musste in Spanien auf den Straftatbestand des Terrorismus zurückgegriffen werden. Es geht dabei um den Bruder einer spanischen Staatsbürgerin, der unter Folter getötet und dessen Bild in den Caesar-Archiven veröffentlicht wurde. In Deutschland wiederum zeigten sieben Folterüberlebende gemeinsam mit dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) – dem auch der Autor dieses Artikels angehört – hohe Generäle des syrischen Geheimdienstes nach dem Weltrechtsprinzip an.[3] Sie wollen erreichen, dass die höchsten Verantwortlichen für die seit Jahren eingeübte Folterpraxis belangt werden. Denn rechtlich ist diese Praxis als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen einzustufen – und kann somit nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch geahndet werden.
Da die Verdächtigen sich derzeit nicht in der Bundesrepublik aufhalten, verfolgt die Initiative vor allem zwei Ziele: Erstens soll in Deutschland ein Informationspool aufgebaut werden, der künftig hier, aber auch von internationalen wie syrischen und regionalen Gerichten genutzt werden kann. Nur die zeitnahe Aufnahme von Ermittlungen garantiert, dass verlässliche Beweise gesammelt werden können, die später vor einem Strafgericht in einem fairen Prozess verwendbar sind. Zweitens können aufgrund der Ermittlungen internationale Haftbefehle erlassen werden, die dann zur Verhaftung möglicher Tatverdächtiger auch außerhalb von Deutschland führen könnten.
Kein Frieden ohne Recht
Die derzeitige Situation in Syrien ist dramatisch, vor allem für die Zivilbevölkerung. Zwar finden momentan im kasachischen Astana und in Genf Friedensverhandlungen statt, doch deren Erfolgsaussichten sind begrenzt. Vor allem aber ist das Land in einem erschreckenden Zustand. Ein Ende der Gewalttätigkeiten ist nicht absehbar, zahlreiche bewaffnete Akteure verüben weitere Verbrechen. Das Ausmaß der Zerstörung lässt sich ebenso wenig ermessen wie die Zahl der innerhalb und außerhalb des Landes geflohenen Syrer. Was nützt, so könnte man fragen, in einer solchen Situation die justizielle Aufarbeitung von Völkerstraftaten?
Klar ist: Ohne eine politische Lösung kann weder ein Waffenstillstand und damit ein Ende der Gewalttätigkeiten im Land erreicht werden noch der Wieder- oder Neuaufbau eines demokratischen und rechtsstaatlichen Systems. Allerdings betonen fast alle exilsyrischen Organisationen, dass der (Wieder-)Aufbau einer friedlichen Gesellschaft nicht möglich sein wird, ohne das Geschehen der letzten Jahre auch strafrechtlich zu erfassen. Jedoch ist an eine Übergangsjustiz, wie sie beispielsweise im kolumbianischen Friedensprozess diskutiert wird,[4] noch nicht zu denken. Auch Prozesse vor dem IStGH oder einem UN-Sondertribunal sind derzeit politisch nicht durchsetzbar. Daher kommt der Strafverfolgung und Ermittlung durch die Behörden dritter Staaten eine herausragende Bedeutung zu.
Diese hat unterschiedliche Ziele. Die Folteropfer und ihre Angehörigen drängen auf einen Zugang zur Justiz und auf eine unabhängige Untersuchung der systematischen Folter. Das tun sie gerade deswegen, um, wie sie sagen, ein Abdriften in Rache oder politische Radikalität zu verhindern. Außerdem senden die Verfahren eine klare Botschaft: Das absolute Verbot der Folter muss aufrechterhalten werden. Das ist leider nicht mehr selbstverständlich: Sowohl notorisch gewalttätige und autoritär regierte Staaten wie Russland und die Türkei, jüngst aber auch Großbritannien und die USA erachten Folter zunehmend als gerechtfertigt, um militante, aber auch friedliche Aufständische und Oppositionelle zu bekämpfen. Militärs, Geheimdienstler und opportunistische Politiker, mitunter selbst Juristen fordern Ausnahmen vom absoluten Folterverbot. Daher ist es enorm wichtig, diese Norm wiederherzustellen und zu bestätigen.
Überdies kommt dem Zugang zur Justiz, dem Ausüben des Rechts auf Rechte – insbesondere des Anspruchs auf Untersuchung des Vorgefallenen – noch eine weitere Bedeutung zu: Sie wirken auf die Täter ein. Und sie können schon während des laufenden Friedensprozesses dazu führen, dass aus zu Objekten Erniedrigten wieder politische Subjekte werden – und die Sprache der Gewalt durch die Sprache des Rechts ersetzt wird.
[1] Vgl. Human Rights Watch, Dead Could Speak, www.hrw.org, 16.12.2015.
[2] Vgl. Wolfgang Kaleck, Mit zweierlei Maß. Der Westen und das Völkerstrafrecht, Berlin 2012.
[3] Vgl. Folter unter der Regierung Assad, www.ecchr.eu.
[4] Vgl. Janna Greve, Kolumbien: Alles oder nichts für den Frieden, in: „Blätter“, 6/2016, S. 113-119.