Es kann nicht weitergehen wie immer, weder für die katholische Kirche noch für Staat und Öffentlichkeit, wenn all die Schockbeteuerungen ernst gemeint sein sollten. Dennoch sieht es so aus, als gewöhne man sich an die Zahlen aus Irland, Australien, den USA und Deutschland: Die Meldungen über tausendfach verübte sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen durch katholische Geistliche erschüttern die Öffentlichkeit zwar immer wieder aufs Neue, aber nur für kurze Zeit. Systematische Aufarbeitung und strukturelle Änderungen stehen nach wie vor aus.
Anfang September wurden Zahlen für Deutschland bekannt: In einer von der katholischen Kirche selbst in Auftrag gegebenen Studie ist von 3677 minderjährigen „Betroffenen“ und 1670 geistlichen „Beschuldigten“ die Rede, von Opfern und Tätern spricht die sogenannte MHG-Studie nicht.[1] Die dahinterstehenden Leidensgeschichten erzählen von missbrauchtem Vertrauen und doppelter Demütigung: durch die Taten und durch die Tatsache, dass die Kirche den Betroffenen nicht glaubte – oder die Taten vertuschte. Die aktenkundigen Anschuldigungen sind massiv. Käme weltliches Recht zur Geltung, wären es Straftaten. Doch angezeigt wurde nur in einem Drittel der Fälle, bestraft so gut wie nie.
Unter den 3677 namenlosen Fällen findet sich vielleicht die Geschichte von Gisela, die als Kind erst dem Pfarrer, dann dessen Vorgesetztem immer sonntags „eine Freude bereiten“ sollte, wie der Gottesmann „es“ nannte. Oder die von Jürgen, den der lockere Jugendseelsorger auf einer Party erst betrunken machte und dann mit ins Pfarrhaus nahm. Einvernehmlich sei der „Akt“ gewesen, wird der Priester später sagen, als Jürgen selbst ein Kind missbraucht und vor Gericht steht. Vielleicht zählt Oberministrant Andreas dazu, der während der Messe umkippte, just in jenem Moment, als sein Peiniger in Persona Christi die Hostie hochhielt und die Gemeinde murmelte: „Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“
Jeder zwanzigste Priester
Insgesamt sind damit 5,1 Prozent der katholischen Priester in Deutschland beschuldigt – also rund jeder zwanzigste. Auf diese Zahlen schnurrt die 350seitige Studie zusammen, die die Wissenschaftler von den Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen erstellt haben.
Doch es sind nur Mindestwerte, das genaue Ausmaß ist nach wie vor unklar, denn es standen längst nicht alle Akten zur Verfügung. In 9 von 27 deutschen Bistümern wurden Akten von 1946 bis 2014 ausgewertet, in den anderen nur solche vom Jahr 2000 an. Die katholische Kirche präsentiert sich den Wissenschaftlern als Aktenanarchie: Ordner verschwinden, Registrierungen sind uneinheitlich, Zuständigkeiten unklar. Erst seit 2001 werden Beschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs der vatikanischen Glaubenskongregation gemeldet, vorher ging jedes Bistum unterschiedlich damit um. Das Durcheinander hat System: Verantwortlichkeiten verdunsten wie Weihwasser in der Wüstensonne. Das hiesige Forscherteam konnte keine Akten selbst in die Hand nehmen, es schickte lediglich Fragebögen an die Bistümer. Orts- und Personennamen wurden in den Antworten geschwärzt. Das absichtsvolle Dunkelfeld dürfte mit der Personalunion von Auftraggeber und Untersuchungsobjekt zu erklären sein, denn die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) bezahlt die Studie. Erfasst wird das katholische Leben in ihrem Hoheitsbereich, vor allem in den Gemeinden. Ordensschulen, die nicht der Bischofskonferenz unterstehen, bleiben außen vor.
Die katholische Kirche – Profi für Schuld und Sühne – lässt sich von Psychiatern und Soziologen einen Beichtspiegel vorhalten. Wer in diesen schaut, erkennt allerdings keine Personen, sichtbar werden dafür Zahlen und Zusammenhänge. Doch strafrechtliche Verwertbarkeit sieht das Forschungsdesign nicht vor. Der Datenschutz und die Deutungshoheit waren von Anfang an strittig. An diesbezüglichen Differenzen scheiterte Anfang 2013 schon die Pfeiffer-Studie, beauftragt unter dem Druck der Missbrauchs-Enthüllungen des Jahres 2010. Der Kriminologe Christian Pfeiffer sah sich angesichts der großen Widerstände und Einschränkungen seitens der Kirche außerstande, wirkliche Aufklärungsarbeit zu leisten.
Rigide Sexualmoral und Zölibat
Doch trotz des beschränkten Auftrags sind die neuen Befunde wichtig. Denn sie zeigen: Die Priester gehen planvoll vor, die wenigsten von ihnen sind pädophil, also sexuell erregbar durch Kinder. Sie bauen Vertrauen auf zu bestimmten Jungen und Mädchen. Sie nutzen die Autorität des Erwachsenen mit dem Draht zu Gott und ein Machtmittel, das sie glaubten unterdrücken zu können: ihre Sexualität. Die Kinder und Jugendlichen werden in der Gemeinde rekrutiert: unter den Messdienern, bei Jugendfahrten, im Religionsunterricht. Die meisten Betroffenen sind männlich, die meisten Beschuldigten heterosexuell, aber der Anteil an Homosexuellen ist überproportional hoch. Zugleich warnen die Forscher jedoch vor Fehlschlüssen, denn Homosexualität an sich sei „kein Risikofaktor“.[2]
Trotz der schweren Vorwürfe zeigte bislang kaum ein Beschuldigter Reue. „Fürchtet euch nicht!“ – dieses populäre Bibelzitat schlägt ins Zynische um, denn es lässt sich angesichts der Studienergebnisse auch so lesen: Wer Kindern sexualisierte Gewalt antut, hat wenig zu befürchten. Die Auswertung der Gespräche mit 50 Beschuldigten legt nahe: Die vergängliche weltliche Justiz gilt Priestern nicht als Instanz. Ihnen reicht das Beichten. „Charakteristisch für die Beschuldigten ist die Hoffnung auf einen gnädigen Gott.“[3] Als „Bagatellisierung“ charakterisieren die Wissenschaftler die Schilderungen der Täter. Kleriker wähnen sich über Kleinigkeiten erhaben, sie glauben, an etwas Großem mitzuwirken. Mit diesem Versprechen überlebt die Kirche in allen politischen Systemen. Die Überlebenden eines Missbrauchs stören da nur den Betriebsablauf.
Ähnliche Beobachtungen enthält auch eine besondere Fallanalyse der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der evangelischen und katholischen Kirche.[4] Die MHG-Studie jedoch arbeitet für die Bischöfe noch deutlicher heraus, was diese lange leugneten: Taten und Täterschutz haben einen katholischen Beigeschmack, auch wenn in evangelischen Heimen, Sportvereinen und insbesondere Familien Missbrauch ebenfalls vorkommt. Als katholische Komponenten benennen die Forscher das Machtgefälle zwischen Klerikern und „einfachen“ Gemeindemitgliedern, die rigide Sexualmoral, die Verachtung von Homosexualität, das Männerbündische und den Zölibat. Noch 2012 hatte der Forensiker Norbert Leygraf im Auftrag der DBK geschrieben: „Bisher liegen keine empirischen Befunde vor, die belegen könnten, dass ein gewollter oder ungewollter Verzicht auf Sexualität und/oder Partnerschaft das Risiko für Sexualdelikte erhöht.“[5] Jetzt soll alles auf den Prüfstand, Kirchenmänner mit römischem Kragen ergehen sich in Klerikalismuskritik: Der Münchner Erzbischof Reinhard Marx stellt sogar den Zölibat zur Disposition, auch wenn das längst nicht alle bayerischen Amtsbrüder teilen.
Dank der Studie ist Systemkritik endlich amtlich: „Sexueller Missbrauch stellt immer auch einen Missbrauch von Macht dar, der durch autoritär-klerikale Strukturen der katholischen Kirche begünstigt werden kann“, heißt es dort.[6] Der wissenschaftliche Beichtspiegel zeigt zwar keine Gesichter, aber ein klares Feindbild: den Klerikalismus. Die Vertuscher bleiben namenlos, aber das Problem hat einen Namen.
Wird die Frauenfrage endlich virulent?
Obwohl die Studie dazu schweigt, kommt zwischen A wie Amtsverständnis und Z wie Zölibat auch das „Frauenthema“ auf die Agenda. Die Tür zur Priesterinnenweihe sei zu, donnern zwar alle Päpste seit Johannes Paul II. Jetzt aber könnte sich weiblichen Wesen zumindest eine Hintertür öffnen. In die Priesterausbildung müssten sie stärker einbezogen werden, sagt etwa Münchens Generalvikar Peter Beer. Zu vollwertigen, klerustauglichen Menschen sind Frauen damit zwar noch nicht avanciert, aber offenbar taugen sie der katholischen Kirche zum Missbrauchspräventionsgeschöpf.
Frauen, Sex, Zölibat – damit haben sich Bischöfe bis vor kurzem nur widerwillig beschäftigt, wer dazu Kühnes veröffentlichte – Hans Küng, Uta Ranke-Heinemann, Eugen Drewermann –, wurde kaltgestellt. Jetzt wird eine neue Debattenlust inszeniert. Doch die Kombination aus Unterleibsfixierung und Obrigkeitstreue lässt langwierige Debatten erwarten und die alten Kampflinien bleiben, auch unter den Laien. Die Liberalen fordern jene Sexualmoral, die sie immer schon wollten. Die Konservativen klagen wie immer Schwule und den permissiven Zeitgeist an. Dabei zeigen alle Untersuchungen: Es gibt Täter in Jeans und in Soutane, vermeintlich lässige und erkennbar verklemmte.
Deshalb ist es verständlich, wenn Matthias Katsch von der Opferinitiative „Eckiger Tisch“ moniert: Bis die katholische Kirche sich auf Reformen verständigt, können Betroffene nicht warten. Er fordert Entschädigung – und die Namen der Vertuscher.
Tatsächlich gilt es zu überlegen, wie Betroffene Gerechtigkeit erfahren können und wie die Kirche endlich ein sicherer Ort für Kinder und Jugendliche wird. Stattdessen aber zeichnen sich innerkirchlich zwei Tendenzen ab: das theologische Entschweben und die machtpolitische Explosion. Das Thema löst sich entweder mit Katharsis- und Fegefeuermetaphern in Weihrauch auf oder es wird gezielt gegen Franziskus eingesetzt. Ohne Frage hat der Papst diesbezüglich schwere Fehler gemacht, insbesondere in Chile und Argentinien. In Chile etwa nahm er viel zu lange einen Bischof in Schutz, der nach Aussagen von Opfern sexualisierte Gewalt durch einen Pfarrer deckte. Allerdings missbraucht das reaktionäre Milieu die Missbrauchsopfer, um Franziskus‘ Reformkurs zu sabotieren.
Jene, die dem Papst mangelnden Aufklärungswillen ankreiden, unternahmen nichts, als Johannes Paul II. einen Täter wie Marcial Maciel Degollado zum Heilsbringer hochjubelte. Jene, die sich immerfort mit Nachdruck für Ungeborene einsetzen, bagatellisieren Verbrechen an den Geborenen. Der Jesuit Klaus Mertes, der 2010 den Missbrauch am Berliner Canisius Kolleg öffentlich machte, wurde damals von rechtskatholischen Webportalen als Nestbeschmutzer diffamiert.
Von oben kommt die Legitimation
Rituell beteuern nun die Bischöfe, die Betroffenen ins Zentrum stellen zu wollen. Biblisch gesprochen sollen die Geringsten die Höchsten sein. Politikwissenschaftlich betrachtet wäre das jedoch ein Wunder. Denn von den Geringsten aus zu denken, widerspricht dem Selbsterhaltungsgesetz dieser Institution. Die absolute katholische Monarchie kann ohne Fußvolk bestehen, nicht aber ohne Kleriker. Die Blickrichtung geht stets nach oben, von dort kommt die Legitimation. Die kirchliche Höchststrafe für Kindesmissbrauch ist die Laisierung, die Herabsetzung vom geweihten in den Normalzustand. Liebt ein Priester eine Frau oder einen Mann, hat das dieselben Konsequenzen. Kinder genießen im kirchlichen Strafrecht keinen besonderen Schutz, Mutter Kirche und ihre Kleriker aber schon.
Papst Franziskus strebt zumindest verbal eine Kirche an, die Hilfsbedürftige im Blick hat, nicht Hierarchen. Oft benutzt er dafür das Bild des Feldlazaretts. Das ist nah an den Vulnerablen, den Verwundbaren, die das MHG-Forscherteam als eine von vier Betroffenengruppe ausmacht. Doch im Umgang mit dem Missbrauch bleibt dieser Perspektivwechsel bisher aus. Mag der Papst auch aufs Volk schauen, institutionell wird weiter nach oben geschielt.
Dreschen Kleriker nun auf den Klerikalismus ein, lenken sie davon ab, dass der Beichtspiegel blind geblieben ist. Bisher sagt niemand: Ich war Täter. Ich war Vertuscher. Ich habe statt auf die „Geringsten“ auf den Vorgesetzten geschaut. „Nein“, antwortete der DBK-Vorsitzende Marx auf meine Frage, ob unter mehr als 60 in Fulda versammelten Bischöfen einer oder zwei sagten, sie könnten wegen persönlicher Schuld die Verantwortung des Amtes nicht mehr tragen. Nur „nein“.
Wenn Betroffene Namen wollen, dann ist das keine Rache, sondern ihr gutes Recht. Der Staat könnte ihnen dazu verhelfen, etwa mit einer unabhängigen Untersuchungskommission nach irischem oder australischem Vorbild. So ließe sich die Herausgabe von kirchlichen Akten erzwingen. Dazu aber fehlt bisher die gesetzliche Grundlage. Auch die Zukunft der Unabhängigen Aufarbeitungskommission ist ungewiss. Für Politikerinnen und Politiker scheint es Wichtigeres zu geben als Kinder – Großinstitutionen als Partner des Staates zum Beispiel.
Auch das öffentliche Interesse ist geringer als 2010, die katholische Kirche hat innerhalb der vergangenen acht Jahre an Bedeutung verloren, als Vor- wie als Feindbild. Die Austrittszahlen werden steigen, aber Bischöfe wachsen immer nach. Demonstrierende Katholikinnen und Katholiken waren in Fulda nicht auf den Straßen. Wo sind all jene, die sich von der moralischen Instanz im Beichtstuhl Sexsünden einreden ließen, die keine waren? Die dauernd murmeln sollten: „Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld“? Die aufrichtig glauben, dass es das Christentum gut meinen kann mit Menschen? Es gibt Betroffene und Betrogene. Die Betrogenen halten still.
[1] Forschungsprojekt Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, Mannheim, Heidelberg und Gießen, 24.9.2018, www.zi-mannheim.de.
[2] MHG-Studie, S. 17.
[3] MHG-Studie, S. 115.
[4] Marlene Kowalski, Sexueller Kindesmissbrauch im Kontext der evangelischen und katholischen Kirche, Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (Hg.), Berlin 2018, www.aufarbeitungskommission.de.
[5] Norbert Leygraf u.a., Sexuelle Übergriffe durch katholische Geistliche in Deutschland. Eine Analyse forensischer Gutachten 2000-2010. Abschlussbericht 2012, www.dbk.de.
[6] MHG-Studie, S. 17.