Ausgabe November 2020

Exempel Deutsche Wohnen: Der Kampf um die materiale Demokratie

Berlin, 20.06.2020 Demonstranten mit Transparent Deutsche Wohnen und CO Enteignen auf der Demonstration von Mieterorganisationen und politischen Initiativen gegen hohe steigende Mieten, teure Modernisierungen, Gentrifizierung,

Bild: imago images / IPON

Im kommenden Herbst könnte ein Volksentscheid in Berlin Geschichte schreiben – und den Mietmarkt weit über die Stadt hinaus auf den Kopf stellen. Denn im September 2021 werden die Berlinerinnen und Berliner parallel zur Bundestagswahl über die landesweite Sozialisierung von Immobilienfirmen abstimmen.

Angestoßen hat das Verfahren die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“. Ihr gelang es, eine in den vergangenen Jahrzehnten wenig beachtete Norm des Grundgesetzes weit oben auf die politische Agenda Berlins zu setzen: die Sozialisierung nach Art. 15 GG, wonach „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel […] zum Zwecke der Vergesellschaftung […] in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden [können].“

Konkret fordert die Initiative die Sozialisierung von Immobilienunternehmen, die über mehr als 3000 Wohnungen verfügen. Diese sollen in einer Anstalt des öffentlichen Rechts unter demokratischer Beteiligung verwaltet werden. Die im Herbst nächsten Jahres zur Abstimmung stehende Formulierung lautet: „Daher wird der Senat von Berlin aufgefordert, alle Maßnahmen einzuleiten, die zur Überführung von Immobilien sowie Grund und Boden in Gemeineigentum zum Zweck der Vergesellschaftung nach Artikel 15 Grundgesetz erforderlich sind.“[1] Sollte der Volksentscheid Erfolg haben, wären rund 240 000 Wohnungen betroffen.[2] Dass es so weit kommt, ist nicht ausgeschlossen: Von Beginn an erfuhr die Initiative großen Zuspruch. Bereits im Juni 2019 hatte sie für ihr Enteignungsbegehren etwa 77 000 Unterschriften gesammelt, fast vier Mal so viel wie nötig. Und es ist davon auszugehen, dass sie in den kommenden Monaten auch die ausstehenden, für einen Volksentscheid erforderlichen rund 170 000 Unterschriften zusammenbekommt.

Der bisherige Erfolg ist vor allem auf die Gentrifizierungsschübe der vergangenen Jahre in nahezu allen Berliner Stadtteilen zurückzuführen. Sie haben zu massiver Verdrängung einkommensschwacher Haushalte vor allem aus den Innenstadtbezirken geführt und die soziale Spaltung im Stadtraum erheblich vertieft, derweil finanzmarktorientierte Immobilienunternehmen gewaltige Gewinne einfahren.[3] Zugleich steht ein Großteil der Berliner Bevölkerung traditionell eher links und die rot-rot-grüne Senatskoalition hat „Wohnen als ein Grundrecht für alle Berliner*innen“ in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten.[4]

Das sehen aber längst nicht alle so. Besonders umstritten ist dabei die Frage, ob ein solcher Eingriff in die Ordnung des Eigentums und der Organisation spezifischer Wirtschaftsbereiche den Grundsätzen der Verfassung entspricht oder nicht.[5]

Im Kern geht es in der Diskussion um das Volksbegehren somit um nicht weniger als die Verfasstheit der bundesrepublikanischen Wirtschafts- und Sozialordnung.

Abendroths Plädoyer

Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang an frühere Diskussionen der Staatsrechtslehre zu erinnern. Denn in den 1950er Jahren wurde der grundgesetzliche Spielraum zur Ausgestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung erheblich weiter gefasst, als es heute gemeinhin der Fall ist.

So führte etwa der Rechtswissenschaftler Hans Peter Ipsen auf der Tagung der Staatsrechtslehrer im Jahr 1952 aus, dass es sich bei Artikel 15 GG mindestens um einen „status socialis positivus“ handelt – „zugunsten derjenigen Gruppen, [...] deren Teilhabe an der vergesellschafteten Eigentumsordnung der Produktivgüter in Frage steht und in der bisherigen Ordnung fehlt“.[6]

Der Verfassungsrechtler – und ehemalige „Blätter“-Mitherausgeber“ – Helmut Ridder betonte am gleichen Ort, dass dem Begriff der Sozialisierung das Bestreben immanent sei, „den Widerspruch zwischen der durch die Sozialifikation [die Umwandlung des Arbeitsprozesses in etwas Unpersönliches, d. A.] erzeugten sozialen Wirklichkeit und der als ungerecht empfundenen, durch die vorhandene Rechtsordnung gestützten einseitigen Machtverteilung innerhalb der Gesellschaft aufzufangen“ und im Sinne einer sozialen Gerechtigkeit auszugleichen.[7]

Auch der Politologe und Rechtswissenschaftler Wolfgang Abendroth vertrat in den 1950er Jahren den Ansatz, dass die Inhaltsbestimmung des Sozialstaatsmoments im Dreiklang des demokratischen und sozialen Rechtsstaats nur gelingen kann, wenn der demokratische Gedanke sich in der Wirtschafts- und Sozialordnung in rechtsstaatlicher Weise niederschlägt.[8]

Den rechtsstaatlichen und sozialen Gehalt sah Abendroth untrennbar mit dem Demokratiegebot verknüpft: zum einen in Art. 20 Abs. 1 GG („Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“), zum anderen in Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG („Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.“).[9]

Daraus leitet sich für Abendroth ab: Die Formulierung des Art. 28 GG spiegele aus seiner Sicht eben nicht die Überzeugung wider, dass der liberale Rechtsstaat sich aus der Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung heraushalten solle; vielmehr verweise sie darauf, dass dem Rechtsstaat ein Gerechtigkeitsmoment innewohne.[10] Daher müssten „die Sozialordnung und die wirtschaftlichen Grundlagen dieser Sozialordnung einer Umgestaltung unterworfen werden“.[11]

Ebendarauf hat auch Konrad Hesse, von 1975 bis 1987 Richter am Bundesverfassungsgericht, hingewiesen. Hesse war überzeugt, dass Besitzende und Nichtbesitzende unter den gleichen rechtlichen Bedingungen notwendig in faktischer Ungleichheit leben.[12] Auf dieser Grundlage entstünde eine Gesellschaft, in der die Nichtbesitzenden darauf angewiesen sind, dass die Besitzenden ihre Arbeitskraft kaufen, was dem Prinzip der Freiheit widerspreche.[13] Die faktische Ungleichheit könne bei einer formellen Rechtsgleichheit demnach nur dann aufgehoben werden, wenn die ungleichen sozialen Voraussetzungen beseitigt würden.[14]

Diese Überlegungen sind nach wie vor aktuell. Denn die vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass die Gewährleistung bürgerlicher Freiheiten – wie die formale Freiheit und Gleichheit eines jeden vor dem Gesetz – nicht gewährleistet, dass sich die Freiheit und Gleichheit aller auch in der sozialen Wirklichkeit fortsetzt. Stattdessen hat sich die bundesdeutsche Gesellschaft immer weiter polarisiert: Seit Anfang der 1990er Jahre verzeichnet das untere Fünftel der Lohnabhängigen reale Einkommensverluste, während das reichste Zehntel 30 Prozent reale Einkommenszuwächse verbucht.[15] Dieser Teil der Bevölkerung besitzt heute mehr als 65 Prozent des Gesamtvermögens; das reichste eine Prozent allein nahezu ein Drittel. [16]

Dass ein Mangel an materiellen Gütern eine soziale Teilhabe erschwert, hat auch das Bundesverfassungsgericht registriert. In einem Urteil aus dem Jahr 2010 hielt es fest, dass „ein Mindestmaß am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ zu gewährleisten sei.[17] Dies betrifft sowohl die Beteiligung am gesellschaftlichen Leben – etwa die Mitgliedschaft in Sportvereinen, den Besuch von Konzerten und Museen –, aber auch die Vertretung eigener Interessen in der parlamentarischen Demokratie.

Wenn aber immer mehr Menschen mit Existenznöten kämpfen, verringert sich für sie zunehmend der Raum für demokratisches Engagement. Und wenn sich zugleich immer mehr Reichtum in bestimmten sozialen Kreisen ballt, vergrößert sich damit auch deren Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse, etwa indem sie finanzstarken Lobbyismus betreiben. Auf diese Weise droht sich die soziale Schieflage zu verstetigen, wenn nicht gar zu verstärken.

Umso wichtiger aber ist es, die Überlegungen – und Befürchtungen – der frühen Staatsrechtslehre ernst zu nehmen. Das bedeutet nichts weniger, als darüber zu diskutieren, wie wir dem formalen Freiheits- und Gleichheitsbegriff einen materialen zur Seite stellen können. Die Frage lautet daher, welche Wirtschaftsbereiche der Befriedigung existenzieller gesellschaftlicher Bedürfnisse dienen sollten und daher dem Markt entzogen werden müssen.

Die Demokratisierung der Wirtschafts- und Sozialordnung

Auch dabei helfen die Überlegungen Wolfgang Abendroths weiter. Ihm zufolge ist die Formulierung des Art. 28 GG darauf angelegt, den materiellen Rechtsstaatsgedanken der Demokratie – insbesondere den Gleichheitssatz und den Selbstbestimmungsgedanken – auf die Wirtschafts- und Sozialordnung zu übertragen und ihn damit inhaltlich zu füllen.[18]

Nach Abendroth beinhaltet der Gedanke der sozialen und demokratischen Rechtsstaatlichkeit nichts weniger, als den Glauben an die immanente Gerechtigkeit der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufzugeben.[19] Stattdessen sollte deren Gestaltung den Staatsorganen, die die demokratische Selbstbestimmung des Volkes repräsentieren, überantwortet werden. Der Staat ist demnach nicht nur zur Sicherung eines Minimums an sozialer Gerechtigkeit verpflichtet, sondern obendrein dazu, seine gestaltende Tätigkeit auf die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auszudehnen.[20] Konkret bedeutet dies, den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG sowie den Selbstverwaltungsgedanken aus der politischen Ordnung in den Bereich der Wirtschaftsordnung zu übertragen – „und dass der Gesetzgeber, die Exekutive und die richterliche Gewalt mindestens die Möglichkeit, wenn nicht den Auftrag erhalten, diese Ausdehnung demokratischer Grundsätze aus dem Staatsrecht in die Beziehungen der Bewohner des Staatsgebiets (bzw. des Anwendungsbereichs des Grundgesetzes) untereinander durchzusetzen“.[21]

Das Ergebnis wäre der grundgesetzliche Dreiklang aus einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat, der dem Gesetzgeber nicht nur aufgibt, soziale Demokratie im Sinne eines staatlichen Entgegenstrebens gegen die faktische Ungleichheit herzustellen, sondern darüber hinaus das Demokratiegebot auszudehnen und die Wirtschaftsordnung zu demokratisieren – sprich, darüber nachzudenken, wie sich demokratische Mechanismen in der Wirtschaftsordnung niederschlagen können.

Für mehr Mitbestimmung – durch Betriebsräte und Gewerkschaften

Das ist weniger revolutionär, als es auf den ersten Blick scheint. Denn in der bundesdeutschen Geschichte gab und gibt es bereits solche Übertragungen: So waren und sind zum einen bestimmte Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge gesellschaftlich organisiert und zum anderen zählt die betriebliche Mitbestimmung durch Betriebsräte und Gewerkschaften dazu.

Allerdings wird in zahlreichen Wirtschaftsbereichen eine gewerkschaftliche Organisierung der Belegschaft immer schwieriger, wenn Unternehmen beispielsweise Betriebe auslagern und Leiharbeiter*innen anstelle von Festangestellten beschäftigen. Wie wichtig indes die organisierte Interessenvertretung ist, zeigt die aktuelle Debatte um bessere Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte im Gesundheitsbereich. Auch vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage der betrieblichen Mitbestimmung dringlicher denn je.

Warum es geboten ist, die öffentliche Daseinsvorsorge gesellschaftlich zu organisieren, belegt das Beispiel der Deutschen Post. Im Jahr 1995 wurde die Deutsche Bundespost in die Deutsche Post AG, die Deutsche Telekom AG und die Postbank AG umgewandelt. Diese Privatisierung ging in den Jahren von 1989 bis 2006 mit einer Kürzung von insgesamt mehr als 137 000 Arbeitsplätzen und einer Gehaltsentwicklung einher, bei der der Konzernchef der Niedriglohntochter Delivery 404 Mal mehr verdient als eine Postbotin.[22]

Erfreulicherweise ist allmählich ein Umdenken erkennbar: weg von der Privatisierung öffentlicher Bereiche hin zu neuen Ansätzen der Rekommunalisierung, wie etwa das Beispiel der Berliner Wasserversorgung zeigt – eine längst überfällige Korrektur.

Die Möglichkeit der Korrektur bietet auch die aktuelle Debatte um die landesweite Sozialisierung von Immobilienfirmen in Berlin. Die Diskussion darüber sollte uns veranlassen, die frühen Überlegungen der Staatsrechtslehre wiederzubeleben. Wolfgang Abendroths Plädoyer für einen materialen Demokratiebegriff könnte die Grundlage bilden, um das Verhältnis von Demokratie und Wirtschaft neu zu bestimmen. Dank der sozialen Bewegungen, die sich gegen Zwangsräumungen, gegen zu hohe Mieten und für die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ engagieren, ist der Raum dafür nun geöffnet.

[1] Vgl. Ulrich Zawatka-Gerlach, Volksbegehren zur Deutsche Wohnen, in: „Der Tagesspiegel“, 22.7.2020.

[3]  Vgl. Christoph Trautvetter und Sophie Bonczyk, Profitmaximierer oder verantwortungsvolle Vermieter. Große Immobilienunternehmen mit mehr als 3000 Wohnungen in Berlin im Profil, Berlin 2019, S. 8.

[4] Berlin Gemeinsam Gestalten. Solidarisch. Nachhaltig. Weltoffen – Koalitionsvereinbarung 2016-2021, S. 21.

[5] Vgl. z.B. Hans Peter Ipsen, NVwZ 2019, S. 527.

[6] Hans Peter Ipsen, VVDStRL 10 (1952), S. 103.

[7] Helmut Ridder, VVDStRL 10 (1952), S. 132.

[8] Wolfgang Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Alfred Julius Ludwig Hermann, Festschrift für Ludwig Bergstraesser, 1954, S. 279 ff., hier: S. 287.

[9] Wolfgang Abendroth, VVDStRL 10 (1952), S. 85.

[10] Ebd., S. 86.

[11] Ebd.

[12] Konrad Hesse, AöR 77 (1951/1952), S. 167, 180.

[13] Ebd. S. 184 f.

[14] Ebd. S. 167, S. 180.

[15] DGB Bundesvorstand, Löhne, Mieten, Steuern – Schieflage beseitigen! DGB Vermögensbericht 2018, S. 39 ff.

[16] Ebd.

[17] BVerfG, Urteil vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09.

[18] Abendroth, VVDStRL (10) 1952, S. 87 f.

[19] Abendroth, FS Bergstraesser, S. 300.

[20] Ebd.

[21] Wolfgang Abendroth, Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme, 71978, S. 67 f.

[22] Vgl. Sabine Nuss, Keine Enteignung ist auch keine Lösung, Berlin 2019, S. 28.

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