
Bild: Angehörige betrauern den Tod eines Menschen während seiner Beerdigung auf einem Friedhof im Norden von Rio de Janeiro, Brasilien, 13. April 2021 (IMAGO / Agencia EFE )
Es ist eine Tragödie, die sich derzeit in Brasilien abspielt: Das bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas durchlebt nicht nur die bisher dramatischste Phase der Pandemie; auch seine demokratischen Grundfesten drohen unter einem zunehmend isolierten und radikalisierten Präsidenten massiv Schaden zu nehmen. Seit im Januar in der Amazonas-Metropole Manaus die hochansteckende Coronavirus-Mutante P.1 entdeckt wurde, treibt diese die Zahl der Covid-19-Infektionen im ganzen Land rapide in die Höhe: Mit zeitweise über 100 000 Neuinfektionen pro Tag und immer neuen Rekorden bei den täglich registrierten Todesfällen steuert das Land geradewegs auf die Marke von einer halben Million Toten zu. Laut Berechnungen der Universität Washington könnte diese schon im Juni erreicht sein.[1] Längst ist angesichts dessen das eigentlich solide öffentliche Gesundheitssystem Brasiliens in den meisten Bundesstaaten zusammengebrochen. Tausende Menschen warten auf freie Betten in den Intensivstationen; viele sterben, ohne zuvor ein Krankenhaus von innen gesehen zu haben. Selbst die privaten Kliniken rationieren den Sauerstoff, während die Totengräber etwa in der Metropole São Paulo rund um die Uhr arbeiten, um die vielen Leichen zu bestatten.
Verantwortlich für diese beispiellose Gesundheitskrise ist allen voran jene Person, die dem Virus von Anfang an freien Lauf ließ: Der rechtsextreme Präsident Jair Messias Bolsonaro. Brasiliens Opposition bezeichnet ihn deshalb mittlerweile sogar als genocida, als Völkermörder.
In der Tat hätte Bolsonaros Antwort auf die Pandemie kaum zynischer ausfallen können: Von Beginn an hat er Covid-19 als „kleine Grippe“ heruntergespielt, der man entgegentreten müsse wie ein Mann. Noch im März – dem mit 66 000 Verstorbenen nach April bislang zweittödlichsten Monat der Pandemie – bezeichnete er Maskenträger als „Weichlinge“ und beschwerte sich über das allgemeine „Geheule“.[2] Und als Anfang Januar im Bundesstaat Amazonas die Infektionszahlen rasant in die Höhe schnellten und der medizinische Sauerstoff knapp wurde, reagierte die Regierung zunächst lange nicht. Stattdessen empfahl das Gesundheitsministerium den Hospitälern in Manaus, das gegen Covid-19 erwiesenermaßen unwirksame Malariamittel Chloroquin zu verabreichen.
Weil Bolsonaro die Wirtschaft um jeden Preis am Laufen halten will, spricht er sich bis heute gegen Lockdowns und Ausgangssperren aus. Und obwohl das Land über große Erfahrungen mit Massenimpfungen verfügt, verzichtete die Regierung lange auf die Planung einer Impfkampagne. Immer wieder säte der Präsident stattdessen Zweifel an den Impfstoffen und spottete, sie könnten die Geimpften womöglich in einen Kaiman verwandeln.
Zwar hat die Regierung mittlerweile Verträge über die Lieferung von Vakzinen oder deren pharmazeutischen Bestandteilen zur Herstellung etwa des chinesischen Coronavac- und des britisch-schwedischen AstraZeneca-Impfstoffs unterzeichnet, die womöglich ausreichen würden, um die Mehrheit der 210 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer zu impfen. Doch weil wertvolle Zeit vergeudet wurde und sich die Lieferungen verzögern, fehlt Brasilien momentan schlicht der Impfstoff, um die Kampagne zügig voranzutreiben. Damit steht nicht nur die Gesundheit der brasilianischen Bevölkerung, sondern der gesamten Welt auf dem Spiel. Schon jetzt deuten erste Erkenntnisse darauf hin, dass die brasilianische P.1-Mutante Genesene und womöglich auch Geimpfte erneut infizieren kann. Zudem wurden in Brasilien zwei weitere „besorgniserregende Varianten“ nachgewiesen.[3] Weil diese Viren in Bolsonaros Brasilien weitgehend ungehindert zirkulieren können, drohen neue Mutationen, gegen die der Impfschutz gar nicht mehr wirkt.
Dass im Schatten der Pandemie der Amazonas-Regenwald unaufhörlich weiter abgeholzt wird, geht derweil fast unter. Laut der internationalen Umweltplattform „Global Forest Watch“ wurden im vergangenen Jahr 1,7 Mio. Hektar der globalen Lunge durch Feuer oder Abholzung vernichtet, eine Zunahme um 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr.[4] Auch das ist eine Folge von Bolsonaros Politik, der im Interesse des Agrobusiness die Umweltgesetzgebung demontierte und damit eine der größten Kohlenstoffsenken des Planeten in eine Emissionsquelle verwandelt.
Bolsonaro unter Druck
Immerhin hat sich Bolsonaro, zumindest was die Pandemie anbelangt, zuletzt etwas gemäßigt. Mittlerweile zeigt er sich in der Öffentlichkeit öfter mit Maske und spricht sich sogar für Impfungen aus. Mehr noch: Am 23. März tauschte er den ihm treu ergebenen Gesundheitsminister Eduardo Pazuello, ein General ohne medizinische Fachkenntnisse, gegen den Kardiologen Marcelo Queiroga aus. Dieser rief umgehend zu sozialer Isolation und zum Tragen von Masken auf und berief – ein geschlagenes Jahr nach Ausbruch der Pandemie – einen nationalen Krisenstab zu deren Eindämmung ein.
Dieser zaghafte Kurswechsel ist allerdings nicht auf die gewachsene Einsicht des Präsidenten in die dringend erforderliche Pandemiebekämpfung zurückzuführen. Vielmehr ist er das Ergebnis massiven politischen Drucks.
Denn angesichts seines katastrophalen Krisenmanagements ist Bolsonaro zunehmend isoliert. Nicht nur gerät er immer wieder in Konflikt mit den Gouverneuren einiger Bundesstaaten, die strengere Isolationsmaßnahmen durchsetzen wollen. Auch in der Wirtschaft setzt sich langsam die Einsicht durch, dass jede Verlängerung der unkontrollierten Pandemie die Gewinne schmälert. In einem Brief forderten hunderte Ökonomen, Unternehmer und Banker des Landes deshalb im März deren wirksame Bekämpfung.
Vor allem aber verlangt im Kongress der Centrão, der mächtige Block aus klientelistischen Mitte-rechts-Parteien, Zugeständnisse. Auf diesen ist Bolsonaro für Gesetzesvorhaben angewiesen, weil seine Regierung über keine eigene Mehrheit im Parlament verfügt. Für den Präsidenten geht es dabei längst auch um die Absicherung seiner Macht: Über hundert Impeachment-Anträge gegen ihn liegen dem Kongresspräsidenten Arthuro Lira bereits vor. Doch auch wenn dieser indirekt mit einem Amtsenthebungsverfahren gedroht hat, sollte der Präsident die Pandemie nicht in den Griff bekommen, hält er sie bislang zurück. Soll das so bleiben, muss Bolsonaro den opportunistischen Zentrumsblock mit Posten und Pfründen bei Laune halten.
So ist nicht nur der Wechsel im Gesundheitsministerium, sondern auch die Kabinettsumbildung eine Woche später auf den Druck des Centrão zurückzuführen: Ende März entließ Bolsonaro sechs Minister, darunter neben dem Justizminister auch den umstrittenen Außenminister Ernesto Araújo, einen rechtskonservativen Fanatiker, Klimawandelleugner und Trump-Fan. Ihm wird vorgeworfen, Brasilien durch seine Angriffe gegen China, aber auch gegen die Biden-Administration international isoliert zu haben und damit Verantwortung für das Fehlen der Impfstoffe zu tragen.
Für ein regelrechtes Erdbeben sorgte indes eine andere Personalentscheidung: Im Zuge seiner Kabinettsumbildung feuerte Bolsonaro auch Verteidigungsminister Fernando Azevedo e Silva und ersetzte ihn durch Walter Braga Netto, einen General, der die Militärdiktatur, die in Brasilien zwischen 1964 und 1985 herrschte, gutheißt. Während sich Braga Netto nun für eine „politischere“ Rolle des Militärs ausspricht, hatte sich sein Vorgänger einer solchen stets widersetzt. Erst kürzlich hatte Azevedo sich dem Präsidenten entgegengestellt, als dieser öffentlich damit liebäugelte, mit Hilfe der Armee gegen die Lockdown-Pläne einiger Gouverneure vorzugehen. Stattdessen machte Azevedo klar, dass die Streitkräfte der Verfassung und nicht dem Projekt des Präsidenten verpflichtet seien. Bolsonaro wiederum bezeichnete das Militär zuletzt immer wieder als „seine Armee“.
Derartige Versuche der Einflussnahme auf das Militär beobachten viele in Brasilien mit Sorge, schließlich hat Bolsonaro in der Vergangenheit zur Genüge gezeigt, wie wenig er von der Demokratie und ihren Institutionen hält. Entsprechend groß ist die Befürchtung, er könnte in Zukunft weiter versuchen, die Streitkräfte für seine politischen Zwecke zu nutzen, etwa zur Verhinderung eines Amtsenthebungsverfahrens oder im Falle einer Niederlage bei der im Oktober 2022 anstehenden Wahl.
Allerdings ist die Unterstützung für den Präsidenten auch innerhalb des Militärs – eigentlich neben dem Agrobusiness und den evangelikalen Kirchen eine Stütze seiner Macht – nicht ungebrochen. Das zeigte sich eindrücklich, als die Oberbefehlshaber von Armee, Marine und Luftwaffe aus Protest gegen die Absetzung des Verteidigungsministers einen Tag später geschlossen zurücktraten und damit klarmachten, dass sie sich nicht von Bolsonaro instrumentalisieren lassen würden – ein einmaliger Vorgang in der Geschichte Brasiliens.
Vorbereitung auf den Putsch?
Doch auch wenn ein „Putsch“ Bolsonaros mit Hilfe des Militärs angesichts des offensichtlich gewordenen Bruchs mit dessen Führung derzeit eher unwahrscheinlich erscheint, sollte man den Präsidenten keineswegs unterschätzen: Zum einen ist es durchaus möglich, dass er seinen Einfluss auf das Militär durch den Wechsel im Verteidigungsministerium wie im Oberkommando ausbauen kann. Zum anderen hätte das Militär bei einem Machtwechsel ebenfalls etwas zu verlieren: Insgesamt 6000 Stellen in der öffentlichen Verwaltung sind mit Armeeangehörigen besetzt, mehr als zu Zeiten der Militärdiktatur. Schließlich genießt Bolsonaro, der selbst ein ehemaliger Fallschirmjäger ist, vor allem in den unteren Kommandorängen des Militärs und besonders bei der Militärpolizei großen Rückhalt. Und seiner Familie wird eine Nähe zu den mächtigen bewaffneten Milizen in Rio de Janeiro nachgesagt, die sich zum Teil aus ehemaligen und aktiven Polizisten rekrutieren. Alle diese Kräfte könnte Bolsonaro mobilisieren, sollte er weiter in die Enge getrieben werden.
Genau das aber ist derzeit der Fall: Anfang April ordnete das Oberste Gericht in Brasilien die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Aufarbeitung möglicher Versäumnisse der Regierung beim Corona-Krisenmanagement an. Und angesichts der immer lauter werdenden Forderungen nach einem Amtsenthebungsverfahren sagte Bolsonaro Mitte April: „Nur Gott entfernt mich vom Präsidentensessel.“[5]
Viele befürchten angesichts dessen ein Szenario ähnlich oder schlimmer dem in den USA nach der Wahlniederlage von Donald Trump – auch deshalb, weil Bolsonaro schon länger grundlos Zweifel an der Zuverlässigkeit des elektronischen Wahlsystems sät. Damit gibt er unmissverständlich zu verstehen, dass er das Wahlergebnis im kommenden Jahr nur akzeptieren wird, wenn er der Sieger ist. Aufhorchen lassen vor allem die Äußerungen des Präsidentensohns und Kongressabgeordneten Eduardo Bolsonaro. Nach dem Sturm von Trump-Anhängern auf das Washingtoner Kapitol im Januar sagte er in einem Interview: „Wäre die Bewegung organisiert gewesen, hätten sie das Kapitol eingenommen und ihre Ansprüche geltend gemacht.“[6] Auch Bolsonaro selbst zog damals bereits den Vergleich zu den USA. Sollte er nach einer Wahlniederlage seinen Worten Taten folgen lassen – und seine radikalen und womöglich bewaffneten Anhänger zum Widerstand aufrufen –, könnte das der brasilianischen Demokratie den Todesstoß versetzen.
Lula als Gamechanger?
Momentan jedenfalls sieht Bolsonaro sein Projekt einer zweiten Amtszeit nicht nur aufgrund des gewachsenen Drucks aus Wirtschaft, Parlament und Militär, sondern noch aus einem weiteren, entscheidenden Grund in Gefahr: Am 8. März hob ein Richter des Obersten Gerichtshofes alle Korruptionsurteile gegen den sozialdemokratischen Expräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva auf – und ermöglichte damit genau jenem Politiker sein Comeback, der Bolsonaro wie kein anderer herauszufordern vermag. Erste Umfragen sehen Lula, der bereits ankündigte, bei der Wahl 2022 anzutreten, mit 34 Prozent knapp vorn. Und schon jetzt setzt er alles daran, Bolsonaro für die vielen Corona-Toten verantwortlich zu machen. Doch ein Wahlsieg Lulas ist keinesfalls ausgemacht. Bolsonaros Zustimmungswerte sind zwar zuletzt gesunken, auch angesichts von Wirtschaftskrise, wachsender Arbeitslosigkeit, Armut und Inflation. Dennoch unterstützt ihn noch immer gut ein Drittel der Bevölkerung. Schon während der ersten Corona-Welle konnte Bolsonaro einen größeren Popularitätsverlust vermeiden, weil seine Regierung umfangreiche Nothilfen für die Ärmsten zahlte, von denen im letzten Jahr 60 Millionen Menschen profitierten. Diese wurden nun ab April, wenn auch in deutlich geringerem Umfang, erneut aufgelegt. Überdies ist der Ex-Gewerkschafter Lula bei einem großen Teil der Wähler, speziell in konservativen und wohlhabenderen Kreisen verhasst; viele fürchten nichts mehr als einen Linken an der Staatsspitze. Und auch wenn Teile der Wirtschafts- und Finanzelite des Landes sich von Bolsonaro zügigere wirtschaftsliberale Reformen erhofft hatten, könnten sie sich am Ende für ihn als das kleinere Übel entscheiden. Zugleich ist es für Lula nicht leicht, das von seinen Gegnern über Jahre aufgebaute Stigma der Korruption, das ihm und seiner Arbeiterpartei PT anhaftet, wieder abzustreifen.
Fest steht somit bisher nur eines: Ein Duell zwischen Lula und Bolsonaro würde Brasilien maximal polarisieren, was sich für den Präsidenten und seine Strategie der Eskalation als echtes Geschenk erweisen könnte. Denn dann könnte er den verbreiteten Hass auf die Arbeiterpartei weiter schüren und sich als Retter Brasiliens vor dem „Kommunisten Lula“ inszenieren.
[2] Zit. nach Thomas Fischermann, Bolsonaros neue Maske, www.zeit.de, 29.3.2021.
[3] Vgl. Interview mit Margareth Dalcolmo, www.ipg-journal.de, 13.4.2021.
[4] Vgl. Manfred Ronzheimer, Regenwälder in Flammen, www.taz.de, 31.3.2021.
[5] Bolsonaro sobre impeachment: „Só Deus me tira da cadeira presidencial”, www.metropoles.com, 15.4.2021.
[6] Zit. nach Tjerk Brühwiller, Was tut Bolsonaro, wenn er die Wahl verliert?, www.faz.net, 11.4.2021.