Ausgabe Juli 2023

Hass, Hetze, Gewalt: Mexiko als Vorposten der Abschottung

Migrant:innen aus Zentralamerika auf ihrem Weg zur US-Grenze in Tapachula, Chiapas, Mexiko, 24.4.2023 (IMAGO / ZUMA Wire / Hector Adolfo Quintanar Perez)

Bild: Migrant:innen aus Zentralamerika auf ihrem Weg zur US-Grenze in Tapachula, Chiapas, Mexiko, 24.4.2023 (IMAGO / ZUMA Wire / Hector Adolfo Quintanar Perez)

Ciudad Juárez, Mexiko, 27. März 2023: Auf dem Video der Überwachungskamera des Abschiebegefängnisses schlagen Flammen aus der Zelle. Drei uniformierte Männer verlassen zügig, aber ruhig, den Vorraum. Keiner von ihnen macht Anstalten, die Sammelzelle aufzuschließen. Kurze Zeit später ist die Rauchentwicklung so heftig, dass sie die Sicht der Kamera versperrt. Die Feuerwehr wird nicht zu Hilfe gerufen, sondern entdeckt den Brand zufällig. Die Einsatzkräfte brechen die Zellentür auf und bergen 39 Tote und 29 Schwerverletzte aus dem überbelegten, fensterlosen Raum. Ein Überlebender erliegt ein paar Tage später seiner Rauchvergiftung im Krankenhaus. Die betroffenen Geflüchteten aus Guatemala, El Salvador, Venezuela, Honduras, Kolumbien und Ecuador waren am selben Tag bei Razzien auf den Straßen der Grenzmetropole zu Texas aufgegriffen worden. Die festgenommenen Frauen wurden angesichts der Brandentwicklung aus ihrer Zelle befreit, die Männer nicht. Vermutlich haben sie selbst das Feuer entfacht, um gegen ihre Haft zu protestieren. Sie hatten weder Wasser noch Essen bekommen und sollten abgeschoben werden, obwohl viele von ihnen über eine Aufenthaltsgenehmigung verfügten.

Massaker an Personen in Haft oder unter haftähnlichen Bedingungen, bei denen Zuständige nicht die Tür öffnen und den Tod Dutzender Menschen durch Verbrennen und Ersticken bewusst in Kauf nehmen, sind in der mesoamerikanischen Region eine traurige Konstante, wie die Gefängnisbrände in Honduras in den Jahren 2004 und 2012 und der Brand in einem staatlichen Mädchenheim in Guatemala vor fünf Jahren zeigen. Im Transitland Mexiko prangern Nichtregierungsorganisationen wie auch die staatliche Menschenrechtskommission seit Jahrzehnten die Bedingungen in den Abschiebegefängnissen an. Vor zwei Jahren erreichten sie dadurch immerhin, dass Minderjährige nicht mehr eingesperrt werden dürfen. Trotzdem haben sich in Mexiko während der Pandemie in Abschiebegefängnissen mehrfach Brände unter Umständen ereignet, die denen in Ciudad Juárez gleichen. In der Stadt Tapachula im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas kam dabei bereits eine Person ums Leben. Und exakt die gleiche Szenerie wie am 27. März im Abschiebegefängnis in Ciudad Juárez hatte sich bereits vier Jahre zuvor am selben Ort abgespielt. Damals allerdings war die Zelle sofort aufgeschlossen worden. Dass es bei dem jüngsten Brand anders verlief, zeigt, wie sehr sich die Situation der Migrant:innen in Mexiko in den letzten Jahren verschärft hat. Und das wiederum ist maßgeblich auch auf die Entwicklungen der US-Migrationspolitik zurückzuführen.

Denn in dieser Zeit kam es auf Seiten der USA zu einer faktischen Aushebelung des Rechts auf Asyl: Mit Beginn der Pandemie im März 2020 setzte Ex-Präsident Donald Trump das gesundheitspolitische Dekret Title 42 in Kraft. Von der US-Border-Patrol aufgegriffene Geflüchtete aus Lateinamerika konnten damit direkt nach Mexiko zurückgeschoben werden, ohne zuvor die Möglichkeit zu erhalten, um Asyl zu bitten[1] – ein Präzedenzfall seit der Verankerung des Asylrechts in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen im Jahr 1948. Damit verschärfte sich die Abhängigkeit der migrierenden Menschen von den mächtigen mexikanischen Drogenkartellen, die mittlerweile sämtliche Schleusertätigkeiten in der Region in Richtung USA als teilweise lukrativere Einnahmequelle als der Drogenhandel selbst übernommen haben, und zusätzlich wird die Migration durch Gerüchte über Gesetzesänderungen in den USA noch befeuert.

Das stellte die Menschen, die sich während der Pandemie vor allem in Mittelamerika mit einem Einbruch der Arbeitsmärkte, einer verstärkten Militarisierung und Repression sowie zunehmendem autoritären Gebaren ihrer Regierungen etwa in El Salvador und Nicaragua[2] konfrontiert sahen, vor enorme Herausforderungen. Die Mehrheit dieser Bevölkerungen arbeitet im informellen Sektor und verdient am Tag, was sie zum Leben braucht. Hunger und eine fortschreitende Verarmung sorgten für einen Exodus in Richtung Norden, ohne Aussicht auf Asyl im Zielland USA.

Zugleich sahen sich viele Menschen in Mexiko selbst im Zuge der Pandemie mit Machtverschiebungen innerhalb der mexikanischen Kartelllandschaft konfrontiert. Vor allem aus Michoacán zogen Tausende Binnenflüchtlinge angesichts von Zwangsrekrutierungen und Gewalt an die mexikanische Grenze. Deren Rückschiebung war besonders dramatisch, da sie die an der Grenze operierenden Kartelle und deren Vernetzung gen Süden fürchten mussten. Auch die vor Gewalt, fehlender Gesundheitsversorgung und aufgrund von Armut aus Haiti fliehenden Menschen saßen durch den Title 42 in den mexikanischen Grenzstädten fest, die in diesen Jahren als die gefährlichsten Städte der Welt galten. 

Während die mexikanische Regierung die Rückschiebungen aus den USA unter dem Title 42 hinnahm, gab es für die Grenzstädte keine entsprechende finanzielle und logistische Unterstützung, um diese Herausforderung zu meistern. In Ciudad Juárez verhinderte in dieser Zeit nur ein Netzwerk aus katholischen und evangelikalen Herbergen und ein erfolgreicher Dialog mit Unternehmern und allen drei Regierungsebenen eine humanitäre Krise. Aus der Zivilgesellschaft kamen auch die Initiative zur Schaffung einer Erstanlaufstelle („Catedral”) und einer Quarantänestation („Hotel Filtro”) für an der Grenze ankommende Geflüchtete und aus den USA Zurückgeschobene, um mit einem Gesundheitszertifikat in einer der hermetisch abgeriegelten Herbergen aufgenommen zu werden. Immer mehr Menschen fanden sich so in den letzten Jahren völlig mittellos und ohne Unterstützung in der Grenzmetropole Juárez ein und hofften auf eine kurzfristige Änderung der Gesetzeslage. Denn der seit 2021 regierende US-Präsident Joe Biden versuchte mehrfach, den von seinem Vorgänger Trump eingesetzten Title 42 zurückzunehmen. Doch er wurde das gesamte Jahr 2022 über durch die Urteile von den Republikanern wohlgesinnten Bundesrichtern gestoppt.

Digitale Zitterpartie: Asylverfahren via Smartphone

Erst im April bestätigte Biden schließlich das Ende des Title 42 für den 11. Mai dieses Jahres; zugleich kündigte er aber auch die vollständige Digitalisierung des Asylverfahrens an, eine umfangreiche Wiederaufnahme von Abschiebungen und eine Bestrafung der illegalen Einreise. Entgegen seinem Wahlkampfversprechen führt er damit die Abschottungspolitik seines Vorgängers Trump de facto fort. Mit der Entscheidung begann ein Run auf die Grenzstädte; alle, die sich auf Reisen durch den Kontinent gen Norden befanden, versuchten, vor diesem Datum an die Grenze zu gelangen. Entsprechend stieg die Zahl der in Herbergen, Ruinen sowie in einem Zeltlager vor dem Abschiebegefängnis lebenden Menschen in Ciudad Juárez sprunghaft von geschätzten 12 000 auf mindestens 35 000 Personen an.

Die Stimmung unter den Geflüchteten wandelte sich vom Warten auf das Ende des Title 42 in Panik vor dem, was danach kommen konnte. So lieferten sich bis zum letzten Tag Tausende der US-Border-Patrol aus, die die Menschen nach langen Wartezeiten in der Wüstensonne tatsächlich einließen. Die Betroffenen hofften, unter Ausnahmeregelungen zu fallen und im Zweifelsfall jeweils nur nach Mexiko anstatt bis in ihr Herkunftsland ausgewiesen zu werden, was all ihre Strapazen, Risiken, Verluste und Investitionen in Schlepper auf einen Schlag zunichte gemacht hätte.

Seit dem 11. Mai gilt nun für die Migrant:innen der Title 8, sprich: Wer es nicht schafft, vor Antritt seiner Reise über eine mobile App namens CBP One einen Asylantrag zu stellen, wird aus den USA sofort wieder in sein Herkunftsland abgeschoben – ohne Prüfung des Rechts auf Asyl. Lediglich Geflüchtete aus Kuba, Venezuela und Nicaragua werden wie gehabt nach Mexiko zurückgeschoben, da die USA zu diesen Ländern weiterhin keine diplomatischen Beziehungen unterhält. Das Gleiche gilt für Haiti, das die USA als Failed State definieren. Täglich können nun etwa 3000 Menschen entlang der Grenze ein erstes Interview führen. Wer aber nicht mit der App einreist, sondern illegal die Grenze übertritt und sich dann ausliefert oder aufgegriffen wird, ist für ein Asylverfahren fortan disqualifiziert.

Die App CBP One hatte die Biden-Regierung indes bereits im Januar – offenbar in einer Testphase – gestartet und damit viele zumeist mittellose Migrant:innen einer extrem prekären Situation ausgeliefert. Ein geladenes Smartphone, seine Bedienung mit gekauften mobilen Daten und das Verständnis der spanischen Sprache in Wort und Schrift wurden damit zur Voraussetzung für einen Asylantrag und die einzige Chance, auf legalem Weg in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Doch in den ersten Monaten des Jahres war die App zumeist völlig überlastet und nur wenige Minuten am Tag nicht blockiert. Hinzu kam, dass die Seiten der App fehlerhaft ins Spanische übersetzt und viele Formulierungen uneindeutig waren. Für viele Migrant:innen begann eine digitale Zitterpartie mit wenig Aussicht auf Erfolg. Überall in Ciudad Juárez sah man nun Geflüchtete, die sich mit ihrem Mobiltelefon an Internet-Hotspots oder Ladestationen aufhielten. Für alle, die auf die App hofften, war es unmöglich, eine Arbeit im informellen Sektor zu suchen, da sie den ganzen Tag online sein mussten.

Speziell für Geflüchtete aus Venezuela, die sich angesichts von Armut und Chancenlosigkeit in ihrem Heimatland auf die gefährliche Reise durch die Landenge des Darién zwischen Kolumbien und Panamá an die Südgrenze der USA aufgemacht hatten und die sich seit Ende vergangenen Jahres vermehrt in der Stadt sammelten, war dies besonders schwer. Als relativ neue Migrationsbewegung konnte diese Gruppe im Vergleich zu mittelamerikanischen oder kubanischen Migrant:innen zum einen nicht auf die finanzielle Unterstützung von in den USA etablierten Familienangehörigen zählen. Zum anderen nahm die augenscheinlich klassizistische Ablehnung in der Bevölkerung von Menschen aus Venezuela, die an den Verkehrskreuzungen der mehrspurigen Boulevards Windschutzscheiben putzten und Geld erbaten, deren Haut auf den Fußmärschen durch den Darién, von Zugfahrten durch Mexiko und durch das Campen am Grenzfluss verbrannt, deren Körper vom Hunger ausgemergelt und die Kleidung auf der Reise abgenutzt worden war, in den ersten Monaten des Jahres immer weiter zu. Und das obwohl sich die 1,5 Millionen Einwohner:innen zählende Industriemetropole durch den ständigen Zuzug von Menschen zur Arbeit in den Weltmarktfabriken an der US-Grenze gebildet hatte und man eigentlich Hilfsbereitschaft erwarten müsste. Doch während die mehrheitlich selbst migrantischen Familien ab 2019 die mittelamerikanischen und karibischen Communities ohne große Vorbehalte aufgenommen hatten, wuchs nun auf einmal die rassistische Ablehnung der Menschen aus Venezuela. Ihre Abhängigkeit von der App CBP One wurde gegen sie ausgelegt; sie hätten keine Lust zu arbeiten, säßen die ganze Zeit nur am Handy und gingen dann betteln, hieß es vielerorts.

Zugleich waren Geflüchtete aus Mittel- und Südamerika zunehmend von Polizeigewalt betroffen. Das Menschenrechtszentrum „Paso del Norte“ dokumentierte die Aussagen unzähliger von der Lokalpolizei verschleppter Geflüchteter, die in Lagerhallen gefoltert und mit dem Tode bedroht werden, um Geld von deren Verwandten zu erpressen. Die Kartelle, die angesichts fehlender legaler Möglichkeiten zum Grenzübertritt ein Millionengeschäft mit klandestinen Alternativen machen, gingen ihrerseits über Leichen. In Juárez und im angrenzenden Juáreztal verschwanden laut der Organisation immer wieder Geflüchtete, denen Schlepper versprochen hatten, sie über die Grenze zu bringen.

Im März drangen Polizisten gleich zweimal in die Flüchtlingsanlaufstelle unterhalb der Kathedrale in Ciuadad Juárez ein und versuchten, venezolanische Geflüchtete zu verschleppen. Diese demonstrierten daraufhin im Zentrum der Stadt gegen Misshandlungen und Einschüchterungen durch Beamt:innen der Migrationspolizei. Schließlich versuchten Hunderte verzweifelt, über die Grenzbrücke Santa Fé zu stürmen, wurden aber von der US-Nationalgarde gestoppt. Einen Tag später verbot die Stadtregierung von Ciuadad Juárez das Betteln an Verkehrskreuzungen. Am 27. März wollte man das Verbot auch durchsetzen, Lokal- und Migrationspolizei führten Razzien durch. An diesem Abend kam es zum Massaker im Abschiebegefängnis. 

Es ist das Stigma der Kriminalisierung, mit dem sowohl die ideelle Entrechtung der betroffenen Personen als auch ihre reelle Auslöschung gerechtfertigt werden. Dabei sind es vielfach die Umstände, die die Menschen in Prekarität und Illegalität treiben: Die Region ist von Straflosigkeit und Korruption geprägt, gewählte Regierungen kooperieren oft eng mit Drogenkartellen und unzählige Menschen leiden unter Marginalisierung, Chancen- und Perspektivlosigkeit sowie Zwangsrekrutierungen durch kriminelle Banden.

Obwohl all das bekannt ist, verstummte der Hass in der Bevölkerung gegenüber Menschen aus Venezuela mit dem Massaker keineswegs. In den sozialen Netzwerken waren Aussagen wie „Ihr werdet alle brennen” zu lesen; in einem Gebäude, in dem Geflüchtete bis heute selbstorganisiert leben, wurde Feuer gelegt und eine Bewohnerin aus dem ersten Stock geworfen. Die rassistischen Motive mischen sich hier zudem mit territorialen Interessenkonflikten, denn die von den Geflüchteten bewohnten, ehemals leerstehenden Gebäude im Zentrum sind als Drogenumschlagplatz und Konsumort unter Kleindealern des Juárezkartells aufgeteilt. Lediglich die Migrant:innen selbst und vereinzelte linke Kollektive in der Stadt erhoben im Anschluss an das Massaker die Forderung nach kollektiver Erinnerung und Gerechtigkeit.

Militarisierung und Abschottung statt Gerechtigkeit

Zwar ließ der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador kurz darauf Ermittlungen einleiten, doch das Verfahren wirkt wenig vertrauenswürdig: Während einer der Hauptverdächtigen, der Leiter der mexikanischen Migrationspolizei, Francisco Garduño, erst Wochen später seines Postens enthoben wurde – in denen er Zeit hatte, Beweise zu vernichten und Zeugen zu beeinflussen –, wurden zwei überlebende Venezolaner angeklagt und andere Überlebende nicht als Nebenkläger:innen anerkannt. Zudem wurde Juan Carlos Meza, Chef der „Grupo Beta“ von Ciudad Juárez, einer mit rein humanitären Aufgaben betrauten Untereinheit der Migrationspolizei, ebenfalls in Untersuchungshaft verbracht. Dabei ist Meza allen, die in Juárez mit Geflüchteten arbeiten, aufgrund seiner außergewöhnlich humanitären Einstellung bekannt. 

Eine Haltung, die Francisco Garduño und sein ebenfalls angeklagter Kollege Salvador González, ein Angehöriger der Streitkräfte, kaum teilen dürften. Hatte Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) bei seinem Amtsantritt die Posten in der Migrationspolizei noch vor allem mit Akademikern aus der Zivilgesellschaft besetzen lassen, um eine Menschenrechtsvision im Instituto Nacional de Migración zu verankern, wurden diese unter dem Druck Trumps ab 2019 gegen Militärs ausgetauscht. Trump hatte, als sich im selben Jahr die ersten Migrant:innenkarawanen von Mittelamerika nach Norden in Bewegung setzten, Mexiko mit der Anhebung der Handelszölle – und damit dem Einbruch der Märkte – gedroht. Die Regierung Lopez Obrador sah sich daraufhin gezwungen, Trumps Remain-in-Mexiko-Programm zu akzeptieren, mit dem das US-Asylverfahren ins Nachbarland verlagert wurde. Menschen aus Lateinamerika mussten ihren Asylantrag fortan an den Grenzbrücken in die USA stellen und dann ein erstes Interview und schließlich Gerichtstermine in Mexiko abwarten. Zeitgleich kam es, parallel zur verstärkten Abschottungspolitik der USA, zu einer Militarisierung der mexikanischen Migrationspolitik. Die von López Obrador geschaffene Militärpolizei wurde an die Südgrenze zu Guatemala geschickt, um schon dort Migration in Richtung Norden abzuwehren.

Parallel zur jüngsten Gesetzesänderung in den USA unter Biden kündigte die mexikanische Migrationspolizei nun abermals eine Verschärfung an: nämlich das Ende der Vergabe von Transitdokumenten an Migrant:innen bei einer gleichzeitigen schnellen Abschiebung aus Mexiko. Sie begründete dies auch mit der unhaltbaren Situation in den mexikanischen Abschiebegefängnissen. Allein im letzten halben Jahr hat Mexiko 80 000 Transitvisa vergeben. Und vor dem Ende des Title 42 versuchten noch einmal 50 000 Menschen in der südlichen Grenzstadt Tapachula ein solches zu erhalten, um legal durch Mexiko reisen zu können. Die Biden-Regierung wiederum hat unterdessen damit begonnen, ihre Asylverfahren noch weiter nach Süden zu verlagern: Anfang Juni kündigte sie gemeinsam mit der guatemaltekischen Regierung die Eröffnung von Asylantragszentren in Guatemala an. Diese sollen auch in Kolumbien geschaffen werden und Menschen auf der Flucht schon weit vor der US-Grenze abfangen.

All das zeigt: Migration und Flucht wird in Mexiko und den USA mit Militarisierung und Abschottung begegnet; Asylverfahren werden digtialisiert und nach Süden ausgelagert. Anstatt humane Antworten auf eine humanitäre Herausforderung zu suchen, werden durch diese diskriminierende Praxis Menschen extrem vulnerablen Situationen ausgeliefert. Außer Acht gelassen wird dabei die aktuelle, jahrzehnte- und sogar jahrhundertealte Einflussnahme der USA in Lateinamerika, die eine gerechtere Verteilung von Land und Ressourcen immer wieder vereitelt und in der letzten Zeit vor allem dazu geführt hat, dass autokratische Regierungen demokratische Prozesse und Institutionen aushebeln, Kartelle in Machtsphären der Regierungen vordringen und diese kontrollieren. Diese Dynamiken tragen über Narcogewalt, Vertreibungen, Landraub, Straflosigkeit und Repression einmal mehr zu dem Exodus gen Norden bei. An diesen Ursachen der Migration gilt es anzusetzen; andernfalls wird die massenhafte Migration auch in den kommenden Jahren weitergehen – ebenso wie das Leid der Geflüchteten an den Grenzen.

[1] Tatsächlich wurden Festgenommene oft von einer Grenzstadt in eine andere geflogen. Vermutlich, um Schleppernetzwerke zu durchbrechen, die oftmals ein Paket von mehreren Grenzübertritten anbieten, und um Geflüchtete zu demotivieren, sie zu vereinzeln und finanziell zu ruinieren.

[2] Vgl. Erika Harzer, Nicaragua: Die Spirale der Unterdrückung, in: „Blätter“, 6/2023, S. 31-34.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

USA vs. Brasilien: Zollkrieg als Geopolitik

von Frederico Füllgraf

Der Zollkrieg der USA gegen Brasilien hat nicht in erster Linie wirtschaftliche, sondern zuvörderst politische Gründe: Zum einen regiert in Brasilien mit Luiz Inácio Lula da Silva ein Politiker der Arbeiterpartei PT, zum anderen geht die brasilianische Justiz seit dem von Ex-Präsident Jair Bolsonaro angezettelten Putschversuch vom 8. Januar 2023 entschieden gegen den Rechtsextremismus im Land vor.

Chile: Leere Versprechen für die Indigenen?

von Malte Seiwerth

Am 1. Juni hielt der chilenische Präsident Gabriel Boric zum letzten Mal seine jährliche Rede vor den beiden Parlamentskammern des südamerikanischen Landes, eine Tradition, die seit 1833 gepflegt wird. Nach dreieinhalb Jahren im Amt wirkte seine Rede bereits wie ein Abschied.

Ecuador: Mit Mini-Trump zum Mafiastaat?

von Frank Braßel

Der klare Sieg von Daniel Noboa bei der ecuadorianischen Präsidentschaftswahl am 13. April war eine Überraschung: Mit knapp 56 Prozent der Stimmen landete der amtierende Präsident in der Stichwahl deutlich vor seiner Konkurrentin von der Partei des ehemaligen linkspopulistischen Präsidenten Rafael Correa.

Sheinbaum versus Trump: Glücksfall für Mexiko?

von Anne Haas

Ist es ein gutes Zeichen, heutzutage von US-Präsident Donald Trump gelobt zu werden? Diesen „Ritterschlag“ erhielten bisher nur männliche Rechtspopulisten wie Javier Milei, Nayib Bukele oder Jair Bolsonaro. Dass nun der als links geltenden mexikanischen Präsidentin Claudia Sheinbaum diese Ehre gleich mehrmals zuteilwurde, hat auch die internationale Presse bewegt.