Im Bereich der Humanwissenschaften beherrscht ein Buch den literarischen Spätsommer in Frankreich: La mémoire, l’histoire, l’oubli – Erinnerung, Geschichte, Vergessen – von Paul Ricoeur.[1] Der 87jährige Philosoph hat auf knapp siebenhundert Seiten noch einmal ein weitausholendes Werk vorgelegt. Von einer Phänomenologie der Erinnerung führt ein langer Weg über eine Erkenntnistheorie der Geschichtswissenschaft, eine Betrachtung über die condition historique des Menschen und über das Vergessen zu den abschließenden, religionsphilosophischen Überlegungen zur Vergebung. Die Zeitschriften „Esprit“ und „Magazine littéraire“ haben das Ereignis mit Sondernummern begleitet, und mehrere andere („Le Monde des débats“, „Philosophie“) brachten „Dossiers“ mit Vorabdrucken und Kommentaren; Alain Finkielkrauts Rundfunkreihe „Répliques“ widmete ihre erste Sendung nach der Sommerpause Paul Ricoeur. Der Auslieferung des Buches Anfang September gingen am 13. Juni ein stark applaudierter, zusammenfassender Vortrag im großen Auditorium der Sorbonne (in der Reihe der von der École des hautes études en sciences sociales veranstalteten Marc Bloch-Vorlesungen) und eine leicht gekürzte Veröffentlichung des Vortragstextes in „Le Monde“ (15. Juni) voraus.
In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn.