Unter in Deutschland lebenden Juden ist die Identitätsfrage nach wie vor anhängig. Will man sich als "jüdischer Deutscher", "deutsche Jüdin" oder als "Juden in Deutschland" verstehen? Während "jüdischer Deutscher" nach wie vor an die gescheiterten Assimilationsversuche von Kaiserreich und Weimar erinnert, assoziiert man zu "deutsche Jüdin" gerne das so genannte kulturelle Symbioseprojekt, das Gerschom Scholem schon vor Jahren für gescheitert erklärte. "Juden in Deutschland" hingegen scheint sowohl der realen Lage als auch dem Selbstverständnis der hiesigen Juden am ehesten zu entsprechen. Von den etwa einer halben Million vor dem Krieg in Deutschland lebenden Juden hatten nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland etwa 20 000 überlebt, weitere 250 000 meist polnische Juden waren von der SS aus den östlichen Konzentrationslagern nach Westen getrieben worden und wurden hier von den Allierten befreit. Die Wiedergründung der Gemeinden, die von wenigen überlebenden deutschen Juden und den in Deutschland hängen gebliebenen displaced persons oft genug nur technisch, als Gründung sog. "Liquidationsgemeinden" betrieben wurde, vermochte weder zu einem ungebrochenen Selbstverständnis noch gar zu einem gedeihlichen Sozialleben zu führen.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.