Die Erinnerungskultur des vereinten Deutschlands
Gedenktage sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Sie beginnen immer früher und dauern immer länger. Tatsächlich handelt es sich immer öfter eher um Gedenkwochen. Publikum und Akteure der Erinnerungskultur sind schon lange daran gewöhnt, dass – ich übertreibe nur wenig – einem beim Aufschlagen der Zeitung fast täglich ein NS-Jahrestag begegnet. Inzwischen häufen sich aber auch Diagnosen, die von „Abnutzungserscheinungen“ 1 der Erinnerungskultur sprechen, manche sehen ein „inflationäres Gedenken“. 2
Leben wir also, um den Gedanken zuzuspitzen, heute schon in einer kommoden Erinnerungskultur? Und in welchem Verhältnis stehen die an und mit politischen Gedenktagen vermittelten Geschichtsbilder zur Gegenwart? Ist daran noch irgendetwas eine Zumutung, gar eine Provokation?
Eine „kommode Erinnerungskultur“ soll jene Kultur öffentlichen Erinnerns und Gedenkens heißen, die den Akteuren und dem Publikum wenig Unangenehmes aus dem historischen Schreckensfundus zumutet, die es sich bequem macht in Geschichtsbildern, deren moralische und politische Stacheln immer kleiner, immer stumpfer und immer folgenloser sind. Solch eine gemütliche Erinnerungskultur, solch ein müheloses Gedenken tut niemandem weh. Über die Ursachen und die Motive der Beteiligten ist damit noch nichts gesagt.
Ich verwende den Begriff der „kommoden Erinnerungskultur“ ausdrücklich im neutralen Sinne.