Ausgabe Januar 2014

Der Monolith

Immer wenn ein Großer geht, zeigt sich die Mediokrität unseres Zeitalters. Nelson Mandela ragte wie ein Monolith aus dem heroischen 20. Jahrhundert in unsere glücklich postheroische Ära. Bereits seine große Rede im Angesicht der Todesstrafe aus dem Jahre 1964, sein Plädoyer gegen die weiße wie die schwarze Herrschaft in Südafrika, vor allem aber seine ungeheure Versöhnungsbereitschaft nach 27 Jahren Kerker zeugen von einer Größe, die man in unseren Breiten lange suchen muss. Zweifellos steht er in einer Reihe mit Mahatma Gandhi und Martin Luther King, denen man von deutscher Seite aus der zweiten, glücklichen Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl allenfalls (wenn auch vorsichtig) Willy Brandt hinzufügen wollte.

Doch vielleicht mehr noch als das politische Leben eines Staatsmannes erbringt sein Leben danach den Beweis wahrer Größe. Im Rückzug erweist sich der Held. 1990 aus der Haft entlassen, wurde Mandela 1994 zum ersten schwarzen Präsidenten des Landes gewählt. 1999, nach nur einer Amtszeit, setzte er sich zur Ruhe[1] – abgesehen von einigen heftigen Interventionen gegen George W. Bush zu Beginn des Irakkrieges, doch ohne je seinen politischen Ruhm zu ökonomisieren.

Mandela der Monolith – der Stein aus einem Guss. Was für ein Unterschied zu unseren Verbalheroen, insbesondere den späten Helden von ’68! Mit leichter Hand versilbern sie ihren politischen Nachruhm. Der eine als besserer Handlungsreisender eines „lupenreinen Demokraten“ (Gerhard Schröder über Wladimir Putin), der andere, Joschka Fischer, als Cheflobbyist für BMW, Siemens und RWE – all jene also, die er zuvor angeblich so vehement bekämpfte. Ob als Hauptredner der Daddel-Lobby, des Spielautomaten-Herstellers „Löwen Entertainment“, oder bei der Abholung seines neuen BMW i3, des „ersten emissionsfreien Autos“ (bereits heute ein Video-Hit auf YouTube) – der Ex-Revoluzzer Fischer ist sich für nichts zu schade.

Hier beweist sich die Richtigkeit der Beobachtung eines anderen Toten des Jahres 2013, des großen Journalisten Jürgen Leinemann. „Keine Werteskala, keine Prioritäten-Hierarchie, kein inneres Geländer und kein äußeres. Nur Ehrgeiz. Und Chuzpe.“ So charakterisierte der „Spiegel“-Porträtist im Jahr 2004 seinen Freund Gerhard Schröder. Später, in seinem Buch „Höhenrausch“, verallgemeinerte Leinemann diese Beobachtung auf die Politiker seiner ganzen Generation. Sie seien aufgewachsen in einer „eigentümlichen Art von Selbstbesessenheit, die gesellschaftliche Wirklichkeit nur als Kulisse für die eigene Bedeutung wahrzunehmen gelernt hatte“. 

Tatsächlich bleibt es ein erstaunliches Phänomen – und gleichzeitig ein Armutszeugnis –, dass mit Schröder und Fischer zwei reine Machtmenschen und Ego-Shooter diese doch so politische Generationen bei ihrem Marsch durch die Institutionen an ihr „Ziel“ – die Regierung, war es das? – bringen mussten.

Joschka Fischer hat schon recht, wenn er sein jüngstes BMW-Video „ein Statement“ nennt. Es ist ein Statement – doch nicht über die Qualität des Autos, sondern über die Dürftigkeit seines Werbeträgers. Der Ex-Außenminister bezeichnet sich bekanntlich selbst gerne als den „letzten Rock’n’Roller der Politik“. Verglichen mit dem Monolithen Mandela ist der Rocker allenfalls ein Kieselsteinchen.

 

[1] Zur Lage nach Mandela vgl. Hans Brandt, Der gespaltene Regenbogen. Südafrikas Ringen um ein geeintes Land, in: „Blätter“, 8/2013.

 

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