Ausgabe Oktober 1990

Abschlusserklärung des Gipfels der sieben Ärmsten vom 8. Juli 1990 (Wortlaut)

Parallel zu dem Treffen von Vertretern der sieben größten Industrienationen (G-7) in Houston vom 9. bis 11. Juli 1990 fand ein Gegengipfel - "The Other Economic Summit" - statt. In dessen Rahmen versammelte sich zum zweitenmal ein "Gipfel der sieben Ärmsten", auf dem Mitarbeiter von Basisorganisationen berichteten. Die Abschlußerklärung des Gipfels der Ärmsten wurde von Vertretern aus Bangladesh, Guatemala, Haiti, Kolumbien, den Philippinen und Puerto Rico sowie der amerikanischen Ureinwohner unterzeichnet. D. Red.

Einmal mehr haben die Vertreter der sieben reichsten Länder der Welt, die Vereinigten Staaten, Kanada, Italien, Frankreich, Japan, die Bundesrepublik Deutschland und das Vereinigte Königreich, einen Wirtschaftsgipfel veranstaltet.

Obwohl sie weniger als 10% der Weltbevölkerung repräsentieren, erklären sie jedes Jahr in Form von wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen das, was aus ihrer Sicht am besten für den Rest der Welt ist. In diesem Entscheidungsprozeß haben die Völker der Dritten Welt keine Stimme, obwohl diese Politik sie ständig in negativer Weise betrifft und bedrängt. Was die Menschen der Dritten Welt anbelangt, sind die negativen Auswirkungen offensichtlich, da unsere Probleme nicht nur bis heute nicht gelöst sind, sondern während des vergangenen Jahrzehnts dramatisch zugenommen haben. Mit Blick auf das eben genannte nehmen wir uns das Recht, unsere Probleme und Bedürfnisse darzulegen und Lösungsvorschläge in Übereinstimmung mit unserer besonderen Lage zu unterbreiten.

Die Völker, die wir vertreten, leben allesamt in Armut, weil wir über Jahrhunderte hinweg Opfer aller Formen von Kolonialismus, Unterdrückung, Diskriminierung und Repression waren. Im Gegensatz dazu haben kleine Eliten in der Welt, die ökonomisch reich sind, Konsumtionsmaßstäbe und Formen des Mißbrauchs von Rohstoffen errichtet, die zu schrecklichen Lebensbedingungen und ökologischen Katastrophen geführt haben. Wir vertreten die ärmsten Völker der Welt, die, im Gegensatz zu dem Wohlstand, den unsere Staaten akkumuliert haben, hungern, unter Krankheiten, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Elend und Tod leiden. Millionen von Menschen leben unter Bedingungen, die ihnen ihre sozialen, wirtschaftlichen, politischen, zivilen und kulturellen Rechte versagen.

Daß unsere Völker sehr arm waren und sind, liegt nicht daran, daß wir nicht für eine Veränderung gekämpft hatten. Vielmehr wurde jede Veränderung durch eine Kombination von auswärtiger Intervention und innerer Unterdrückung erbarmungslos verhindert. Die hier vertretenen Völker haben ein beträchtliches Potential an menschlichen und natürlichen Ressourcen. Die Kontrolle dieser Ressourcen liegt in den Händen einiger weniger, und der Wohlstand türmt sich bei wenigen Familien und transnationalen Unternehmen. Die große Mehrheit der Menschen lebt unterhalb der von den Vereinten Nationen definierten Armutsgrenze. Es ist erkennbar, und wir bekräftigen dies, daß das kapitalistische Modell total vorsagt hat, die Grundbedürfnisse der Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten zu erfüllen. Eine explosive Sozial- und Wirtschaftskrise hat heute große Teile der Welt erfaßt, die in sozialer Ungerechtigkeit und Mangel an wirklicher Demokratie versinkt.

Konkrete Lasten summieren sich zu jenen strukturellen Bedingungen, wie sie in den armen Ländern herrschen. Darunter sind die folgenden:

Schulden: Die Philippinen benötigen 44% des Staatsbudgets für den Schuldendienst; für andere Programme bleibt kaum etwas übrig.

Multinationale Konzerne: In Kolumbien verkaufte die Occidental Petroleum 25% eines kolumbianischen Ölfeldes für eine Milliarde Dollar an Shell; Kolumbien erhielt einen Dollar.

Hunger und Armut: Von den amerikanischen Ureinwohnern, die in Reservaten leben, leben 45% unterhalb der Armutsgrenze, 50% der Erwachsenen sind arbeitslos.

Militarisierung: In Puerto Rico nehmen 69 US-Basen und militärische Einrichtungen wenigstens 13% des kultivierbaren Landes ein. 

Völkermord: 440 Dörfer guatemaltekischer Eingeborener wurden in den Jahren 1982/83 zerstört, mit 50 000 Todesopfern. In Nordamerika gab es 20 Millionen Ureinwohner, heute sind es 1,5 Millionen.

Säuglingssterblichkeit: In Bangladesh kommen auf 1000 Lebendgeburten 120 Todgeburten, in Japan fünf.

Analphabetismus und Einkommen: Während in Haiti die Analphabetenrate bei über 77% liegt und das Jahresdurchschnittseinkommen 300 Dollar beträgt, ist die Analphabetenrate in Kanada 1%; dort liegt das Durchschnittseinkommen bei 13 000 Dollar.

Menschliche Ressourcen: Als Folge der Unterentwicklung werden die am besten ausgebildeten Akademiker und Facharbeiter wie Ärzte, Ingenieure und Wissenschaftler aus unseren in die entwickelteren Länder gelockt, ein enormer Verlust menschlicher Ressourcen. Beispielsweise gibt es in Nordamerika mehr haitianische Ärzte als in ganz Haiti.

All diese Faktoren haben die sozialen Bedingungen noch verschlechtert, die zuvor schon unerträglich waren. Die Menschen dieser Welt werden weiter kämpfen, um diese Zustände sozialer Ungerechtigkeit zu ändern. Die Antwort des Nordens hat immer in Unterdrückung, Intervention oder in verschiedenen Formen ökonomischer Nötigung und Kontrolle bestanden. Heute liefert der sogenannte "Drogenkrieg" eine neue Begründung für Intervention und Kontrolle. Menschen, die neue Wege zu beschreiten versuchen, wie das Volk von Nicaragua, sind das Opfer einer Kriegführung geringer Intensität.

Internationaler Währungsfonds und Weltbank verletzen mit ihren Strukturanpassungen und der Politik der Konditionalität täglich die Konventionen der Vereinten Nationen und die Erklärung über soziale und wirtschaftliche Rechte. Wir rufen die Menschen der Welt auf, sich mit uns im Kampf für eine gerechte Welt zusammenzuschließen.

1. Die Streichung der Auslandsschulden. Der Schuldendienst, Tilgung und Zinszahlungen, ist für die Länder der Dritten Welt nicht möglich. Zur Zeit dient er dazu, die Schuldnerländer zur Anpassung ihrer Wirtschaftspolitik an die Forderungen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zu bringen, die sich als nachteilig für den großen öffentlichen Sektor in unseren Ländern erwiesen haben. Tatsächlich haben die Länder der Dritten Welt ihre Auslandsschulden bereits im Übermaß bezahlt.

2. Die Schaffung eines Internationalen Reparationsfonds. Die reichsten Länder sind moralisch verpflichtet, einen internationalen Fonds einzurichten, um die Länder der Dritten Welt für die Plünderungen zu entschädigen, deren Opfer sie waren. Dieser Fonds sollte durch die Länder der Dritten Welt selbst verwaltet werden, durch einen Mechanismus, bei dem sie die mehrheitliche Teilhabe besitzen. Der Fonds soll nicht für militärische Zwecke zur Verfügung stehen. Intern soll eine öffentliche Beteiligung bei der Entscheidung über den Gebrauch des Fonds sichergestellt werden.

3. Beendigung militärischer Hilfe. Militärische Hilfe, die eine bedeutende Komponente der Hilfe für Länder der Dritten Welt ausmacht, soll als Teil eines Versuchs, Wettrüsten und Militarisierung zu reduzieren, eliminiert werden. Alle Hilfe sozialer Art soll durch den Internationalen Reparationsfonds kanalisiert werden.

4. Die Verabschiedung eines "Gesetzes über die Rechte der Kinder". Die Generalversammlung hat eine Internationale Konvention über die Rechte der Kinder verabschiedet. Die Vereinten Nationen müssen konkrete Schritte unternehmen, um die Übernahme durch die Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

5. Die Rechte der Ureinwohner. Die internationale Gemeinschaft soll die Erfüllung von Abkommen mit Ureinwohnern überprüfen, um sicherzustellen, daß die Einhaltung solcher Abkommen ordnungsgemäß verfolgt wird. Den Vereinten Nationen wird nahegelegt, eine universale Erklärung der Rechte der Indigenen zu verabschieden.

6. Die Entwicklung und Inkraftsetzung eines Verhaltenskodex zur Regelung der Tätigkeit transnationaler Unternehmen. Dieser Kodex soll Themen wie Umweltschutz, den Erhalt nationaler Ressourcen und einer gerechten Sozialpolitik beinhalten. Die Völker der Länder der Dritten Welt sollen bei der Erarbeitung eines solchen Kodex die Mehrheit haben.

7. Anerkennung der kulturellen Vielfalt der Menschen der Welt. Es besteht die Notwendigkeit für fortgesetzten Schutz und Förderung der Kulturen. Angesichts des Drucks zur Anpassung und zur Aufgabe eigener Wege seitens transnationaler wirtschaftlicher Kräfte muß das Recht der Völker, ihrer eigenen Kultur entsprechend zu leben und sie zu bewahren, respektiert werden. Im Hinblick auf diese Forderungen muß gegenwärtig den Lebensbedingungen der amerikanischen Ureinwohner besondere Beachtung geschenkt werden.

8. Die Beseitigung des Kolonialismus in allen seinen Formen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat die Beseitigung des Kolonialismus gefordert. Dennoch behaupten sich immer noch diverse Formen des Kolonialismus. Zur Unterstützung dieser internationalen Resolutionen müssen stärkere gemeinsame Anstrengungen unternommen werden, um dieses Verbrechen gegen die Menschheit abzuschaffen. Im Hinblick auf diese Forderung ist besondere Aufmerksamkeit für die gegenwärtige Situation des puertoricanischen Volkes erforderlich.

9. Genaue Befolgung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Internationalen Pakte über Menschenrechte und der Allgemeinen Erklärung der Rechte der Völker. Beständig werden Menschenrechtsverletzungen begangen. Die Verletzungen betreffen nicht nur die politischen und Bürgerrechte, sondern geschehen auch in den Bereichen Kultur und Wirtschaft. Wir fordern die Beendigung dieser Menschenrechtsverletzungen und wir machen die Regierungen für die Förderung und den Schutz dieser Rechte verantwortlich. Im Hinblick auf diese Forderungen muß die Existenz politischer Gefangener in den Vereinigten Staaten besonders beachtet werden.

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