In der Zeitung des Obersten Sowjets Rußlands, "Rossijskaja Gaseta", wandten sich am 18. Januar 1991 116 namhafte sowjetische Kulturschaffende und Wissenschaftler an die Öffentlichkeit. Zu den Unterzeichnern gehören u.a. der Historiker Afanasjew, der Schachweltmeister Kasparow, der Filmregisseur Rjasanow, der Direktor des Moskauer Zirkus Nikulin sowie die Komponisten Chremnikow, Schmittke und Schtschedrin. D. Red.
Mitbürger!
Wir, Vertreter der Wissenschaft und der Kultur, wenden uns an alle, die uns kennen, lesen, hören und sehen. Wir alle wollten endlich ein normales Leben führen. Sicher war niemand, aber es gab wenigstens Hoffnungen. Diese sind jetzt zerstört. Heute sehen wir: Die im April 1985 begonnene Perestroika ist in der Nacht zum 13. Januar erschossen worden.
In dieser ganzen Zeit unterstützten wir den Präsidenten und verschlossen manchmal die Augen vor der Inkonsequenz seiner Politik. Wir hofften, daß er zu einer Stütze der Demokratie wird und die Treue zu seinem Präsidenteneid bewahrt. Das Verbrechen in Vilnins wurde jedoch vom Präsidenten und vom Obersten Sowjet der Sowjetunion nicht verurteilt. Danach konnte man sich nichts mehr vormachen. Der Umsturz hat bereits begonnen. Wenn er gelingt, erwarten uns wieder Lager, Terror, Angst, Hunger und Ruin.
Aber nicht nur das. Wieder wird sich unser Land durch einen eisernen Vorhang von der Menschheit abschotten und zu einem atomaren Schreckgespenst für die ganze Welt werden. Was können wir tun?
In diesem dramatischen Augenblick, da der Präsident und das Parlament die Demokratie verraten, rufen wir Sie auf, legitime, vom Volk gewählte Parlamente und Regierungen der Republiken zu unterstützen. Sie sind schutzlos. Sie haben keine Armee und kein KGB.
Nur eine breite Unterstützung wird ihnen die nötige Stärke beim Schutz von Souveränität und Gesetzlichkeit geben. Eine Union der Republiken kann sich nicht auf Bajonetten und Panzern halten. Wir rufen Sie auf, sich zu einer breiten demokratischen Bewegung zusammenzuschließen, die einer heranrückenden Diktatur widerstehen kann.
Wir rufen dazu auf, für einen sofortigen Abzug der Strafkommandos aus dem Baltikum zu kämpfen - als ein erster Schritt.