Ausgabe Januar 1992

500 Jahre Eroberung und Widerstand Lateinamerikas.

Erklärung christlicher Organisationen vom 6. Dezember 1991 (Wortlaut)

Am 12. Oktober 1992 jährt sich zum 500. Mal der Tag der sogenannten Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus, der in Europa und Amerika prunkvoll gefeiert werden soll. Diese "Entdeckung" war in Wirklichkeit ein Eroberungsfeldzug, in dessen Folge viele Millionen Menschen getötet, zahlreiche indianische Völker durch Krieg, Sklaverei und Krankheit ausgerottet und ihre Kulturen zu "Unkulturen" erklärt wurden. Das Gedenken des Jahres 1492 als Beginn der europäischen kolonialen Expansion und des von Europäern zu verantwortenden kontinentweiten Unterdrückungs- und Vernichtungsprozesses erfordert von uns ChristInnen eine Bewertung, die den Ansprüchen des Evangeliums in Gegenwart und Zukunft gerecht werden muß.

Wir haben eine besondere Verantwortung für die 500jährige Leidensgeschichte Lateinamerikas, weil die Grausamkeiten der Eroberung vielfach im Namen Gottes und der Kirche ausgeübt wurden. Trauer und Scham sind die einzig legitime Reaktion angesichts des ungeheuren Leids, Schuldbekenntnis und Bitte um Vergebung die notwendige Antwort. Erst wenn wir dies deutlich bekennen, können wir hinzufügen, daß zahlreiche Christen - Frauen und Männer, Laien und Amtsträger - die Rechte der Ureinwohner verteidigt und sich für die Abschaffung des Ausbeutungssystems eingesetzt haben und daß auch heute ChristInnen im aufopferungsvollen Dienst für die Armen und Unterdrückten ein Beispiel christlicher Glaubwürdigkeit geben. Das Jahr 1992 ist für uns eine Chance, unsere historische Schuld einzugestehen, unsere aktuelle Verantwortung bei der fortwährenden Ausbeutung und Unterdrückung der Menschen in Lateinamerika wahrzunehmen und uns für ein Leben in Würde aller LateinamerikanerInnen einzusetzen.

I. Herausforderungen für uns als ChristInnen

1. Wir wollen die Stimmen der Opfer und des Widerstands wahrnehmen

Wir wollen unsere Augen öffnen für die Geschichte der Eroberung aus der Sicht der Opfer - z. B. der Azteken, Inkas, Yanomami und der afrikanischen Menschen, die auf grausame Weise nach Amerika verschleppt und in die Sklaverei verkauft wurden. Aus der Sicht der Opfer die Leidensgeschichte wahrzunehmen heißt für uns auch, den Einsatz für Gerechtigkeit (z.B. durch Menschenrechtsorganisationen wie die Angehörigen von Verschwundenen oder die Gewerkschaften) und zentrale Forderungen (z.B. der indianischen Völker oder der Kleinbauern nach Recht auf eigenes Land) wirksam zu unterstützen. Viele von ihnen haben sich zusammengetan, um unter dem Motto "500 Jahre Indianer- und Volkswiderstand" im Jahre 1992 und darüber hinaus die Geschichte aus der Sicht der Unterdrückten neu zu "schreiben" und hinter dem kolonialen Erbe die eigenen kulturellen Wurzeln zu entdecken.

2. Wir gestehen unsere Schuld ein

Als ChristInnen und Glieder unserer Kirchen wollen wir vor Gott und vor unseren Geschwistern in Lateinamerika unsere Schuld bekennen: - wir haben als Kirchen bei der Unterdrückung mitgewirkt, für die Unterdrücker Partei ergriffen oder uns durch falsche Neutralität aus der Verantwortung gestohlen; - wir waren und sind Nutznießer von Strukturen weltweiter Ausbeutung und Unterdrückung, deren Wurzeln vielfach in der kolonialen Vergangenheit liegen; - wir haben die Opfer der Kolonialisierung nicht angemessen zur Kenntnis genommen und sie in ihrem Einsatz für ein Leben in Würde und ihrem Streben nach kultureller Identität nicht entschieden genug unterstützt. Dieses Versagen einzugestehen bedeutet nicht, in einen Kult der Selbstbezichtigung zu verfallen, sondern aus christlicher Hoffnung heraus Vergebung zu erbitten und Umkehr zu wagen. 3. Wir setzen uns für Schuldenerlasse und strukturelle Reformen der Weltwirtschaft ein

Unsere Beschäftigung mit der 500jährigen Leidensgeschichte Lateinamerikas soll Konsequenzen für die aktuelle wirtschaftliche und politische Situation haben. Nach unserer Einschätzung spielt insbesondere die Auslandsverschuldung für die zukünftige sozialund wirtschaftspolitische Entwicklung der Länder Lateinamerikas eine zentrale Rolle. Wir sind uns bewußt, daß es interne und externe Gründe für die hohe Verschuldung gibt und daß die Situation der einzelnen Länder differenziert zu analysieren ist. Die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Industrieländer und die von ihnen dominierten Welthandelsbeziehungen sind in diesem Zusammenhang allerdings von besonderer Bedeutung. Die Bundesrepublik Deutschland als eine der führenden Wirtschaftsmächte hat bisher zu wenig unternommen, um einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der internationalen Verschuldung zu leisten.

II. Forderungen an Bundesregierung, Banken und Kirchenleitungen

1990 Stieg die Auslandsschuld Lateinamerikas und der Karibik auf rund 450 Mrd. US-Dollar. Zinsen, Kapitalrückzahlungen, der Verfall der Rohstoffpreise und die Kapitalflucht haben in den 80er Jahren dazu geführt, daß bereits der doppelte Betrag dieser Auslandsschuld an die Kreditgeber der westlichen Industrieländer gezahlt wurde. Neben den Auswirkungen einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung mit z.B. hohen Importschranken der Industrieländer für Waren aus der Zweidrittel-Welt sind insbesondere auch die "Sanierungsprogramme" internationaler Finanzinstitutionen (z.B. des Internationalen Währungsfonds - IWF) verantwortlich dafür, daß große Teile der Bevölkerung in den armen Ländern unter den verheerenden, teilweise tödlichen Auswirkungen dieser Politik zu leiden haben.

1. Wir fordern von der Bundesregierung im Vorfeld des Weltwirtschaftsgipfels 1992 in der Bundesrepublik: Maßnahmen zum Schuldenerlaß, insbesondere: - eine vollständige Streichung der Schulden Lateinamerikas aus bundesdeutschen Entwicklungshilfekrediten. Diese Maßnahme halten wir ebenso für die armen Länder Afrikas und Asiens für erforderlich. Die Länder Lateinamerikas z.B. hatten 1990 Auslandsschulden in Höhe von 36 Mrd. DM - diese Summe bezieht sich allein auf Schulden aus dem Bereich der bilateralen öffentlichen Entwicklungshilfe. Die Mittel für den Schuldenerlaß dürfen nicht auf Kosten der Entwicklungshilfe gehen sondern sind zusätzlich zur Verfügung zu stellen. Eine Anbindung des Schuldenerlasses an Anpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank sollte wegen der schwerwiegenden sozialen Probleme für die armen Länder nicht vorgenommen werden; - eine vollständige Streichung der Schulden aus Forderungen der Bundesregierung im Bereich der "Hermes-Kredite" (das sind übernommene Bürgschaften der Bundesregierung für Exportkredite deutscher Unternehmen) für hoch verschuldete, arme Länder der Zweidrittel-Welt; - die Blockierung eines Vorschlags der Europäischen Kommission zum vollständigen Schuldenerlaß für die AKP-Staaten (Länder Afrikas, der Karibik und des Pazifiks) unverzüglich aufzugeben.

Um zu verhindern, daß nach weitgehender Schuldenstreichung in wenigen Jahren die gleiche ausweglose Situation wie heute entsteht, fordern wir die Bundesregierung auf, sich für grundlegende strukturelle Veränderungen im Bereich der Weltfinanzen und des Welthandels einzusetzen. Dies beinhaltet u.a.: - Abbau der zunehmenden Einfuhrschranken der Industrieländer, um den Ländern der Zweidrittel-Welt einen besseren Zugang zu unseren Märkten zu ermöglichen, - wirksame Stabilisierungsmaßnahmen der Rohstoffpreise auf höherem Niveau (z.B. für Kaffee), - eine Abfederung der Schwankungen internationaler Zinspolitik durch die Schaffung eines Zinsausgleichsfonds und einer damit verbundenen Festlegung eines Höchstzinssatzes für die Vergabe von Krediten, - eine Demokratisierung der westlich dominierten internationalen Finanzinstitutionen nach dem Vorbild der UN, - internationale Kontrollmechanismen, die eine wirksame Überprüfung der Aktivitäten der transnationalen Konzerne durchsetzen können.

2. Wir fordern die Verantwortlichen der Landes- und Privatbanken - insbesondere die Vorstände und Aufsichtsräte der Dresdner, Deutschen und der Commerzbank - auf, die Schulden der Länder Lateinamerikas, Afrikas und Asiens um mindestens 50% zu streichen. Nach Angaben der Deutschen Bundesbank waren die Länder der Zweidrittel-Welt Ende 1990 bei den deutschen Banken mit ca. 65 Mrd. DM verschuldet. Da die Banken in den letzten Jahren zum Teil große Gewinne erwirtschaftet haben, halten wir es für gerechtfertigt, daß sie auf mindestens 50% der Rückzahlung für vergebene Kredite verzichten - zumal ein bedeutender Prozentsatz hiervon (etwa 50 bis 80%) bereits durch steuerbegünstigte Rückstellungen abgesichert ist. Mit unseren zentralen Forderungen nach weitreichendem Schuldenerlaß unterstützen wir u.a. die brasilianischen und bolivianischen katholischen Bischöfe, aber auch zahlreiche christliche Basisgruppen, die die reichen Industrieländer um entsprechende Schuldenstreichungen gebeten haben.

3. Wir fordern unsere Kirchenleitungen und alle ChristInnen auf, sich intensiv mit der Frage unserer Verantwortung im Blick auf Geschichte und Gegenwart Lateinamerikas auseinanderzusetzen und stärker als bisher die Stimmen der Opfer des Widerstands aufzunehmen und zu unterstützen.

Insbesondere erwarten wir von unseren Kirchen: - daß sie ihr Engagement im Bereich "Entschuldung" wesentlich verstärken und im Rahmen ihrer weltweiten ökumenischen Kontakte die Sicht derer stärker zum Ausdruck bringen, die besonders unter der Schuldenlast leiden; - daß sie sich im Vorfeld des Weltwirtschaftsgipfels im Juli 1992 in München deutlich für wirksame Schuldenerleichterungen und für dringende Reformen des Weltwirtschaftssystems bei der Bundesregierung und den anderen westlichen Industrieländern einsetzen; - daß sie alternative Produktionsweisen, Wirtschaftsformen, Bankund Kreditsysteme unterstützen, die den Grundsätzen der Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung entsprechen; - daß sie Fragen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung (insbesondere die Verschuldungsproblematik) stärker in die Arbeit der Gemeinden einbeziehen und die Informations- und Bildungsarbeit der kirchlichen Werke und Verbände in diesem Bereich entschiedener fördern. Die Industrieländer dürfen sich jetzt nicht aus der Verantwortung stehlen.

Während des Golfkrieges haben sie bewiesen, daß sie in der Lage sind, kurzfristig Gelder in Milliardenhöhe zur Kriegsführung aufzubringen.

Um so mehr ist es jetzt geboten, daß Regierungen, Banken und Unternehmen den Ländern der Zweidrittel-Welt zusätzliche Finanzmittel zur Förderung einer eigenständigen, grundbedürfnis- und selbsthilfeorientierten Entwicklung zur Verfügung stellen. Eine konsequente Reduzierung der Militärausgaben u.a. durch den Verzicht auf Forschung, Entwicklung und Herstellung neuer, "qualitativ höherer" Waffensysteme, setzt Mittel dafür frei. Wir erklären ausdrücklich unsere Bereitschaft, die Auswirkungen der politischen Forderungen, die die SteuerzahlerInnen Geld kosten, mitzutragen.

Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend (aej); Arbeitsgemeinschaft der Katholischen Studenten- und Hochschulgemeinden (AGG); Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ); Christliche Initiative Romero (CIR); Dienste in Übersee (dü); Evangelische StudentInnengemeinde (ESG); Initiative Kirche von unten (IKvu); INKOTA-Netzwerk e.V.; Kairos Europa, internationale und deutsche Koordination; Missionszentrale der Franziskaner; Ökumenische Initiative Eine Welt (ÖIEW); Pax Christi, deutsche Sektion.

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