Die DDR und die alte Bundesrepublik hatten eine gemeinsame Vorgeschichte und in der Systemkonfrontation je eigene, aber wechselseitig verklammerte Geschichten. Die deutsche Einheit, die vorerst staatliche Einheit ist und nur rudimentär ökonomische, soziale und kulturelle, ist daher weder als bloße "Wiedervereinigung" noch bloß als "Vereinigung" angemessen zu begreifen: Sie ist "Neu-Vereinigung" zweier deutscher Staatsvölker zu einer "Nation", aber unter der Voraussetzung, daß die DDR untergegangen ist, die Bundesrepublik jedoch nicht. Das heißt allerdings auch, daß die erweiterte Bundesrepublik etwas Neues ist, endgültig kein Provisorium mehr, sondern eine Transformation, die nach Begründung verlangt, nach einer Standort- und Zielbestimmung, aus der sich politische Änderungen ableiten lassen. Eine solche Begründung hat gegenwärtig mit mentalen Blockaden in West- wie in Ostdeutschland zu rechnen.
Einerseits herrscht die Neigung vor, Besitzstände nicht antasten und alte Erfolgsrezepte (wirkliche und vermeintliche) nicht in Frage stellen zu lassen, also sozusagen in einer Trägheit des Herzens zu verharren.
Andererseits fordert die mit dem Einigungsprozeß angestoßene Transformation den Ostdeutschen ungleich größere Orientierungs- und Anpassungsleistungen ab als den Westdeutschen.