Ausgabe Mai 1993

Nostalgie gehört ins Museum

Deutschland begründen

Die Aufklärung wußte noch, daß ein Staat durch den Vertrag gegründet wird, den seine Bürger untereinander schließen. Auch Wolfgang Schäuble hat wohl davon gehört, daß ein Vertrag den Staat macht. In kühner Anleihe bei Rousseau gibt er seinem Bericht "Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte" den Titel "Der Vertrag".

Aber das war kein Vertrag der Bürger, sondern einer zwischen zwei gewieften Buchmachern. Den Bürgern liegt die deutsche Einheit sowieso im Blut. Selbst wenn sie es nicht wissen, können sie als Deutsche gar nichts anderes wollen. Sie sind eine Schicksalsgemeinschaft. Und wenn es 45 Jahre lang keine Gemeinschaft des Schicksals gab, so bleibt doch immer das Schicksal einer unentrinnbaren Gemeinschaft. Das deutsche Volk ist ein Organismus, der ganz von allein wieder zur Volksgemeinschaft zusammenwachsen wird, wenn man ihn nur sich selbst überläßt. Mit der Aufklärung haben wir Deutschen sowieso nichts im Sinn. Das wissen wir seit der Romantik, daß mit dem Gesellschaftsvertrag kein deutscher Staat zu machen ist. Brauchen wir auch nicht.

Denn wir sind durch Natur, Kultur und Geschichte ein Volk. Das banale politische Geschäft erledigt schon die Obrigkeit. Notfalls wird eben mit nationaler Emphase nachgeholfen.

Mai 1993

Sie haben etwa 17% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 83% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Maskulin und libertär

von Stefan Matern, Sascha Ruppert-Karakas

Echte Männer sind rechts“ – das auf Social Media viral gegangene Video des AfD-Politikers Maximilian Krah ist mehr als nur ein lapidares Bekenntnis zu traditionellen Familien- und Geschlechterrollen. Es ist vielmehr der strategische Versuch, junge Menschen niedrigschwellig an AfD-Positionen heranzuführen. Im provokanten Politainmentstil bespielt die Partei auf den digitalen Plattformen unpolitisch anmutende Themen rund um die Probleme und persönlichen Unsicherheiten junger Männer.