Ausgabe August 1994

Memorandum Forschungs- und Technologiepolitik 1994/95

Gestaltung statt Standortverwaltung - Für eine sozial-ökologische Erneuerung der FuT-Politik

Anläßlich des Dortmunder Kongresses "Wissenschaft in der Verantwortung - Politik in der Herausforderung" wurde am 24. Juni 1994 der Öffentlichkeit von einer Gruppe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein "Memorandum Forschungs- und Technologiepolitik 1994/95" vorgestellt, das - ein Novum in der Geschichte der deutschen Forschungspolitik - von rund 400 WissenschaftlerInnen und wissenschaftspolitisch engagierten Personen unterstützt wird. Auch in den nächsten Jahren sollen solche "Memoranden" erarbeitet werden. Die Gruppe lädt zur Mitarbeit ein. Die "Blätter" dokumentieren eine gekürzte, auf die forschungs- und technologiepolitischen Alternativen konzentrierte Fassung des Memorandums. Der vollständige Text und ein parallel erscheinender Analyseband sind erhältlich bei: Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Postfach 543, 35037 Marburg, Tel. (0 64 21) 2 13 95, Fax: (0 64 21) 2 46 54.

Grundprinzipien einer Erneuerung der Forschungs- und Technologiepolitik

Entgegen üblichem Politikverständnis lassen sich alternative Optionen nicht als einfacher Gegensatz zu den kritisierten Politikformen formulieren. Andere Wege sind eben nicht Rückwege, sondern Pfade in neues Terrain.

So ist es auch in der Forschungspolitik. Als Anforderungen an eine alternative FuT-Politik lassen sich erkennen: Öffentlich geförderte wissenschaftlich-technische Innovationen sollten sich von dem Leitbild einer wachstums- und angebotsorientierten Technik lösen und statt dessen eine umweltschonende Nutzung der natürlichen Ressourcen in Produktion und Konsum zum Ziel erheben; ökologische und gesundheitliche Belastungen und Risiken für gegenwärtige und zukünftige Generationen müssen abgebaut und vermieden werden einen Beitrag zur umfassenden Verbesserung der Arbeitsbedingungen hinsichtlich von Qualifikation, Gesundheit und Kreativität leisten, also sinnvolle Arbeit fördern und Arbeitsplätze schaffen wie sichern geschlechtsspezifische Benachteiligungen in der Arbeits- und Lebenswelt, die in der Regel Frauen die kulturelle Lebensqualität erhöhen, d.h. mit pluralen Lebensstilen und Arbeitsformen vereinbar sein, sie erhalten und nutzen demokratiefähig sein, also in ihrer Funktion und Wirkung auf Transparenz und Überschaubarkeit abzielen und dazu beitragen, Hindernisse für Kooperation und Selbstorganisation - auch für das Denken in selbstorganisierten Prozessen - zu beseitigen anwenderInnenfreundlich sein, d.h. im Alltag durchschaubar, beherrschbar, den menschlichen Fähigkeiten angemessen, lernfreundlich und rückholbar sein regionale und globale Disparitäten abbauen sowie friedliche Entwicklungen fördern die soziale Innovation gesellschaftlicher Strukturen mitbedenken und dazu beitragen, eine solidarische Gesellschaft zu schaffen. Diese Grundprinzipien einer neuen Forschungspolitik, die sozialstaatlichen, ökologischen, feministischen, humanistischen, internationalistischen und pazifistischen Zielen entsprechen, können nicht immer sämtlich zur Bewertung förderungswürdiger Projekte herangezogen werden. In vielen Fällen ist es sinnvoll, nur einige zu berücksichtigen.

Insgesamt jedoch stellt ihre Anwendung bei der staatlichen Forschungsförderung ein Korrektiv zu bloßer Marktorientierung dar. Ihre Befolgung schließt nicht, wie oft behauptet, eine Marktfähigkeit der Forschungsergebnisse aus, sondern bindet den Marktzugang innovativer Ergebnisse an die Vereinbarkeit mit diesen Forderungen. Es ist also auch Aufgabe der Forschungspolitik, das bisherige Prinzip der Marktfähigkeit von Innovationen nicht zugunsten sozial-ökologischer Kriterien aufzugeben, sondern beide aneinander zu binden. Eine Verallgemeinerung dieser Kopplung von Markt und Sozialökologie ist die große Zukunftsausgabe einer neuen FuT-Politik.

Vorschläge zur Neuverteilung der Forschungsmittel

Eine solche Initiative erfordert zunächst eine weitreichende Umstrukturierung des Forschungsbudgets. Sie muß zuvorderst am bislang wohltabuierten Bereich der militärischen Forschung ansetzen:

Die A u s g a b e n f ü r R ü s t u n g s f o r s c h u n g u n d -e n t w i c k l u n g m ü s s e n a u f h ö c hs t e n s 2 0 % d e s g e g e n w ä r t i g e n V o l um e n s g e s e n k t w e r d e n - für Japan zum Beispiel keine ungewöhnliche Größenordnung. Großprojekte wie der Eurofighter 2000 sind aufzukündigen. Konversionsprogramme für die wenigen großen Forschungseinrichtungen der Bundesrepublik, die überwiegend für das Militär arbeiten, müssen entwickelt werden. Die Bundesmittel für Friedens- und Konfliktforschung müssen auf mindestens 10 Mio DM ausgeweitet werden.

D i e r ü s t u n g s t e c h n i s c h e D y n a m i k u n d P r o l i f e r a t i o n a u c h v o n d u a l - u s e T e c h n o l o g i e n m u ß k o n t r o l l i e r t u n d s u k z e s s i v a b g e b a u t w e r d e n. Die Bestimmungen zum Waffenexport sind zu verschärfen mit dem Ziel des Stopps aller Rüstungsexporte. Die Verpflichtung und das Recht zur Veröffentlichung aller zivilen Forschungsergebnisse dürfen nicht eingeschränkt werden. Auftragnehmer und -geber und Finanzmittel für alle militärischen FuT - Vorhaben müssen in einem aufzubauenden zentralen Forschungsförderkatalog der BRD veröffentlicht werden, das Recht, die Mitarbeit an militärischen Projekten zu verweigern, muß gesetzlich verankert werden.

E i n e z i v i l e W i s s e n s c h a f t s p r a x i s m u ß a k t i v g e f ö r d e r t w e r d e n. In die Ordnungen bzw. Verfassungen der Wissenschaftseinrichtungen sollten Formulierungen aufgenommen werden, die zu einer verantwortlichen Wissenschaftspraxis "im Geiste des Friedens" (Grundordnung Universität Hannover) anhalten. In Forschungsverträge sollten Zivilklauseln aufgenommen werden. Die einzelnen WissenschaftlerInnen wie die Körperschaften sollten sich selbst verpflichten, an Forschungsvorhaben nicht mitzuwirken, die erkennbar militärischen Angriffshandlungen dienen. Neben der Militärforschung ist der außerordentliche Ausbau der Weltraumforschung seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre immer stärker als politisch fehlgeleitet und überambitioniert, fiskalisch katastrophal und wissenschaftlich kontraproduktiv empfunden worden. Die ursprüngliche politische Absicht, der BRD eine führende Rolle beim europäischen Projekt bemannter Raumfahrt zu sichern, ist gescheitert - aber immer noch nicht aufgegeben, mittlerweile unter Rückgriff auf veraltete technologische Ansätze der 60er Jahre, um die Raumfahrtpolitik der 90er Jahre zu retten. In keinem anderen Forschungsbereich wurden Planungen so rasch ständig neu zu Makulatur. Konstant bleibt offenbar allein die Absicht, in die Weltraumforschung und -technik im Lauf des nächsten Jahrzehnts eine zweistellige Millliardensumme zu investieren. Zugleich werden immer wieder militärische Kalküle lanciert. Ein Moratorium aller Projekte, die direkt oder verdeckt mit bemannter Weltraumfahrt zu tun haben, ist notwendig. Überfällig ist eine Evaluation der gesamten Weltraumforschung.

Im Bereich der E n e r g i e f o r s c h u n g wurde zwischen 1979-1993 der Anteil der klassischen Atomforschung von 10,1% auf 2,5% der Bundesmittel reduziert. Doch statt die freiwerdenden Ressourcen für eine konsequente Unterstützung der Forschungen auf dem Gebiet alternativer und regenerativer Energie zu verwenden, wurden sie im wesentlichen in die Luft- und Weltraumtechnik umgewidmet. Unter forschungspolitischen Vorzeichen wird mittlerweile der erste Reaktorneubau in Deutschland nach Tschernobyl vorangetrieben und es werden immer mehr Mittel für die Fusionsforschung bereitgestellt. Ein neuer Forschungsreaktor ist jedoch ebensowenig notwendig wie die Fortsetzung der Atomforschung unter der Etikette der Entwicklung des "inhärent sicheren Reaktors" und der Aufbau eines expansiven Fusionsforschungsprojekts. Weitaus stärker als bisher sind die verschiedenen Felder der alternativen Energien bzw. rationellen Energienutzung - Solarenergien, Photovoltaik, Windenergie, Wasserstofftechnologien usw. zu fördern. Unterstützungen zur Diffusion und zum Transfer u.a. in Form von Markteinführungshilfen müssen substantiell ausgedehnt werden.

Die zum neuen Fokus hochtechnologischer Industriepolitik avancierten "s t r a t e g i s c h e n T e c h n o l o g i e n d e s 2 1. J a h r h u n d e r t s" fassen sehr unterschiedliches zusammen: Biotechnologie, Material- und Werkstoffwissenschaften, Informations- und Kommunikationstechnologien, Fertigungstechnologien usw. Es geht um polyvalente, stark differenzierte Technologien mit Querschnittscharakter, die in großen Spektren wirtschaftlicher wie sozial-ökologischer Nutzungen eingesetzt werden könnten. Unstrittig ist, daß die Industrie ein neues Spezialisierungsmuster und neue Schwerpunktsetzungen benötigt.

Doch die FuT-Politik zu den "Technologien des 21 Jahrhunderts" darf nicht nur von technologischen Innovationen und vermeintlichen Absatzchancen auf dem Weltmarkt ausgehen, sondern sollte gezielt auf die sozialen und ökologischen Herausforderungen gerichtet sein. Der notwendige Bruch mit der gescheiterten Strategie nachholender Entwicklung risikoreicher Sackgassentechnologien wird nicht gelingen, wenn der zukünftigen Industrietechnikpolitik nicht eine klare Orientierung auf alternative Märkte zugrundeliegt: Energie, Ökologie und Umwelttechnik, Rohstoff- und Wasserbereich, Städtebau, Architektur und Landwirtschaft, Verkehrswesen, Gesundheit Ernährung also in Gebieten, die in hohem Maße infrastrukturorientiert sind und die zugleich für die Umstellung des Entwicklungsmodells des industriellen Nordens entscheidend sind.

Für eine globale und reflexive Neuausrichtung der Forschungspolitik

Vor dem Hintergrund dieser Defizite und Beschränktheiten der bisherigen FuT-Politik erfordert eine sozialökologische Umorientierung in erster Linie eine globale Orientierung in erster Linie eine g l o b a l e O r i e n t i e r u n g und eine angemessene R e f l e x i o n d e r R i s i k o d i m e n s i o n wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Die FuT-Politik der entwickelten Industriestaaten des Nordens, somit auch der BRD, darf sich nicht allein auf jene Probleme der Klimaerwärmung, der Zersetzung der Ozonschicht und der Emission giftiger Stoffe richten, die die entwickelten Industriestaaten des Nordens unmittelbar betreffen bzw. direkt von ihnen hervorgebracht wurden. Die schwerwiegenden Probleme der Ernährung, des Wohnens, der sozialen Verelendung, des Verlustes der Artenvielfalt, der Verschlechterung des Bodens, der Entwaldung, der Wasserverschmutzung und -verknappung oder der Luftverschmutzung sind solche globalen Probleme, die vorrangig den Süden betreffen. In der FuT-Politik der BRD spielen sie keine nennenswerte Rolle - sie reflektiert die Bedürfnisse und Interessen der Ersten Welt, nicht jene des Südens. Diese globalen Probleme jedoch müssen zum zentralen Gegenstand einer sozial-ökologischen Forschungs- und Technologiepolitik werden Sie erfordert in erster Linie strategisch ansetzende Vorsorgeforschung, jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch nachsorgende Reparaturforschung und verstärkte Technikdiffusion.

"Strategische Vorsorgeforschung" muß von den "alten" Technologien und ihren Märkten abgekoppelt, weitaus besser ausgestattet und konsequent von globalen Problemen her gedacht, konzipiert und angelegt werden. Der anhaltende Trend zur Globalisierung des heutigen Produktionsund Konsummusters würde eine Verzehnfachung des derzeit verfügbaren Ressourcenbestandes erfordern. Die Überwindung dieses Produktions- und Konsummusters ist das Kernproblem und zentrale Zielsetzung einer an nachhaltiger Entwicklung orientierten sozial-ökologischen Forschungs- und Technologiepolitik. Diese Politik muß auch die neue globale Dimension der Risiken vermeintlich sicherer Großtechnologien reflektieren. Notwendig ist eine Risikopolitik, die ein verantwortliches Umgehen mit technisch-wissenschaftlichen Risiken ermöglicht, Risikogrenzen definiert und Übergänge zu nicht-wissenschaftlichem Handeln offenhält. Die Wissenschaft muß ihr Gewährleistungsvermögen für sicheres Wissen steigern und das Spektrum ihrer Erkenntnisziele um die Kategorie Risiko erweitern.

Die F ö r d e r u n g d e r s o g e n a n n t e n R e f l ex i o n s d i s z i p l i n e n, der interdisziplinären Risikowissenschaften in Forschung, Lehre und Ausbildung sowie ihre querschnittsorientierte Einbeziehung in sämtliche Forschungsprogramme sind zentrale Aufgaben der FuT-Politik. Dabei trägt eine sozial-ökologische Forschungs- und Technologiepolitik der Tatsache Rechnung, daß insbesondere die männerdominierte Forschung und Technikentwicklung mit ihrer Ideologie von der vollkommenen Be h e r r schbarkeit technischer Gefahren wesentlich zur Entstehung der gegenwärtigen Risikopotentiale beigetragen hat. Für eine sozial-ökologische Umorientierung der Forschungspolitik ist daher eine stärkere Einbeziehung von F r a u e n, deren spezifischen Lebenszusammenhängen und daraus resultierenden Anforderungen, auf den verschiedenen Ebenen der Forschung und der Forschungspolitik unverzichtbar. Zugleich sind Schritte, die den Frauenanteil in den Forschungseinrichtungen erhöhen dringend geboten, staatliche Grund- und Projektfinanzierung sind mit Maßnahmen zur Frauenförderung zu verknüpfen, quer zu den unterschiedliche Disziplinen ist die Frauenforschung auszuweiten und zu fördern.

Für eine sozialstaatliche Neuausrichtung der Forschungspolitik

Sozial-ökologische Innovationspolitik zielt nicht nur auf Industriesicherung und -umbau, sondern auch auf B e s c h ä f t ig u n g. Dabei kann die FuT-Politik nicht mehr länger ignorieren, daß sie sich im Umfeld völlig neuer sozialer Probleme zu behaupten hat. Am Ende des technologischen Regenbogens steht offenbar nicht der Schatz verwirklichter Gesellschaftsutopien, sondern Arbeitslosigkeit. Bislang waren neue Technologien als Produzenten von - per Saldo - neuen Arbeitsplätzen angesehen worden. Daß FuT-Politik auch verknüpft ist mit Arbeitsplatzreduzierung und Konsumsteigerung, wurde ignoriert oder beschönigt.

Doch nun steigt schon seit 20 Jahren die Arbeitslosigkeit in Europa. Zwei von drei Arbeitsplätzen in Ostdeutschland wurden beseitigt, in der Bundesrepublik Deutschland fehlen gegenwärtig 6 Mio. Arbeitsplätze. Die Entwicklung arbeitsplatzschaffender und -sichernder und sinnvolle Beschäftigung gewährleistender Technologien muß in den Mittelpunkt einer s o z i a l s t a a t o r i e n t i e r t e n I n n o v a t i o n s p o l i t i k gerückt werden. Als Teilaufgabe schließt dies die S c h a f f u n g v o n A r b e i t s p l ä t z e n i m W i s s e n s c h a f t sb e r e i c h ein. Hier muß auch gezielt die in der Regel prekäre Beschäftigungssituation von WissenschaftlerInnen, von denen in Ostdeutschland ca. 60% erwerbslos sind, berücksichtigt werden. Notwendig ist ein rascher Auf- und Ausbau eines Systems öffentlich geförderter Beschäftigung, wodurch Arbeitslose in Arbeit kommen. Nur so kann die breite Entwertung wissenschaftlicher Qualifikationen gestoppt und ein tragfähiges Netz wissenschaftlicher Arbeit und Kommunikation vor allem in den neuen Bundesländern aufgebaut werden.

Dazu müssen neben der Personalförderung auch die Investitionen auch auf Zuschussbasis gefördert, die Markteinführung abgestützt und insgesamt die Eigenkapitalbasis forschungstreibender Unternehmen langfristig abgesichert werden. Zugleich müssen die Strukturen selbstorganisierter Wissenschaftsnetzwerke abgesichert werden. Die Finanzierung eines solchen Projekts ist langfristig zu rund zwei Dritteln aus den eingesparten Mitteln zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit möglich. FuT-Politik als Element einer umfassend anzulegenden gesellschaftlichen Erneuerungsstrategie greift allerdings zu kurz, wenn sie die sozialen Bedingungen und Konsequenzen von Technikentwicklung und -einsatz ausblendet oder - wie bisher - weiterhin allenfalls in randständigen, "weichen", in ihrer Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit permanent existentiell in Frage gestellten Programmen (AuT, TA, SoTech) gleichsam als Spielwiese für Kritiker bearbeiten läßt.

Als institutioneller und programmatischer Fokus für die D u r c h s e t z u n g e i n e s h u m a n z e n t r i e rt e n L e i t b i l d s "s a n f t e r" i n d u s t r ie l l e r T e c h n i k e n t w i c k l u n g u n d -n u tz u n g muß das unter der konservativ-liberalen Regierung abgewirtschaftete Programm Arbeit und Technik neu konzipiert und wieder aufgelegt werden. In einem ersten Schritt muß die Verknüpfung zu den Programmen der Umwelt- und Gesundheitsforschung verstärkt werden. Die nicht-biomedizinischen, also sozialwissenschaftlichen und psychologischen Gesundheitswissenschaften müßten einen deutlichen Schwerpunkt in der Gesundheitsforschung bilden. Wenn die Forschungs- und Technologiepolitik den Problemen von Arbeit, Gesundheit und Umwelt im Sinne der Vorsorgeforschung eine unbedingte Priorität einräumen will, dann muß sie auch marktunabhängige FuT garantieren und durch die Schaffung rechtlicher Vorschriften und technischer Normen die Verletzung dieser Ziele verhindern.

Für eine demokratische Forschungs- und Technologiepolitik

Eine D e m o k r a t i s i e r u n g u n d Ö f f n u n g der Forschungspolitik für bisher unterrepräsentierte Interessen ist erforderlich - sowohl um unkonventionellem und kreativem Sachverstand Einflußmöglichkeiten auf die inhaltliche Ausgestaltung der Forschungs- und Technologiepolitik zu geben als auch um gesellschaftlichen Interessen und Bedürfnissen größeres Gewicht bei der Formulierung von Aufgaben und Zielen der Forschung zu verleihen. Die W i e d e r g e w i n n u n g p o l i t i s c h e r H a n d l u n g s k o m p e t e n z ist erforderlich durch Reduzierung des mittelblockierenden institutionellen Schwergewichts der jahrzehntealten Big Science Strukturen und die Auflage einer Grundlagenforschungspolitik, die mehr ist als nur Bedienerin der Forschungsinteressen eines ebenso alteingesessenen geräteschweren Wissenschaftsestablishments. Das BMFT ist in der Vergangenheit durchaus auch Fokus politischer Initiativen gewesen. Heute plädieren nicht wenige für einen neuen Ressortzuschnitt der Forschungs- und Technologiepolitik: Die praxisbezogenen Forschungsfunktionen anderer Bundesministerien (vor allem des Wirtschaftsministeriums) sollten gestärkt und die klassische Doppelrolle des BMFT - Subventionierung der Industrie und Alimentierung der großen Grundlagenforschung - aufgelöst werden. Wichtiger als solche neuen Ressortzuschnitte wäre es, die aus proporzpolitischen Gründen vorgenommene Aufteilung in Forschungsund Bildungsministerium rückgängig zu machen und einem neuen M i n i s t e r i u m f ü r B i l d u n g, W i s s e ns c h a f t u n d T e c h n i k gegenüber den anderen Ressorts einschneidende Koordinations- und Vetokompetenzen zu geben. Das beim BMFT angesiedelte Beratungssystem ist neu zu gestalten, der Zuschnitt der Beratungskommissionen den interdisziplinären Anforderungen sozial-ökologischer Zukunftsaufgaben anzupassen und weiterhin eine personelle Umstrukturierung, die eine geschlechtsquotierte Besetzung der Kommissionen zum Ziel hat, zu realisieren. Das gleiche gilt auch für Förderorganisationen wie die DFG sowie für Bund-Länder-Abstimmungsgremien wie den Wissenschaftsrat und die entsprechenden Einrichtungen auf Länderebene.

Politisch legitime Expertise, erst recht Entscheidungen über Forschungspolitik und Technikentwicklung sind in der Bundesrepublik nach wie vor eine reine M ä n n e r d o m ä n e. Erfahrungen, Sichtweisen und Forschungsansätze von Frauen bleiben sowohl von den Entscheidungsstrukturen als auch von den dominierenden wissenschaftlichen Ansätzen ausgeschlossen. Für eine sozial-ökologische Umorientierung der Forschungspolitik, die sich an der gesellschaftlichen Nachfrage und an sozialen Handlungsalternativen orientiert, ist eine stärkere Einbeziehung von Frauen auf den tatsächlich entscheidungsrelevanten Ebenen der Forschungspolitik unverzichtbar. Vor allem fehlt es aber an der Beteiligung der nach unserer Verfassung für politische Gestaltungsaufgaben zuständigen Parlamente an der Konzipierung, Ausgestaltung, Vergabe und Evaluation von FuT-Programmen.

Der Bundestag wie die Länderparlamente müssen auf der Grundlage ausgebauter A n h ö r u n g s- u n d I n f o r m a t i o n sr e c h t e und einer gerade auf diesem diffusen und komplizierten Politikfeld unabdingbaren Kultur der Offenheit die Programmentscheidungen der Forschungspolitik fällen. Über innerwissenschaftliche und -technische Dimensionen hinaus, die legitimerweise vor allem von Wissenschaft, Industrie und Administration bearbeitet werden, geht es hier um langfristige, Programme, die in die gesellschaftliche und ökonomische Wirklichkeit ebenso eingreifen wie in das Natur-Gesellschaftsverhältnis. Unsere Gesellschaft ist nicht nur im Wissenschaftsbereich auf die öffentliche Diskussion nicht nur des Risikoaspekts, sondern auch des Bedürfnis- und Nutzenaspekts schlecht eingerichtet. Über die forschungspolitische Konstruktion von Wirklichkeit wird gesellschaftspolitisch nicht verhandelt. Eine politische Öffnung der FuT-Politik ist freilich mehr als ihre Parlamentarisierung. Ohne breite Demokratisierung kann es keine Neugestaltung der Forschungs- und Technologiepolitik geben!

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