Am Ende siegt weniger die Weit- als die Vorsicht. Aber auch das kann ein Ausdruck von Weitblick sein, vor allem dann, wenn die Sichtweite gering ist. Die Rede ist vom NATO-Gipfel in Brüssel, der auf Initiative der amerikanischen Administration die "partnership for peace" ("P4P") beschloß. Die Entscheidung für ein umfassendes sicherheitspolitisches Kooperationsangebot der NATO an alle Staaten des ehemaligen Warschauer Vertrages unterhalb der Ebene einer formellen Mitgliedschaft entspricht dem Gebot bedachtsamer Politik in einer Zeit europäischer Unübersichtlichkeit. Das westliche Bündnis hat sich von den schnellen Erweiterungswünschen der bündnislosen mitteleuropäischen "Klienten" vor allem Tschechiens, der Slowakei, Polens und Ungarns, der sogenannten Visegrad-Staaten - und von ihrem "Anwalt", der Bundesrepublik - nicht unter Druck setzen lassen. Herausgekommen ist ein Konsens, mit dem die NATO und die russische Föderation leben können und Mitteleuropa leben muß - zumindest auf absehbare Zeit. Das Zusammentreffen des amerikanischen Präsidenten mit den Visegrad-Repräsentanten in Prag war darüber hinaus ein geschickter diplomatischer Schachzug: Clinton machte deutlich, daß der Westen durchaus prädestinierte Kandidaten einer späteren Mitgliedschaft sieht.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.