Eine Studie des Carnegie Endowment for International Peace (Auszüge)
Die Zukunft der amerikanisch-deutschen Beziehungen war Gegenstand einer beim Washingtoner Carnegie Endowment for International Peace angesiedelten, mit Wissenschaftlern und Politikvertretern besetzten Study Group on Germany, darunter Ronald D. Asmus von der RAND Corporation, C. Fred Bergsten, Direktor des Institute for International Economics, John Newhouse, diplomatischer Korrespondent des "New Yorker". Auf der Grundlage der dortigen Diskussionen und nach Konsultationen u.a. mit Zbigniew Brzezinski, Robert G. Livingston und Charles William Maynes entstand die von Daniel Hamilton, Direktor der Studiengruppe, vormals stellvertretender Leiter des Aspen-Instituts in Berlin und inzwischen Berater des Bonner US-Botschafters Holbrooke, verfaßte Studie "Beyond Bonn America und the Berlin Republic". In der entstehenden Berliner Republik sieht Hamilton die zukünftige Hauptmacht Europas, deren strategischer Imperativ sich ostwärts verlagert habe. Vor diesem Hintergrund plädiert die Studie für eine neue amerikanisch-deutsche "strategische Partnerschaft gegenüber Osteuropa", als Alternative zu einer Politik wechselseitiger Alleingänge. Diese Partnerschaft böte auch die Grundlage zukünftiger militärischer US-Präsenz in Europa, die dem Verfasser zufolge schon deshalb unerläßlich ist, um die latenten Sorgen der Osteuropäer vordeutscher Hegemonie auszuräumen. Auszüge aus diesem Versuch einer Modernisierung deutscher Einbindung unter gänzlich veränderten Bedingungen veröffentlichen wir nachstehend; die Carnegie-Studie ist ferner Gegenstand des Beitrags von Frank Unger im vorliegenden Heft. D. Red.
Einleitung
(...) Ausgangspunkt ist es, zu begreifen, daß die entstehende Berliner Republik nicht einfach nur die Bonner Republik in groß sein wird. Es bedeutet auch, Amerikas eigene ungeklärte Rolle in der Welt in Rechnung zu stellen. Abgesehen von diesen Herausforderungen, bleiben die Vereinigten Staaten und Deutschland Achsenpartner in bezug auf einander und auf die internationale Ordnung. Die bilateralen Beziehungen können als Motor für multilaterale Zwecke dienen. Dieses Prinzip bildet die Basis für eine Anzahl von Zielen der deutsch-amerikanischen Beziehungen, die zusammengenommen auf eine neue transatlantische Vereinbarung hinaus laufen. Zuerst ist die Errichtung einer deutsch-amerikanischen strategischen Partnerschaft mit Blick auf Mittel- und Osteuropa sowie die Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu nennen. Das ist notwendig, um Europas kollektive Verteidigungs- und Sicherheitsorganisationen zu erneuern, die wiederum auf dem aktiven Engagement Amerikas in Europa beruhen und der Verpflichtung Deutschlands, die politischen und operativen Voraussetzungen zu schaffen, um seinen Teil der neuen Sicherheitsvereinbarungen zu erfüllen. Deutschland muß sich von einem Importeur von Sicherheit und Stabilität zu einem Exporteur wandeln. (...)
Ein neues Szenario - Die Berliner Republik
Wieder einmal ist Deutschland der Dreh- und Angelpunkt Europas. Die Nation, die die Teilung Europas verkörpert hat, findet sich einmal mehr als das L a n d i n d e r M i t t e *) wieder sowohl geographischer Mittelpunkt als auch zentraler Katyalysator der ökonomischen und politischen Wiederbelebung des Kontinents. Die Bonner Republik wird in diesem Jahrzehnt in die Berliner Republik verwandelt, Europas wichtigste Macht. In diesem Jahrhundert gibt es keinen Präzedenzfall für ein friedliches vereinigtes Deutschland. Die Berliner Republik ist die letzte und beste Chance, es zustande zu bringen. Europas Zukunft hängt davon ab, ob dies gelingt.
Während des gesamten Vereinigungsprozesses war der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher bemüht, die Besorgnis um ein dominantes D e u t s c h l a n d zu zerstreuen. "Unser Ziel", sagte er, "ist es, wie Thomas Mann schon 1952 schrieb, nicht ein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland zu schaffen." Die Wirklichkeit wird wahrscheinlich ein wenig von beidem haben: ein europäisches Deutschland im Herzen eines deutscheren Europa. Das sich herausbildende politische Profil der Berliner Republik ist durch tiefgehende Kontinuitäten an die äußerst erfolgreichen Strukturen der Bonner Republik gebunden. Vier Jahrzehnte lang wurde Bonn von seinen Bürgern und seinen Nachbarn aufgrund seiner demokratischen Ordnung, seines Rechtssystems und seiner sozialen Marktwirtschaft Legitimität zuerkannt.
Aber vielleicht der wichtigste Einzelfaktor, der die historische Legitimität des Grundgesetzes besiegelte, war seine Bestätigung durch die ostdeutsche Bevölkerung, als sie schließlich die Chance errungen hatte, ihre Zukunft zu bestimmen. (...)
Berlin ist nicht Weimar, aber auch nicht Bonn
(...) In grundsätzlichen Dingen ist die Berliner Republik ihrer Vorgängerin ähnlich.
Aber sie findet sich in einer zutiefst veränderten Situation. Die Integration von mehr als 16 Millionen Menschen, deren materielle und mentale Erfahrungen 45 Jahre lang andere waren, auf einem freieren, aber auch stürmischeren Kontinent, verursacht ungeheure psychologische Herausforderungen und soziale Spannungen. Das heißt, Institutionen zu überprüfen, die für eine andere Zeit geschaffen waren. Es werden wieder Fragen gestellt nach dem Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte, nach dem Verhältnis zwischen Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, zwischen Staat, Bürger und den Marktkräften und Fragen über Ziele, Zweck und Verpflichtungen nationaler Macht. Grundsätze der gepriesenen Marktwirtschaft des Landes sind unter Beschuß.
Die heftige - und alles andere als entschiedene - Debatte darüber, wann - und sogar ob überhaupt - der größte Teil der Regierung von Bonn nach Berlin umziehen soll, ist ein Widerschein des unruhigen Zustandes des Landes. Deutschlands Gesellschaft, die Wirtschaft, die Innen- und Außenpolitik befinden sich in einem Prozeß der Transformation. Die Vereinigung und die tektonischen Verschiebungen, deren Teil sie war, haben den Deutschen eine historische Chance gegeben: ihre Interessen und Verpflichtungen in einer Weise zu definieren, die zeigt, daß Deutschland die Tragödien seiner Vergangenheit überwunden und die Verantwortung, die sein neues Gewicht mit sich bringt, akzeptiert hat, kurz: zu zeigen, daß die zentrale Macht Europas sich weder vor noch hinter ihrer Vergangenheit verstecken will. (...)
Die außenpolitische Orientierung der Berliner Republik
Die Bonner Republik war ein Produkt des Kalten Krieges. Halbsouverän und in bezug auf ihre Sicherheit und schließliche Wiedervereinigung von den Alliierten abhängig, pflegte sie sich selbst als internationales Leichtgewicht zu betrachten, lange nachdem sie ein Schwergewicht geworden war. Das alles bestimmende außenpolitische Prinzip: Geh' nicht als erster' raus, geh' nicht allein. Die Bonner Republik verfolgte ihre nationalen Interessen in der Sprache der Wirtschaft und des Multilateralismus und hatte eine beschränkte Auffassung von ihren Verpflichtungen in der Allianz: Die Allianz war da, um Deutschland zu schützen. Es wurde als unwahrscheinlich angesehen, daß Deutschland zum Schutz anderer gerufen würde. Außerhalb des NATO-Gebietes konnte sich Deutschland nicht beteiligen, aber zahlen. Scheckbuchdiplomatie hat die Bonner Republik aus manchem Schlamassel herausgekauft.
Damit verwandt war die Auffassung, daß militärische Macht eine Aktie von sinkendem Wert sei. Die Zukunft gehöre den "zivilen" Mächten; die meisten Krisen, so schien es, konnten durch nichtmilitärische Mittel gelöst werden. Die Berliner Republik hat nicht mehr länger die antagonistische sowjetische Supermacht oder die Blutsfehde über die Mauer hinweg, die die Außenpolitik der Bonner Republik ebenso wie weite Teile ihrer Innenpolitik definierten. Der Berliner Republik fällt es schwerer, sich hinter der Geschichte, hinter Multilaterialismus oder hinter der Wirtschaft zu verstecken. Multilateralismus erlaubte Bonn, seine Teilsouveränität zu kompensieren. Manchmal nutzten deutsche Vertreter multilaterale Beziehungen, um ihre Interessen zu sichern, manchmal, um Entscheidungen zu vermeiden.
Jetzt bietet der Multilateralismus in einigen Bereichen keine klaren Antworten mehr, in anderen stellt er neue Anforderungen. Nach wie vor dem Multilateralismus verpflichtet, zögert die politische Klasse Deutschlands weniger, Deutschlands neue Stärke zu nutzen, um alte Institutionen umzuarbeiten, neue zu formen und Bedingungen des Engagements mit wichtigen Partnern auszuhandeln, die deutschen Interessen nützlicher erscheinen. Um Präsident Bill Clintons Kommentar über die Vereinigten Staaten anzuwenden: Deutschland wird instinktiv versuchen, gemeinsam zu handeln, wo es dies kann, aber es ist jetzt freier und unter größerem Druck, allein zu handeln, wo es meint, dies zu müssen. (...)
Ereignisse nach dem Fall der Mauer wie der Golfkrieg und die bosnische Tragödie zeigen, daß der Luxus einer "Zivilmacht" auf der dürftigen Annahme ruht, daß verbündete "Militärmächte" gemeinsame Interessen schützen. Die Option der Scheckbuchdiplomatie schwindet. Geld ist knapp. Nimmt man die enormen Kosten der Einheit, ist alles, was die Deutschen tun können, ungedeckte Schecks auszustellen. Viele Nachbarn erwarten von Deutschland als einem vorrangigen Nutznießer der Beendigung des Kalten Krieges, daß es wesentliche Aufbaulasten trägt. Die Russen erwarten, daß ihre Zustimmung zur Einheit mit größerer wirtschaftlicher Hilfe und neuen, besonderen Beziehungen vergolten wird; die osteuropäischen Reformstaaten erwarten Hilfe und Konzepte für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung; die westeuropäischen Partner erwarten, daß Deutschland die Speerspitze der Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union ist; die Amerikaner drängen die Deutschen, größere politisch-militärische Verantwortung zu übernehmen und die Erholung der Weltwirtschaft mitanzustoßen. Die historische Furcht, von den Deutschen dominiert zu werden, ist, so scheint es, von der noch größeren Furcht abgelöst worden, vom deutschen Kapital und den deutschen Eliten im Stich gelassen zu werden. In wichtigen Punkten versucht die deutsche Führung, diesen Erwartungen gerecht zu werden.
Doch die Befürchtungen am Rhein und an der Spree gelten weniger der Möglichkeit einer aggressiven Machtpolitik als einer antiimperialen Überdehnung. Das vereinigte Deutschland mag keine Feinde haben, hat aber vielleicht zu viele bedürftige Freunde, Sowohl die deutsche Öffentlichkeit als auch die politische Klasse fürchten ein Deutschland, das nicht Nein sagen kann. (...)
Amerikanische Zugänge
Wie sollten Amerikaner mit der Berliner Republik umgehen? Wo decken sich deutsche und amerikanische Interessen, so konkurrieren sie und wo gehen sie schlichtweg auseinander? Was sollten wir fördern, was hemmen und warum? (...)
Obwohl alle nach einem organisierenden Prinzip, e i n e m G e s a m t k o n z e p t rufen, das strategische Stringenz hervorbringt, wird keine einzelne Doktrin wie die des Containment als Richtschnur dienen. Darüber hinaus würde die Suche nach solch einem Slogan die Energie von dem schwierigen Nachdenken über nationale Interessen, das wirklich gebraucht wird, abziehen. (...)
Die beiden Nationen bilden den Kern der NATO. Sie sind das Herzstück der westlichen Versuche, Demokratie, Abrüstung und Marktreformen in Osteuropa und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu konsolidieren. Es sind zwei der drei wichtigsten Staaten des Weltwirtschaftssystems und seines hauptsächlichen Koordinationsorgans, der G-7. Sie sind die beiden Hauptexportnationen in der Welt. Der Dollar und die Deutsche Mark sind die beiden Reservewährungen und die wichtigsten Währungen für den privaten Außenhandel. (...)
Die bilateralen Beziehungen: Motor des Multilateralismus
Ein fundamentaler Aspekt der US-Politik gegenüber Deutschland ist das richtige Verhältnis zwischen bilateralen Bindungen und multilateralen Anstrengungen. Deutschland ist in ein dichtes Netz überlappender Strukturen eingewoben und mit führend in den Bemühungen, dieses Netzwerk zu vertiefen und über Europa auszubreiten. Eine starke deutsch-amerikanische Partnerschaft muß in einen multilateralen Ansatz von Bonn und Washington gegenüber Europa als einem Ganzen eingebettet sein. Zugleich wird Deutschland der wichtigste Akteur sein, der das Funktionieren der multilateralen Beziehungen in Europa sichert. So können die bilateralen Beziehungen der Motor für multilaterale Ziele sein. (...)
Die Europäische Union wird auch weiterhin eine wichtige Rolle als wohlhabende und demokratische Heimat für Deutschland und Stabilitätsanker für Osteuropa spielen. Ein in eine starke Europäische Union innerhalb einer starken Atlantischen Gemeinschaft eingebettetes Deutschland kann ökonomisches Wachstum und politische Stabilität hervorbringen. Ein Versagen der Union würde die nordamerikanische Bindung zu Europa schwächen. Ein dominantes und möglicherweise unsicheres Deutschland in einem zersplitterten Europa, losgelöst von Amerika, könnte eine Quelle des Konflikts sein. Ein solches Europa, geplagt von Fremdenhaß und Abschottung, würde eher Erinnerungen an seine gewalttätige Vergangenheit heraufbeschwören als Möglichkeiten für eine vielversprechende postsowjetische Zukunft.
Auf der anderen Seite ist die Bedeutung der EU für Deutschland in einem viel höheren Maße, als dies gemeinhin angenommen wird, von der weiteren Lebendigkeit der NATO und der Beziehung Deutschlands zu den Vereinigten Staaten abhängig. Die amerikanische Verbindung sichert Deutschland gegen außer Kontrolle geratende Ereignisse in Osteuropa. Die EU ist nicht darauf eingerichtet, auf sich gestellt solchen Herausforderungen zu begegnen. Die amerikanische Präsenz beruhigt zudem die Nachbarn Deutschlands, die dessen Versuche, die eigene Rolle neu zu definieren, genau beobachten. Wenn Deutschland gemeinsam mit den Vereinigten Staaten handelt, kann es viel tun, was es allein nicht kann. (...)
Hier noch einmal ein Hinweis zur Vorsicht: Bemühungen, Deutschland für die Stärkung der Rolle der Vereinigten Staaten in Europa zu benutzen, können zu Anschuldigungen führen, Deutschland handele als Strohmann amerikanischer Interessen, ähnlich den Vorwürfen gegenüber Großbritannien Anfang der 60er Jahre im Verlauf der Bemühungen des Landes, der Europäischen Gemeinschaft beizutreten. Eine Möglichkeit, solche Befürchtungen zu dämpfen, ist, eine produktivere Beziehung zu Frankreich zu entwickeln. Berücksichtigt man die engen Bindungen Deutschlands sowohl zu Paris als auch zu Washington und die in Frankreich und Amerika weiterbestehenden Neigungen, Sicherheit und Wirtschaftsbeziehungen als Nullsummen zu kalkulieren, so zwingt dies die Deutschen, eine unmögliche Mittlerrolle zu spielen, die bei ihren beiden Partnern Ressentiments und in Bonn mehrdeutige Signale hervorruft. Die Verbesserung der französisch-amerikanischen Beziehungen ist vielleicht der wichtigste Beitrag, den Washington zu den deutsch-amerikanischen Beziehungen leisten kann. (...)
Deutsche Befürchtungen
Die Mauer mag gefallen sein, aber Deutschland sieht sich selbst immer noch als einen Frontstaat weniger vom Osten bedroht als von ihm erschreckt. (...) Für das nächste halbe Jahrhundert hat sich der strategische Imperativ Deutschlands nach Osten verschoben. Die Beziehungen mit dem Westen bleiben weiterhin grundlegend, aber in Verbindung mit einer veränderten strategischen Priorität: Demokratie, Abrüstung und Marktwirtschaft so weit wie möglich in den Osten hinein zu verankern.
Von freundlich gesonnenen, wohlhabenden und vor allem stabilen Demokratien umgeben, wird die Berliner Republik vielleicht endlich dem historisch tragischen Dilemma der M i t t e l l a g e Deutschlands, das zwischen Ost und West schwankt, entkommen. In der Welt nach dem Fall der Mauer ist das Bedrohungsszenario Nr. 1 nicht mehr eine massive Invasion Zentraleuropas, sondern es sind die Nachbeben der politischen und wirtschaftlichen Erdbeben, die den Osten erschüttert haben und die in Form von Migrationsströmen, Fremdenhaß, wirtschaftlicher Unordnung, sezessionistischen Bewegungen und regionaler Instabilität drohen, auf den Westen auszugreifen. Vielleicht ziehen sie die Deutschen als Anwälte gefährdeter deutscher Minderheiten oder als Basis, von der aus extremistische Gruppen bittere ethnische Konflikte, Terrorakte und die Verbreitung von Atomwaffen schüren könnten, in ethnische oder nabonale Konflikte hinein.
Diese Gefahren könnten die historische Chance zunichte machen, Demokratie und marktwirtschaftliche Reformen in ganz Europa zu konsolidieren, und die Kooperabonsmechanismen zerstören, die die westeuropäischen Nationen seit mehr als vier Jahrzehnten aufgebaut haben. Vertreter Deutschlands sind besorgt, daß ihre westlichen Partner ihr Gefühl der Dringlichkeit nur unzureichend anerkennen. Wenn der Westen als Reaktion auf die Unruhen im Osten schwankt, wird dies einen enormen Druck auf Deutschland zur Folge haben, seine multilateralen Instinkte mit einer Zahl von bilateralen und unilateralen Anstrengungen zu verwässern, um den Prozeß chaotischen Wandels zu kanalisieren. Wenn die gemeinsamen Bemühungen nicht mit der deutschen Einschätzung der Dringlichkeit Schritt halten können, wird sich Deutschland dazu verurteilt fühlen, allein zu handeln - im Gegensatz zu seinen klaren Präferenzen und seinen eigenen Interessen. Deutschlands Entscheidung, Kroatien und Slowenien anzuerkennen, und seine bilateralen Einwanderungsabkommen mit osteuropäischen Staaten sind nur der sichtbarste Ausdruck dieser Bedrängnis, die das Verlangen nach Stabilität ebenso hervorbringt wie Deutschlands neuen Willen, seine Stärke wenn nötig auch zu gebrauchen, und nicht immer mit positivem Ergebnis. Deutschland wird mit dem Osten beschäftigt sein.
Aber der kollektive osteuropäische, baltische, russische, ukrainische D r a n g n a c h W e s t e n ist viel entscheidender für das heutige Europa als die älteren Gespenster eines deutschen D r a n g n a c h O s t e n.
Eine neue strategische Partnerschaft gen Osten
(...) Eine Verpflichtung der Vereinigten Staaten zu einer solchen Partnerschaft könnte zudem potentielle deutsch-amerikanische Differenzen bezüglich Zentral- und Osteuropas auf der einen, Rußlands und der Ukraine auf der anderen Seite abwehren.
Während der Westen überlegt, wie er wen in seine Strukturen integriert, würden die meisten in Westeuropa und viele in Deutschland bevorzugen, einige Linien zu ziehen, die die "drinnen" von denen "draußen" trennen. Europa, so sagen sie, sollte dort enden, wo der eigentliche Ärger beginnt: in Rußland und der Ukraine. Die Probleme des Ostens, besonders die Rußlands und der Ukraine, sind überbordend. Sie sind sicherlich zu weitreichend, um in entscheidender Weise von irgendeiner einzelnen Nation im Alleingang angegangen zu werden.
Aber es wäre verrückt, ein paar hundert Kilometer östlich des alten einen neuen Vorhang hochzuziehen. Wenn Rußland sich krampfhaft in Richtungen bewegt, die mit westlichen Interessen übereinstimmen, sollten wir es nicht aus westlichen Strukturen ausschließen. Die Vereinigten Staaten sollten deutlich machen, daß die westliche Unterstützung für die Reformen im Osten nicht an der Ostgrenze Polens haltmachen kann.
Darüber hinaus erleichtert eine amerikanische Beteiligung deutsches Handeln mit Osteuropäern und Russen, die an die Vergangenheit denken. Die Osteuropäer sind begierig, nach Europa zurückzukehren, aber sie haben sich auch als enthusiastische Unterstützer der transatlantischen Bindung gezeigt. Die Vereinigten Staaten können als geopolitische Ausgleichsmacht und als guter Makler derjenigen Staaten, die eine tiefe Furcht vor ihren Nachbarn hegen, eine entscheidende Rolle spielen. Sie können Deutschland in einer Weise helfen, Katalysator der Reformen zu sein, wie es andere Nationen nicht können. (...)
Die Herausforderung Ukraine
Die Ukraine ist ein früher Testfall für eine solche Partnerschaft. Eine demokratische, wohlhabende und sichere Ukraine ist entscheidend für Stabilität, Demokratisierung, wirtschaftlichen Fortschritt und Rüstungskontrollbemühungen im ganzen Gebiet der früheren Sowjetunion. Sie ist ein geostrategischer Puffer zwischen Rußland und Zentraleuropa. Falls die Ukraine unabhängig bleibt, ist es unwahrscheinlich, daß Rußland wieder imperial wird.
Aber das wirtschaftliche Desaster droht. Die Inflation galoppiert, die Währung ist zusammengebrochen und das Haushaltsdefizit außer Kontrolle. Das Chaos im Innern wird wahrscheinlich von außen genutzt, (...) Deutschland, das eine Flut von zwei Millionen deutschstämmigen Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion fürchtet, bemüht sich, ein lebensfähiges Siedlungsgebiet in einer fruchtbaren Region der südlichen Ukraine zu schaffen. Mit amerikanischer und breiter westlicher Unterstützung könnten diese Hilfsmaßnahmen dahingehend ausgeweitet werden, daß auch Nicht-Deutschstämmige einbezogen würden, um Beschuldigungen, der Westen favorisiere bestimmte Gruppen in der Ukraine, die Grundlage zu entziehen. (...)
Die Förderung von Deutschlands strategischer Reife
(...) Die deutsche Weigerung, überhaupt darüber zu diskutieren, daß Deutschland gezwungen sein könnte, seine Macht - einschließlich militärischer Stärke - einzusetzen, um andere, weit weg von deutschem Boden, zu beschützen, ist angesichts der deutschen Vergangenheit verständlich, Es ist dies eine Vorstellung, die die Verbündeten der Bonner Republik ermutigt und verstärkt haben. Die deutschen politischen Stiftungen haben bei den Bemühungen um Demokratisierungsprozesse im Ausland eine wichtige Rolle gespielt, aber im großen und ganzen gibt es nur eine schwach entwickelte Tradition deutschen Exports von Sicherheit zugunsten seiner Verbündeten oder des Schutzes schwächerer Nationen vor fremden Aggressoren.
Diese Denkweise erweist sich angesichts der Realitäten eines postsowjetischen Europas als unzureichend. Sie erlaubt den Deutschen nicht, natürlich über die Verpflichtungen nachzudenken, die das größere Gewicht der Berliner Republik mit sich bringt. Sie hindert die Deutschen daran, ihren Verpflichtungen innerhalb kollektiver Sicherheitsorganisationen nachzukommen. Sie hindert die Deutschen daran, effektiv mit den Krisen in dem Spannungsdreieck vor ihrer Haustür umzugehen. Sie fördert die Tendenz, von einer engen Arbeitsteilung aus zu argumentieren, bei der Deutschland sich auf nichtmilitärische Missionen beschränkt und einen kurzsichtigen Moralismus pflegt, der die Verbündeten immer dann scharf kritisiert, wenn sie den grauen Herausforderungen der wirklichen Welt entgegentreten müssen. Darüber hinaus schafft dieses Denkmuster keine nachhaltige Grundlage für die Unterstützung amerikanischer Truppenpräsenz in der Bevölkerung. (...)
Dieser besondere Weg enthebt die Deutschen des genaueren Nachdenkens über ihre nationalen Interessen und Werte und darüber, was sie tun müssen, um diese gegebenenfalls zu verteidigen. Er bedeutet, daß Verbündete nicht wissen, ob sie sich in einer Krisensituation auf Deutschland verlassen können.
Die Bundeswehr: Ein voreingenommener Partner?
(...) Multinationale Einheiten können eine deutsche Teilnahme an humanitären oder friedenserhaltenden Operationen der UN erleichtern und eine zusätzliche Quelle der Legitimation für eine deutsche Teilnahme an Out-of-area-Einsätzen sein. Aber sie können nicht jenen Legitimationsprozeß ersetzen, der in Deutschland selbst wurzelt und in dessen Verlauf derartige Einsätze in Betracht gezogen werden und entschieden wird, daß sie wichtig für deutsche nationale Interessen sind, damit dann ein nationaler Konsens zu ihrer Unterstützung geschaffen werden kann. Ein solcher Prozeß hat auch Konsequenzen für Amerika. Wenn wir dieses neue Deutschland ermutigen, müssen wir bereit sein, ihm eine größere Rolle in politischen und strategischen Entscheidungsprozessen einzuräumen. Das heißt, die Tatsache akzeptieren, daß Deutschland häufig mit eigenen strategischen Interessen und Sichtweisen an den Tisch treten würde. Dies wird einen Wandel in der Art, wie wir unsere Angelegenheiten regeln, erfordern. Es heißt auch, die Tatsache zu akzeptieren, daß die Berliner Republik eine bescheidene nationale Kommandostruktur, um für solche Eventualitäten zu planen, einrichten muß, wenn von ihr erwartet wird, daß sie an zukünftigen Out-of-area-Einsätzen teilnimmt. (...)
Einige Kritiker fordern, daß die Vereinigten Staaten genau das Gegenteil von dem verfolgen sollten, was hier vorgeschlagen wird. Statt Deutschland zu ermutigen, so argumentieren sie, sollten wir es eindämmen. Sie argumentieren, es sei eine gute Sache, daß die Bundeswehr mit einem Fuß angekettet ist. Dem ist nicht so. Eine Politik der Eindämmung (Containment) würde in Deutschland Widerstand hervorrufen und die Allianz erodieren lassen. Sie würde andere Kernstücke amerikanischer politischer und wirtschaftlicher Ziele beschädigen, die auf einer engen Beziehung zu Deutschland beruhen. Washington bliebe schlecht ausgestattet, um mit Unruhen in Rußland und anderswo in Eurasien umzugehen. Eine größere deutsche Handlungskapazität erhöht sowohl Amerikas eigene Handlungsfähigkeit, wenn es den amerikanischen Interessen entspricht, wie auch seine Flexibilität, die Europäer allein mit Kontingenzen fertig zu werden, die ein amerikanisches Engagement nicht rechtfertigen. Sie bietet auch eine grundsätzliche Rechtfertigung für eine andauernde amerikanische Truppenpräsenz in Deutschland. (...)
Die USA, Deutschland und die Vereinten Nationen
Eine solche Verpflichtung (zur Erfüllung des deutschen Teils der neuen sicherheitspolitischen Partnerschaft, d. Übers.) ist das sine qua non einer deutschen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die internationale Gemeinschaft kann nicht auf die glaubhafte Drohung verzichten, militärische Gewalt anzuwenden, um Völkerrecht zu bewahren und die Menschenrechte vor Verletzungen zu schützen. Wenn Deutschland ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates sein will, kann es sich diesen Bemühungen nicht entziehen. Eine deutsche Teilnahme an Aktionen des Sicherheitsrates und die Fähigkeit der NATO, Sicherheitsratsentscheidungen in Europa durchzusetzen, erfordern ein von seiner verfassungsrechtlichen Zwangsjacke befreites Deutschland, das aber integriert ist in effektive multilaterale Einheiten, die für Krisenmanagement und friedenserhaltende Maßnahmen ausgebildet und ausgerüstet sind. (...)